T 0608/96 (Butylenoxid-Addukte/BASF) 11-07-2000
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Verfahren zur Herstellung von Addukten von 1,2-Butylenoxid an Alkohole
Disclaimer unzulässig (Art. 123 (2) EPÜ) - Entgegenhaltung nicht 'zufällig neuheitsschädlich'
Unterschiedliche Entscheidungsformeln
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die am 17. Juni 1996 zur Post gegebene Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung mit - lt. Deckblatt - folgendem Wortlaut:
"Es wird festgestellt, daß unter Berücksichtigung der vom Patentinhaber im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen das Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des Übereinkommens genügen."
II. Das Streitpatent beruht auf der europäischen Teilanmeldung mit der Anmeldenummer 91 110 522.9; frühere Anmeldung im Sinne von Artikel 76 EPÜ ist die europäische Anmeldung mit der Veröffentlichungsnummer 0. 376 236.
III. Der angefochtenen Entscheidung lag ein gegenüber der erteilten Fassung geänderter Satz von drei Ansprüchen zugrunde, dessen einziger unabhängiger Anspruch lautet:
"1. Verfahren zur Herstellung von Addukten des 1,2-Butylenoxids an Alkohole, dadurch gekennzeichnet, daß man als Alkohole primäre Alkohole der allgemeine Formel R1-OH, in der R1 einen Alkylrest mit 4 bis 36 Kohlenstoffatomen bedeutet, einsetzt und daß der Alkohol als Starter in Gegenwart von Alkali mit 1,2-Butylenoxid in einem Molverhältnis 1,2-Butylenoxid zu Alkohol von über 20:1 umgesetzt wird."
IV. Die Einspruchsabteilung war u. a. der Auffassung, daß der Gegenstand der geänderten Ansprüche nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (Punkt 12 und 13 der Entscheidungsgründe).
V. Außerdem hat sie unter Pkt. 10 der Entscheidungsgründe als "II. ENTSCHEIDUNG" angegeben:
"Das europäische Patent EP-B-452988 wird gemäß Artikel 102 (3) EPÜ in verändertem Umfang aufrechterhalten vorausgesetzt, daß die Erfordernisse hinsichtlich Artikel 102 (3b), (4), (5) EPÜ erfüllt worden sind.";
demgegenüber wurde lt. Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 17. Juni 1996 in dieser die Entscheidung verkündet,
"das Patent im geänderten Umfang vom 30.6.95 aufrechtzuerhalten".
VI. Am 11. Juli 2000 fand vor der Beschwerdekammer eine mündliche Verhandlung statt. In dieser stellte die Kammer in Übereinstimmung mit den Beteiligten fest, daß als maßgebliche Fassung des Tenors der angefochtenen Entscheidung die auf dem Deckblatt der schriftlichen Entscheidung wiedergegebene (s. Pkt. I oben) zu gelten habe.
VII. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) machte insbesondere geltend, das in den Anspruch 1 aufgenommene Merkmal: Molverhältnis 1,2-Butylenoxid zum Alkohol von über 20:1 finde keine Stütze in den ursprünglich eingereichten Unterlagen der früheren Anmeldung. Die Aufnahme dieses Merkmals stelle daher eine nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässige Erweiterung dar. Daran ändere sich auch nichts, wenn man, wie die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin), dieses einschränkende Merkmal als einen Disclaimer ansehe, der zur Herstellung der Neuheit gegenüber dem Dokument (2), GB-1 049 207, eingefügt worden sei. Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines solchen Disclaimers seien nicht gegeben; insbesondere handle es sich bei Dokument (2) nicht um eine zufällig neuheitsschädliche Offenbarung.
Ferner berief sie sich auf mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit.
VIII. Die Beschwerdegegnerin brachte dagegen vor, die Änderung der Untergrenze des Molverhältnisses von 1,2-Butylenoxid zum Starter-Alkohol auf "über 20:1" diene dazu, den Einwand mangelnder Neuheit gegenüber dem Inhalt des Dokumentes (2) auszuräumen. Da ein solcher positiv formulierter Disclaimer durch die Offenbarung des Dokumentes (2) hinreichend gestützt sei und überdies in diesem Dokument ein anderes technisches Problem behandelt werde, verstoße diese Änderung nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ.
IX. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 452 988.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Gemäß Artikel 76 (1) EPÜ kann eine Teilanmeldung nur für einen Gegenstand eingereicht werden, der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Das gleiche Erfordernis, bezogen auf die ursprünglich eingereichte Fassung der Anmeldung selbst, besteht gemäß Artikel 123 (2) EPÜ für Änderungen einer Anmeldung oder eines Patents. Für die Prüfung beider Erfordernisse gelten daher die gleichen Kriterien und Grundsätze und beide sind Einspruchsgrund (Art. 100 c) EPÜ); jedoch handelt es sich um zwei rechtlich selbständige, im Falle einer Teilanmeldung kumulativ zu erfüllende Erfordernisse (siehe Entscheidung T 1221/97, insbesondere Pkt. 3.1 der Entscheidungsgründe). Dieser Unterschied wurde in der angefochtenen Entscheidung zwar nicht deutlich gemacht, indem dort allein Artikel 123 (2) EPÜ als Rechtsgrundlage erwähnt wird; sachlich ist jedoch aus der Bezugnahme auf Dokument "D1", d. i. die Stammanmeldung/frühere Anmeldung, und dessen Wortlaut hinreichend klar, daß die Nichterfüllung der Voraussetzung nach Artikel 76 (1) EPÜ als Einspruchsgrund geltend gemacht und in der angefochtenen Entscheidung (als tatsächlich erfüllt) beurteilt wurde.
3. Laut der hier maßgeblichen früheren Anmeldung, Seite 2, Zeilen 33 bis 35 der Beschreibung wie veröffentlicht, soll das Molverhältnis von 1,2-Butylenoxid zum Starter-Alkohol "im allgemeinen 500:1 bis 1:1, vorzugsweise 400:1 bis 5:1, insbesondere 300:1 bis 10:1" betragen. Damit sei, so die angefochtene Entscheidung, eine Untergrenze des molaren Verhältnisses von 1,2-Butylenoxid zum Starter-Alkohol von "über 20:1", in diesem Dokument nicht offenbart. Die Beschwerdegegnerin ist dieser Feststellung nicht entgegengetreten; auch die Kammer sieht keinen Grund, diese Auffassung in Zweifel zu ziehen.
4. Die angefochtene Entscheidung ging davon aus, daß diese Untergrenze eingeführt worden sei, um die Neuheit durch "Disclaimen" des in Dokument (2) offenbarten Bereiches herzustellen. Nach Auffassung der Einspruchsabteilung verstoße dies nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ, weil ein bestimmter Stand der Technik auch dann durch einen Disclaimer ausgenommen werden könne, wenn sich in den ursprünglichen Unterlagen keine Stütze für den ausgeschlossenen Gegenstand findet. Für diese Auffassung berief sie sich auf die Richtlinien für die Prüfung im EPA, C-III, 4.12 und dort die zitierte Entscheidung T 433/86.
5. Geht man davon aus, daß die Einführung dieser Untergrenze, obwohl der Anspruch weiterhin nur positive Merkmale enthält, tatsächlich als Disclaimer zu betrachten ist, so ist es doch nicht so, daß alleinige Voraussetzung für dessen Zulässigkeit die Herstellung der Neuheit im Hinblick auf einen spezifischen Stand der Technik wäre. Das wird auch in den Richtlinien nicht anders gesehen, in denen sich an der von der Einspruchabteilung zitierten Stelle anschließend der Satz findet: "Es ist allerdings darauf zu achten, daß der Wortlaut des Disclaimers nicht gegen Artikel 123 (2) verstößt".
6. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist der Ausschluß eines bestimmten entgegenstehendem Standes der Technik durch einen Disclaimer, ohne entsprechende Offenbarung in den ursprünglichen Unterlagen, mit Artikel 123 (2) EPÜ nur vereinbar, wenn der Disclaimer genau definiert und auf die entgegenstehende Offenbarung im Stand der Technik beschränkt ist, sofern diese Offenbarung zufällig neuheitsschädlich ist (Entscheidungen T 917/94, T 863/96, T 13/97 u. a.). In diesem Sinn zufällig neuheitsschädlich ist eine Offenbarung, die der Fachmann, konfrontiert mit der der zu prüfenden Anmeldung oder dem zu beurteilenden Patent zugrundeliegenden Aufgabe, nicht in Betracht ziehen würde, etwa weil diese Entgegenhaltung einem weitab liegenden Fachgebiet zuzuordnen ist oder ihrem Gegenstand nach nichts zur Lösung der Aufgabe beiträgt. Das bedeutet auch, daß die Voraussetzung "zufällige Neuheitsschädlichkeit" nur erfüllt sein kann, wenn die betreffende Offenbarung für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit der beanspruchten Erfindung ohne jede Bedeutung ist (vergl. insbesondere Entscheidung T 13/97).
7. Die Aufgabe des Streitpatents besteht in der Bereitstellung eines Verfahrens zur Herstellung hochmolekularer, in Schmiermitteln einsetzbarer Addukte von 1,2-Butylenoxid an Alkoholen (Seite 2, Zeilen 21 und 22). Auch Dokument (2) befaßt sich mit der Herstellung solcher Addukte (Seite 1, Zeilen 10 und 11, 20 bis 22 und 48 bis 58), weshalb es der Fachmann in Betracht ziehen würde, wenn er sich mit der oben angeführten Aufgabe des Streitpatents auseinandersetzt.
8. In diesem Zusammenhang verwies die Beschwerdegegnerin auf Dokument (2), Seite 2, Zeilen 55 to 65, wo ausgeführt wird, daß die Schmiermittel mit den dort beschriebenen Addukten den Vorteil hätten, in jedem Verhältnis mit Mineralölschmiermitteln mischbar zu sein, ohne dabei eine große Neigung zu haben Wasser aufzunehmen, mit Korrosionsschutzmitteln verträglich zu sein und auf Lackanstriche oder Dichtungsmaterialien nicht quellend oder lösend zu wirken. Da solche Vorteile im Streitpatent nicht erwähnt sind, war sie der Meinung, daß ein Fachmann bei der Suche nach einer Lösung für das dem Streitpatent zugrundeliegende Problem Dokument (2) nicht berücksichtigen würde.
9. Dem kann sich die Kammer jedoch nicht anschließen. Maßgebend dafür, ob ein mit einer technischen Aufgabe konfrontierter Fachmann die Lehre eines bestimmten Dokuments berücksichtigt, sind nicht die einzelnen in dem Dokument beschriebenen Vorteile eines Produktes oder Herstellungsverfahrens, sondern die gesamte von ihm vermittelte Lehre - hier nicht nur die Bereitstellung der die Addukte enthaltenden Schmiermittel, sondern auch die Herstellung der Addukte selbst.
10. Die Kammer kommt folglich zum Schluß, daß die Untergrenze des Molverhältnisses von 1,2-Butylenoxid zum Starter-Alkohol "über 20:1" nicht als Disclaimer zulässig ist. Das bedeutet, daß der Gegenstand (der Ansprüche) des angegriffenen Patents über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (Art. 100 c) EPÜ).
11. Darüber hinaus sieht sich die Kammer veranlaßt, auf eine auffallende, die angefochtene Entscheidung betreffende Unstimmigkeit zurückzukommen, nämlich der unterschiedliche Wortlaut des Entscheidungstenors wie er einerseits auf dem Deckblatt der schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung (oben Pkt. I), andererseits unter Pkt. 10 der Entscheidungsgründe angegeben ist (oben, Pkt. V). Überdies findet sich keine der beiden Fassungen in der Verhandlungsniederschrift, wobei diese in sich selbst insofern widersprüchlich ist, als nach den Angaben auf Formblatt 2009.2 (Deckblatt der Niederschrift) in der mündlichen Verhandlung vom 30. Mai 1996 eine Entscheidung überhaupt nicht verkündet worden ist, laut Pkt. 6 der Niederschrift jedoch die Entscheidung, das Patent in geändertem Umfang (und ohne irgendwelche Bedingungen) aufrechtzuerhalten (s. oben, Pkt. V). Mit letzterem ist wiederum nicht vereinbar, daß laut Niederschrift die Beschreibung erst danach (unklar ist, ob während oder außerhalb der mündlichen Verhandlung) angepaßt wurde.
Im vorliegenden Fall konnte zwar der von der Einspruchsabteilung tatsächlich beabsichtigte und verbindliche Inhalt der Entscheidung zweifelsfrei erschlossen werden, womit den Verfahrensbeteiligten kein wirklicher Nachteil aus diesem Fehler erwachsen und deshalb dem nicht nach Regel 67 EPÜ nachzugehen ist. Grundsätzlich muß jedoch von einer Einspruchsabteilung, wie von allen anderen im Sinne von Artikel 106 EPÜ entscheidungsbefugten Organen auch, erwartet werden, daß sie den Tenor ihrer Entscheidungen, unbeschadet ob mündlich verkündet oder schriftlich erlassen, ihrem wahren Willen entsprechend und korrekt formuliert; sie ist auch dafür verantwortlich, daß der wesentliche Gang des Verfahrens korrekt und eindeutig festgehalten wird, insbesondere aus der Akte klar und ohne Widersprüche ersichtlich ist, wann und mit welchem Wortlaut eine beschwerdefähige Entscheidung getroffen wurde. Dem ist die Einspruchsabteilung hier nicht nachgekommen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das europäische Patent Nr. 0 452 988 wird widerrufen.