T 0321/97 20-06-2000
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Abblendbarer Innenspiegel für ein Fahrzeug
Erfinderische Tätigkeit (ja)
Offenbarung eines Merkmals in einer Zeichnung ohne Hinweis auf seine technische wirkung (nein)
I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat gegen die am 20. Januar 1997 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Widerruf des Patents Nr. EP-B-0 499 948 Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das gesamte Patent im Hinblick auf Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 52 (1), 54 (1), (2) und 56. EPÜ angegriffen worden. Der Einspruch stützte sich auf folgende Entgegenhaltungen:
D1: DE-A-2 165 226 D2: DE-A-2 406 381 D3: DE-U-8 319 673.
Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung im Hinblick auf den Stand der Technik nach D3 und das allgemeine Fachwissen nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
III. Gegen diese Entscheidung wurde am 20. März 1997 Beschwerde eingelegt und die Beschwerdegebühr am 21. März 1997 entrichtet. Die Beschwerdebegründung ist am 15. Mai 1997 eingegangen.
IV. Die Beschwerdeführerin beantragte in der mündlichen Verhandlung vom 20. Juni 2000, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geändertem Umfang mit in der Verhandlung vorgelegten Ansprüchen 1 bis 6, einer ebenfalls vorgelegten Beschreibung und den Zeichnungen gemäß Patentschrift aufrechtzuerhalten. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
V. Die geltende Fassung des Anspruchs 1 lautet wie folgt, wobei gegenüber dem erteilten Anspruch 1 gestrichener Wortlaut in [-] und zusätzlich hineingekommener Wortlaut fettgedruckt ist:
"Innenspiegel für ein Fahrzeug mit einem Tragarm (1), auf welchen ein mit einem Spiegelglas (23) versehenes Spiegelgehäuse (17) verstellbar aufgeklemmt ist, wobei das Spiegelgehäuse (17) auf einem auf den Tragarm (1) aufgeklemmten Klemmstück (5) um eine parallel zum Spiegelglas (23) sich erstreckende Achse (15) zwischen einer Normalstellung (Fig. 2) und einer Abblendstellung verschwenkbar befestigt ist und ein Verschwenkmechanismus vorgesehen ist, welcher ein neben dem Klemmstück (5) im Spiegelgehäuse (17) drehbar gelagertes und [mit einem] aus einer Öffnung (27) in einer Seitenfläche des Spiegelgehäuses (17) vorstehendes Betätigungsorgan (33) sowie ein mit einem Führungsschlitz (31) versehenes Führungsteil (35) aufweist, wobei ferner in den Führungsschlitz (31) ein am Klemmstück (5) befestigter Finger (21) eintaucht und das Führungsteil in die beiden Enden des Führungsschlitzes elastisch beaufschlagt ist, dadurch gekennzeichnet, daß das Führungsteil (35) im Spiegelgehäuse (17) um eine Achse (65) drehbar gelagert ist, welche sich parallel zur Mittellinie (69) des Spiegelglases (23) und senkrecht zur Schwenkachse (15) erstreckt, und daß zwischen Führungsteil (35) und einer Stelle (63) im Spiegelgehäuse (17) eine Feder (59) derart eingespannt ist, daß die Wirkrichtung (68) der von der Feder (59) entwickelten Kraft in Normalstellung des Spiegelgehäuses und die Wirkrichtung (73) der Feder (59) bei Abblendstellung relativ zu einer gedachten Verbindungslinie (71) zwischen der Stelle (63) und der Drehachse (65) des Führungsteils (35) einander gegenüberliegen, wobei die Verbindungslinie zwischen der Mittelinie (67) des Fingers (21) und der Drehachse (65) des Führungsteils (35) im wesentlichen senkrecht auf einer Fläche des Spiegelglases (23) steht."
VI. Die Beschwerdeführerin hat im wesentlichen folgendes vorgetragen:
Das dem Anspruch 1 hinzugefügte Merkmal sei weder in D1 noch in D3 offenbart, wobei hinsichtlich D3 das Hineinlesen des Merkmals nur durch eine rückschauende Betrachtung möglich sei.
Es sei Aufgabe des Streitpatents, eine versehentliche Kippverstellung des Spiegelglases durch Veränderung der Grundstellung auszuschließen.
Bei dem Innenspiegel gemäß Anspruch 1 würden die bei Veränderung der Grundstellung auftretenden Kräfte kein die Kippverstellung des Spiegelglases beeinflussendes Drehmoment ausüben, was dagegen bei den Innenspiegeln gemäß sowohl D1 als auch D3 nicht der Fall sei.
VII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin läßt sich wie folgt zusammenfassen:
D3 offenbare sämtliche Merkmale des Oberbegriffs des Anspruchs 1 inklusiv eines als "Ausnehmung 18" bezeichneten Führungsschlitzes, wobei die Führungsfunktion des Schlitzes nicht unbedingt zu beiden Seiten vorhanden sein müsse.
Die von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Vorteile hinsichtlich des Vermeidens einer ungewollten Änderung der Kipplage während eines Verstellens der Grundstellung seien mit den Merkmalen des Anspruchs 1 nicht eindeutig erreichbar.
Auch das hinzugefügte Merkmal sei aus D3 schon bekannt.
Das gegenüber D3 einzige unterscheidende, die Anordnung der Feder betreffende Merkmal habe die gleiche technische Wirkung, weshalb dieser Unterschied rein konstruktiv sei.
Änderungen
1. Der geltende Anspruch 1 ist im wesentlichen eine Kombination des Anspruchs 1 in seiner erteilten Fassung mit den zusätzlichen Merkmalen des erteilten Anspruchs 7 bzw. des Anspruchs 8 in seiner ursprünglich eingereichten Fassung. Die Beschreibung wurde lediglich an die geänderten Ansprüche angepaßt. Somit werden die Erfordernisse der Artikel 123 (2) und 123 (3) EPÜ erfüllt.
Patentfähigkeit
2. Neuheit
Die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 wurde im Beschwerdeverfahren nicht mehr bestritten und die Kammer ist ebenfalls der Meinung, daß dieser Gegenstand gegenüber D1 bis D3 neu ist. Somit braucht diese Frage nicht weiter erörtert zu werden.
3. Erfinderische Tätigkeit
Nächstkommender Stand der Technik ist D3, die einen Innenspiegel für ein Fahrzeug mit einem Tragarm 8 offenbart, auf welchem ein mit einem Spiegelglas 4 versehenes Spiegelgehäuse 3 verstellbar aufgeklemmt ist, wobei das Spiegelgehäuse auf einem auf den Tragarm aufgeklemmten Klemmstück 7 um eine parallel zum Spiegelglas sich erstreckende Achse 9 zwischen einer Normalstellung und einer Abblendstellung (Seite 7, Zeilen 16 bis 19) verschwenkbar befestigt ist und ein Verschwenkmechanismus vorgesehen ist, welcher ein neben dem Klemmstück im Spiegelgehäuse drehbar gelagertes und aus einer Öffnung in einer Seitenfläche des Spiegelgehäuses vorstehendes Betätigungsorgan 17 sowie ein mit einer Ausnehmung 18 versehenes Führungsteil aufweist, wobei ferner in die Ausnehmung ein am Klemmstück befestigtes Element 16 eintaucht. Das Führungsteil ist im Spiegelgehäuse um eine Achse 21 drehbar gelagert, welche sich parallel zur Mittellinie des Spiegelglases und senkrecht zur Schwenkachse erstreckt. Ein in Lagern 13 befestigtes Federelement 11, 14 ist einer Kippbewegung über einen Totpunkt hinweg ausgesetzt, wobei die jeweiligen Wirkrichtungen der vom Federelement entwickelten Kraft in Normal- und Abblendstellung relativ zu einer gedachten Linie einander gegenüberliegen.
Die Ausnehmung weist zwei in einem Winkel zueinander, jedoch parallel zu der Achse 21 verlaufenden Seitenwände 19, 20 auf. Das in die Ausnehmung eintauchende Element 16. ist in Form einer Zunge ausgebildet, wobei die Dicke der Zunge ungefähr der Entfernung der Seitenwände zwischen deren zueinander näher liegenden Enden entspricht und in den stabilen Endlagen die breite Fläche der Zunge gegen die jeweiligen Seitenwänden unter Wirkung des Federelements gedrückt wird. Das Federelement ist in Form einer gekröpften Stange ausgebildet, deren zwei Enden 12 drehbar in zwei gehäusefesten Lagern 13 gehalten sind. Im mittleren Bereich weist die Stange eine Abkröpfung 14 auf, die in ein Langloch 15 in einer fest mit der Klemmstück verbundenen Halteplatte 5 eingreift. Durch Drehung des Führungsteils wird die Zunge bis zum Erreichen des Totpunktes entgegen der Wirkung des Federelements relativ seitlich bewegt, wonach das Federelement die Zunge weiter in die gleiche Richtung treibt, bis die Zunge flach gegen die gegenüberliegende Seitenwand liegt.
3.1. Somit unterscheidet sich der Gegenstand des geltenden Anspruchs 1 gegenüber dem der D3 dadurch, daß:
(a) - die Ausnehmung ein Führungsschlitz ist;
(b) - das in die Ausnehmung eingreifende Element als ein Finger ausgebildet ist;
(c) - das Federelement als eine zwischen dem Führungsteil und einer Stelle im Spiegelgehäuse eingespannte Feder ausgebildet ist;
(d) - wobei das Führungsteil in die beiden Enden des Führungsschlitzes elastisch beaufschlagt ist; und
(e) - wobei die Verbindungslinie zwischen der Mittelinie des Fingers und der Drehachse des Führungsteils im wesentlichen senkrecht auf einer Fläche des Spiegelglases steht.
3.2. Die Merkmale (a) bis (d) bewirken zusammen, daß das Spiegelgehäuse die gewünschte Bewegung zwischen den beiden Endpunkten ausführt, während es in den beiden Endlagen unter Spannung vibrationsfrei gehalten wird. Die Merkmale (a) und (e) bewirken zusammen, daß das Führungsteil keinem wesentlichen Drehmoment aufgrund einer Verstellung des Gehäuses ausgesetzt wird. Es ist zwar richtig, daß bedingt durch das hinzugefügte Merkmal nur dann kein Drehmoment auf das Führungsteil bei Verstellung des Gehäuses ausgeübt wird, wenn auch die zwischen dem Finger und der Drehachse 65 liegende Seitenwand des Schlitzes orthogonal zur Verbindungslinie liegt, aber die Größe des bedingt durch selbst einen spitzen Winkel zwischen der Schlitzwand und der Verbindungslinie verursachten Drehmoments ist durch dieses Merkmal stark eingeschränkt. Auch die Reibung zwischen dem Finger und der Schlitzwand wirkt der Erzeugung eines Drehmoments entgegen. Somit wird die in der Patentschrift Spalte 2, Zeilen 16 bis 22 angegebene Aufgabe durch die im Anspruch 1 enthaltenen Merkmale gelöst.
3.3. Die Merkmale (a) und (b) sind aus D1 bekannt, jedoch nicht in Kombination mit den Merkmalen (c) und (d). Gemäß D1 ist ein Finger 25 unter Wirkung einer am Klemmstück 13 ausgebildeten Blattfeder 26 axial auf den Boden eines Führungsschlitzes 23 gedrückt und der Finger kommt nicht zum Anschlag gegen das Ende des Schlitzes. Auch aus D2 ist die Kombination eines Schlitzes und eines Fingers bekannt, aber weil der Schlitz 54 und der Finger 52 (dort "Ansatz" genannt) nicht im Führungsteil bzw. am Klemmstück angeordnet sind, sondern umgekehrt, hat der Schlitz keine Führungsfunktion. Weiterhin ist in D2 keine zwischen zwei Bauteilen eingespannte separate Feder vorhanden, weil die notwendige Vorspannung des Fingers im Ende des Führungsschlitzes durch eine Verformung des Spiegelgehäuses erreicht wird (Seite 8, 1. Absatz). Somit ist die Kombination (a) bis (d) auch aus D2 nicht bekannt.
3.4. Das Merkmal (e) ist weder aus D1 noch aus D2 bekannt. In D1 steht die Drehachse des Führungsteils 22 senkrecht zur Mittellinie des Fingers 25, die die Drehachse kreuzt. Es folgt, daß keine Verbindungslinie gemäß Anspruch 1 konstruiert werden kann. In D2 überschreitet gemäß dem die Seiten 7, 8 überbrückenden Absatz die Achse des Ansatzes 52 die der im Merkmal (e) erwähnten Verbindungslinie entsprechende Linie 55.
3.5. Aus obigen Ausführungen folgt, daß der Fachmann auch bei Zusammenschau der Lehren nach D3, D1 und D2 nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen konnte, ohne erfinderisch tätig zu werden.
4. Die Beschwerdegegnerin führte aus, daß die Merkmale (a), (b) und (e) aus D3 bekannt seien und daß die Merkmale (c), (d) zwar anderer Konstruktion als in D3 seien, jedoch die gleiche Wirkung hätten. Dieser Meinung kann sich die Kammer jedoch nicht anschließen, und zwar aus folgenden Gründen:
4.1. Die normale Bedeutung des Begriffes "Schlitz" ist eine Ausnehmung, deren Breite im Vergleich zu ihrer Länge gering ist. Dieses Verhältnis ist bei der Ausnehmung der D3 nicht vorhanden. Weiterhin ist die Kammer der Auffassung, daß der Begriff "Führungsschlitz" eine gewisse Führungsfunktion auf beiden Seiten entlang des Schlitzes ausüben können muß. Bei der Ausnehmung der D3 bewegt sich das obere Ende des Querschnittes (in Figuren 3, 4 gesehen) der Zunge kaum gegenüber der Ausnehmung und das untere Ende wird nicht geführt.
4.2. Auch der Begriff "Finger" hat eine klare Bedeutung hinsichtlich der jeweiligen Dimensionen, die bei dem in D3 zutreffend als Zunge bezeichneten Element nicht vorhanden sind.
4.3. Das Merkmal (e) ist nach Auffassung der Kammer ebenfalls nicht als in D3 offenbart anzusehen. Obwohl in den Figuren 3, 4 die Zunge 16 symmetrisch mit der Achse 21 gezeichnet ist, werden die durch Drehen des Führungsteils erzeugten Kräfte allein in ein Ende des Querschnittes der Zunge (oben in den Figuren 3, 4) eingeleitet und die übrige Länge des Querschnittes dient nur dazu, die Rotation des Führungsteils durch Anliegen an die Seitenwänden 19, 20 der Ausnehmung 18 zu begrenzen. Der bei der Kippverstellung kraftleitende Teil der Zunge, der hinsichtlich dieser Funktion dem Finger des Streitanspruchs 1 entspricht, ist damit bewußt nicht gemäß Merkmal (e) angeordnet. Mangels einer Beschreibung ist eine technische Lehre hinsichtlich der jeweiligen Anordnungen der Zungenmittellinie und der Achse 21 nicht herleitbar. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA gilt ein in einer Zeichnung gezeigtes Merkmal nur dann als offenbart, wenn sowohl seine Konstruktion als auch eine technische Lehre daraus herleitbar sind (siehe T 0204/83, Punkt 4 der Entscheidungsgründe (Abl. EPA 1985, 310)).
4.4. Hinsichtlich der Merkmale (c) und (d) ist festzustellen, daß eine elastische Beaufschlagung in die beiden Endpositionen eines Schlitzes durch Federwirkung aus keiner der Entgegenhaltungen bekannt ist. Zwar ist in D3 die Zunge durch Federwirkung gegen die Seitenwände der Ausnehmung elastisch beaufschlagt, aber das obere, dem Finger beim Streitpatent entsprechende Ende des Zungenquerschnitts bewegt sich kaum gegenüber der Ausnehmung und wird nicht in "die beiden Enden" der Ausnehmung beaufschlagt. Soweit eine elastische Beaufschlagung im Verschwenkmechanismus gemäß D3 stattfindet, ist die technische Wirkung jedenfalls anders als beim Streitpatent, weil gemäß D3 die Wirkung der Federstange derart ist, daß die Feder einen unmittelbaren Einfluß auf Vibrationen hat, während gemäß Merkmalen (c) und (d) des Streitanspruchs 1 die Feder einen nur mittelbaren Einfluß hat und zwar durch Anschlag des Fingers im Ende des Führungsschlitzes.
5. Auch von D1 ausgehend sind die Merkmale (c),(d) und (e) als neu anzusehen. Da sie auch aus den anderen Entgegenhaltungen nicht bekannt sind kann die im Anspruch 1 angegebene Merkmalskombination zur Lösung der gestellten Aufgabe durch den verfügbaren Stand der Technik nicht nahegelegt werden.
6. Die Kammer kommt aus obigen Gründen zu dem Ergebnis, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Artikel 52 (1), 56 EPÜ).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
Beschreibung: Spalten 1 bis 5, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 20. Juni 2000;
Ansprüche: 1 bis 6, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 20. Juni 2000;
Zeichnungen: Seiten 1/2, 2/2 in der erteilten Fassung.