Erfindung: ACE-Hemmer zur Verhinderung des Fortschreitens der chronischen Nierenerkrankung (CKD)
Dank der Erfindungen des italienischen Nephrologen Giuseppe Remuzzi und seiner Forscherkolleginnen Carlamaria Zoja und Ariela Benigni haben sich die Behandlungsergebnisse in den vergangenen Jahrzehnten ganz erheblich verbessert. In den Medikamenten dieses Teams werden Inhibitoren für Angiotensin umwandelnde Enzyme (ACE-Hemmer) dazu eingesetzt, die chronische Nierenerkrankung und bestimmte Komplikationen, die bei Organtransplantationen auftreten können, zu behandeln.
Mehr als 200 Millionen Menschen leiden an der
chronischen Nierenerkrankung (CKD). Obwohl ein einfacher Test bereits in einem
frühen Stadium auf die Krankheit hinweisen kann - ein erhöhter Proteinspiegel
im Urin deutet auf eine eingeschränkte Nierenfunktion hin - suchen viele
Patienten erst dann ärztliche Hilfe, wenn die Symptome bereits weit
fortgeschritten sind. In diesem Stadium waren Ärzte meist nicht mehr in der
Lage, das Fortschreiten der Erkrankung - oder eine Nierenentzündung nach einer
Organtransplantation - aufzuhalten und ein Organversagen, und damit die
lebenslange Angewiesenheit auf die Dialyse, zu verhindern.
Dank der von Remuzzi, Zoja und Benigni
entwickelten Medikamente ist die Dialyse inzwischen nicht mehr unabwendbar. Der
Durchbruch für das Team kam Ende der 1980er-Jahre, nachdem Remuzzi die
nierenrettenden Eigenschaften bestimmter Enzyminhibitoren entdeckt hatte. Diese
Inhibitoren, die üblicherweise zur Behandlung von Bluthochdruck eingesetzt
werden, lieferten den Schlüsselmechanismus, der den patentgeschützten
Medikamenten des Teams, die zwischenzeitlich weltweit zu den Standardtherapien
für CKD zählen, zugrunde liegt.
Gesellschaftlicher
Nutzen
Die auf ACE-Hemmern basierenden Medikamente
des Teams waren nicht nur die ersten, die das Fortschreiten der CKD
verhinderten, sondern sie erwiesen sich auch bei der Behandlung der
diabetischen Nephropathie - einer Komplikation, von der bis zu 35 Prozent
der Diabetiker betroffen sind, - als wirksam. Eines der wichtigsten Medikamente
des Teams, Losartan, kommt ganz gezielt organtransplantierten Patienten zugute,
denn 21 Prozent der Empfänger von Darm- sowie 18 Prozent der
Empfänger von Lebertransplantaten sind von CKD betroffen. Das Medikament
ermöglicht es diesen Menschen, wieder gesund zu werden und ein selbstständiges
Leben zu führen.
Auch in
Entwicklungsländern, in denen Betroffene häufig keinen Zugang zu Dialyse haben
und Prävention daher umso wichtiger ist, leisten die Medikamente sehr wertvolle
Dienste. Remuzzi hat eine internationale Wohltätigkeitsorganisation, das
"Global Advancement Nephrology Project", ins Leben gerufen, um den
Menschen in armen Gegenden Zugang zu Früherkennung und erschwinglicher
Behandlung von Nierenkomplikationen zu verschaffen.
Remuzzi ist auch ein Verfechter von
Vorsorgeuntersuchungen: "Das Herz schlägt, die Lunge atmet - die Nieren
machen keinerlei Geräusche, und daher stehen Menschen oft plötzlich vor der
Tatsache, dass sie an einer Nierenerkrankung im Endstadium leiden, obwohl sie
nie bemerkt haben, dass etwas nicht in Ordnung ist", sagt er. Dabei lässt
sich eine Störung der Nierenfunktion mit einem simplen Urintest erkennen, und
dann kann eine Behandlung beginnen, bevor die Schädigung irreversibel wird.
Wirtschaftlicher
Nutzen
In den 1990er-Jahren arbeiteten Remuzzi und
sein Team ganz gezielt an der Entwicklung von ACE-Hemmer-basierten Medikamenten
zur Behandlung der Nierenerkrankung. Losartan, das von dem Pharmaunternehmen
Merck auf den Markt gebracht wurde, erhielt 1995 sowohl in den USA als auch in
der EU die Zulassung für die Anwendung zur Behandlung von Komplikationen im
Zusammenhang mit Organtransplantationen. 2011 war der Jahresumsatz mit Losartan
auf fast 1,5 Mrd. EUR geklettert. Ein anderes Medikament des Teams,
Irbesartan, wurde 1997 zugelassen. Es wird von Sanofi vermarktet. 2015 lag der
mit diesem Medikament erzielte Umsatz bei rund 775 Mio. EUR.
Marktanalytiker von BCC Insights bezifferten den US-Markt für Arzneimittel zur
Behandlung von Nierenversagen 2016 auf 36 Mrd. EUR. Sie gehen davon
aus, dass er bis 2021 einen Wert von 41,7 Mrd. EUR überschritten haben
wird. Der globale Umsatz mit Enzyminhibitoren - darunter auch die ACE-Hemmer
des Teams - betrug 2016 nahezu 117 Mrd. EUR.
Als Forschungskoordinator beim Mario-Negri-Institut
für pharmakologische Forschung in Bergamo regt Remuzzi "seine" Wissenschaftler
dazu an, Forschung im Dienste der Wissenschaft zu betreiben. Das Institut wurde
1963 in Mailand als nicht gewinnorientierte Forschungseinrichtung gegründet.
Die Außenstelle in Bergamo wurde geschaffen, um die Forschung im Bereich der
sogenannten seltenen Krankheiten ("orphan diseases") voranzutreiben.
Diese werden von Pharmaunternehmen häufig als "nicht einträglich
genug" vernachlässigt. Das Institut meldet nicht selbst Patente an,
sondern erlaubt anderen Unternehmen, seine Forschungsergebnisse patentieren zu
lassen.
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Giuseppe Remuzzi, Carlamaria Zoja und Ariela Benigni (von links nach rechts)
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Giuseppe Remuzzi, Ariela Benigni und Carlamaria Zoja (von links nach rechts)
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Carlamaria Zoja (links) und Ariela Benigni
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Giuseppe Remuzzi
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Carlamaria Zoja, Giuseppe Remuzzi und Ariela Benigni (von links nach rechts)
Funktionsweise
Bereits in den 1890er-Jahren erkannten Ärzte,
dass erhöhte Proteinwerte im Urin von Patienten auf eine fortschreitende
Nierenerkrankung hindeuten können. Ein hoher Proteinspiegel ist ein Anzeichen
dafür, dass die glomeruläre Filtrationsrate niedriger wird. Diese ist ein Maß
für die Fähigkeit der Nieren, das Blut zu filtern.
Nach zehn Jahren Forschung machte Remuzzi eine
entscheidende Entdeckung: Erhöhter Proteinverkehr zu den Nieren ist nicht
einfach nur ein Symptom einer
Nierenerkrankung, sondern eine Ursache.
Wird den Nieren dauerhaft mehr Protein zugeführt, schreitet die Schädigung
fort.
Diese Erkenntnis veranlasste Remuzzi dazu,
nach einem "Ausschalter" zu suchen, mit dem sich die Progression der Nierenerkrankung aufhalten
lässt, bevor sie zum Nierenversagen führt. Und genau diesen fand er in den
ACE-Hemmern. Es war bereits bekannt, dass man mit dieser Gruppe von
Medikamenten Bluthochdruck verringern konnte - eine häufige Komplikation, von
der 70 Prozent der Empfänger von Lungen-, Herz- und Lebertransplantaten
betroffen sind.
Remuzzi fand heraus, dass der Wirkmechanismus
der ACE-Hemmer den Proteinspiegel im Blut senkt, und dies wiederum stoppt das
Fortschreiten der Nierenerkrankung. Er entwickelte ACE-Präparate zu Arzneimitteln
weiter, die ganz gezielt für die Behandlung der Nierenerkrankung eingesetzt
werden. Sie blockieren die Angiotensin-II-Typ-1-Rezeptoren.
Die Erfinder
Nachdem Giuseppe Remuzzi 1974 an der
Universität Pavia sein medizinisches Studium abgeschlossen hatte, begann er am
Krankenhaus von Bergamo mit Patienten zu arbeiten, die an der chronischen
Nierenerkrankung (CKD) litten, sowie mit organtransplantierten Patienten. Die
Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse zum hämolytischen Urämiesyndrom
(einer bekannten Ursache der CKD) und zur Nierenersatztherapie in The Lancet im Jahr 1977 brachte ihm
internationale Anerkennung ein. Seither gilt er als Kapazität auf seinem
Gebiet.
Heute ist er
Professor für Nephrologie an der Universität Mailand. Seit 1996 leitet er die
Abteilung für Immunologie und klinische Transplantation, seit 2011 die
medizinische Abteilung des Krankenhauses von Bergamo. Seit 1999 ist er außerdem
Direktor der Abteilung für Nephrologie und Dialyse am "Azienda Ospedaliera
Papa Giovanni XXII" in Bergamo. Bereits 1984 war er Forschungskoordinator
am Mario-Negri-Institut für pharmakologische Forschung in Bergamo geworden.
Im Laufe
seiner nunmehr fast vier Jahrzehnte umspannenden Forschungslaufbahn hat Remuzzi
etwa 1 300 wissenschaftliche Artikel geschrieben oder mitverfasst. Unter
den zahlreichen Preisen, die er erhalten hat, sind beispielsweise der
"Jean Hamburger Award" (2005) der Internationalen Gesellschaft für
Nephrologie (ISN), der "John P. Peters Award" (2007) sowie der
"AMGEN Award" der ISN (2011) zu nennen.
Carlamaria Zoja und Ariela Benigni studierten
beide Biologie an der Universität Mailand und promovierten an der Universität Maastricht. Zoja arbeitet
seit 1985 als Wissenschaftlerin und Forscherin am Mario-Negri-Institut in
Bergamo. Dort leitet sie heute das Labor für Pathophysiologie und
experimentelle Forschung zur Nierenerkrankung und Wechselwirkungen mit anderen
Organsystemen in der Abteilung für molekulare Medizin.
Ariela
Benigni kam 1986 ans Mario-Negri-Institut in Bergamo und leitet dort inzwischen
die Abteilung für molekulare Medizin. Als ausgewiesene Expertin in der Frage,
welche Rolle Blutdruck und Proteine bei der fortschreitenden Nierenerkrankung
spielen, hat sie über 270 Artikel veröffentlicht, die einem "Peer
Review" unterzogen wurden. Außerdem hat sie Vorträge auf mehr als 140
nationalen und internationalen Kongressen gehalten. Ihr wurde der "Citta di Bergamo Merit
Award" verliehen, und auch die Weltgesundheitsorganisation hat Benigni schon
als führende Expertin für die fortschreitende Nierenerkrankung zurate gezogen.
Wussten Sie das?
Eigentlich gilt in der pharmazeutischen
Forschung von jeher die Devise: "One drug for one disease" - "Ein Medikament für eine Krankheit".
Aber Remuzzi entdeckte, dass ACE-Hemmer, die ursprünglich zur Behandlung von
Bluthochdruck entwickelt worden waren, auch in der Therapie von
Nierenkrankheiten hilfreich waren. Damit gehören die ACE-Hemmer nun zu einer
kleinen Gruppe von Arzneimitteln, die für die Behandlung einer bestimmten
Krankheit entwickelt wurden, aber auch in der Therapie anderer Krankheiten
eingesetzt werden können (häufig sogar ohne dass die Zusammensetzung wesentlich
verändert werden muss).
Andere Beispiele sind Tamoxifen (das in der
Brustkrebstherapie eingesetzt wird, aber auch bei bipolaren Störungen helfen
kann), Gabapentin (das zur Behandlung von Epilepsie entwickelt wurde und nun
als Schmerzmittel verwendet wird), Raloxifen (zur Behandlung von Osteoporose
und zur Vorbeugung von Brustkrebs) und sogar Aspirin (ein Schmerzmittel, das
auch präventiv gegen Herzerkrankungen wirkt).
Bekannte Arzneimittel für neue
Anwendungsgebiete einzusetzen, bietet enorme Vorteile: Sie haben bereits ein
Zulassungsverfahren durchlaufen; die hohen Kosten für Tierversuche und
klinische Studien fallen daher weg. In der pharmazeutischen Forschung zeichnet
sich zunehmend ein Trend ab, vorhandene Arzneimittel "umzuwidmen".