T 0663/99 06-02-2001
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Verfahren zum Verbinden dünner Platten und Vorrichtung zur Durchführung des Verfahrens
Erlaß der Widerrufsentscheidung vor Ablauf der der Patentinhaberin gewährten Frist zur Äußerung auf den Einspruch
Wesentlicher Verfahrensfehler (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr (ja)
I. Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin des europäischen Patents Nr. 0 642 853 (Anmeldenummer: 94 113 827.3).
II. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) legte gegen das erteilte Patent Einspruch ein und beantragte, das Patent mangels Patentfähigkeit zu widerrufen.
III. Mit amtlicher Mitteilung nach Regel 57 (1) EPÜ vom 20. Oktober 1998, die gemäß Regel 78 (2) EPÜ als am 30. Oktober 1998 zugestellt gilt, forderte die Einspruchsabteilung die beschwerdeführende Patentinhaberin auf, innerhalb einer Frist von 4 Monaten ihre Stellungnahme zu dem Einspruch einzureichen.
Zwei Anträgen der beschwerdeführenden Patentinhaberin auf Fristverlängerung auf insgesamt 7 Monate wurde stattgegeben. Diese verlängerte 7-Monatsfrist ist ab dem Beginn der ursprünglichen 4-Monatsfrist zu berechnen, siehe Rechtsauskunft ABl. EPA 1993, 229, Punkt III. Sie endete gemäß Regel 83 (4) EPÜ in Verbindung mit Regel 85 (1) EPÜ am 31. Mai 1999.
IV. Am 28. Mai 1999 wurde die Widerrufsentscheidung zum Zwecke der Zustellung an die interne Poststelle des EPA abgegeben. Das Verfahren für den Erlaß der Widerrufsentscheidung war somit 3 Tage vor dem Ablauf der 7-Monatsfrist abgeschlossen (siehe G 12/91, ABl. EPA 1994, 285 - Endgültige Entscheidung/NOVATOME II).
Am selben Tag (28. Mai 1999) wurde die Formalprüfungsstelle von der Patentinhaberin angerufen und ein Telefax an sie geschickt mit dem Hinweis, daß noch eine Einspruchserwiderung erfolgen soll, mit der Bitte "keine Entscheidung über den Einspruch zu treffen bis unsere Stellungnahme eingegangen ist. Wir werden Ihnen diese Anfang nächster Woche per Telefax übermitteln". Entsprechend wurde die Einspruchserwiderung 4 Tage später am 1. Juni 1999 per Fax eingereicht.
V. Gegen die an dem aufgestempelten Datum vom 2. Juni 1999 zur Post gegebene Entscheidung legte die Patentinhaberin am 10. Juni 1999 unter gleichzeitiger Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde ein. Die Beschwerdebegründung wurde am gleichen Tag eingereicht.
VI. In einem Bescheid der Beschwerdekammer vom 17. Mai 2000 wurde mitgeteilt, daß das Einspruchsverfahren insofern einen wesentlichen Verfahrensmangel aufweise, als die Widerrufsentscheidung vor Ablauf der der Patentinhaberin gewährten Frist zur Äußerung auf den Einspruch an die interne Poststelle abgegeben wurde.
VII. Die beschwerdeführende Patentinhaberin beantragt sinngemäß, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an die erste Instanz zurückzuverweisen. Ferner beantragt sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
In Erwiderung auf einen weiteren Bescheid der Beschwerdekammer vom 21. September 2000 nahm die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) im Hinblick auf die beabsichtigte Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz ihren hilfsweise gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung zurück.
Sie beantragt die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Einspruchsabteilung konnte die Patentfähigkeit nur abschließend prüfen und das Patent widerrufen, nachdem die Patentinhaberin ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu der im Einspruchsschriftsatz geltend gemachten mangelnden Patentfähigkeit zu äußern und demgemäß ihr Recht auf rechtliches Gehör wahrzunehmen. Dies setzt voraus, daß zum Zeitpunkt der Abgabe der Widerrufsentscheidung an die interne Poststelle des EPA die der Patentinhaberin gewährte Frist zur Äußerung auf den Einspruch abgelaufen war.
Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, wie sich aus vorstehenden Punkten III und IV ergibt. Die Einspruchsabteilung hat die von ihr selbst gesetzte Äußerungsfrist mißachtet und demgemäß die Patentinhaberin der bis zum letzten Tag der 7-Monatsfrist eingeräumten Gelegenheit zur Äußerung beraubt. Damit liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Artikel 113 (1) EPÜ vor.
3. Unter Hinweis auf die Entscheidung T 804/94 vom 10. Juli 1995, die von der vorliegenden Kammer 3.2.1 getroffen wurde, vertritt die Beschwerdegegnerin die Auffassung, daß, da im vorliegenden Fall anders als in dem entschiedenen Fall, innerhalb der der Patentinhaberin gewährten Frist keine Einspruchserwiderung eingereicht worden sei, das rechtliche Gehör keinesfalls verletzt worden sein konnte.
In dem Fall T 804/94 wurde die Entscheidung auf Zurückweisung des Einspruchs analog zum vorliegenden Fall vor Ablauf der von der Einspruchsabteilung gesetzten 4-Monatsfrist zur Beantwortung eines Bescheids erlassen. Ob die Einsprechende vor oder nach Ablauf der 4-Monatsfrist zum Bescheid Stellung genommen hatte, war jedoch bei dem Fall T 804/94 entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin nicht entscheidend. Ausschlaggebend war allein die Tatsache, daß die Einspruchsabteilung die von ihr gesetzte Frist mißachtet hatte. Dies wurde als "wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ" erachtet, der die Aufhebung der Entscheidung und die Zurückweisung der Sache an die erste Instanz ohne sachliche Prüfung unter Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigt (siehe Punkt 3 der Entscheidungsgründe).
4. Die Tatsache, daß die Einspruchserwiderung der beschwerdeführenden Patentinhaberin erst am 1. Juni 1999 (per Fax), also sehr kurz nach dem Ablauf der 7-Monatsfrist (31. Mai 1999), eingereicht wurde, bedeutet nicht, daß die Patentinhaberin sich ihres Rechtes auf rechtliches Gehör begeben wollte. Sie hat vielmehr im Verfahren vor der Einspruchsabteilung klar ihren Willen zum Ausdruck gebracht, sich zu dem Einspruch zu äußern, nachdem sie drei sukzessive Nachfristgesuche eingereicht und vor allem vor Ablauf der 7-Monatsfrist am 28. Mai 1999 die Formalgeschäftsstelle telefonisch davon in Kenntnis gesetzt hat, daß die ausstehende Einspruchserwiderung "Anfang nächster Woche" per Fax übermittelt werde. Dieses Telefonat wurde per Fax am gleichen Tag übermittelt und per Schreiben, eingegangen am 2. Juni 1999, bestätigt.
5. Nach gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdekammern stellt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ dar, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz ohne sachliche Prüfung und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.