J 0014/82 (Prioritätserklärung) 19-01-1983
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1. Eine Unrichtigkeit einer Prioritätserklärung kann entsprechend Regel 88 EPÜ berichtigt werden, sofern der Berichtigungsantrag so rechtzeitig gestellt wird, daß in die Veröffentlichung der Anmeldung ein entsprechender Hinweis aufgenommen werden kann (vgl. Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer J 04/82, ABl. EPA 1982,385).
2. Wird dieser Hinweis nicht veröffentlicht, so ist unter Würdigung aller Umstände des Falles zu prüfen, ob das Interesse der Öffentlichkeit verletzt würde, wenn die Berichtigung zugelassen wuerde.
3. Eine Beschwerdekammer ist nicht befugt, die Rückzahlung von Gebühren anzuordnen, die für eine europäische Patentanmeldung entrichtet wurden, die nicht Gegenstand einer Beschwerde vor dieser Kammer ist.
Prioritätserklärung - Berichtigung
Berichtigung - Berücksichtigung des öffentlichten Interesses
Verfahrensmangel - wesentlicher
Beschwerdegebühr - Rückzahlung
Vorsorglich eingereichte Anmeldung - Rückzahlung der Gebühren
I. Am 17. November 1981 reichten die zugelassenen Vertreter im Auftrag der Beschwerdeführerin die europäische Patentanmeldung Nr. 81 305 433.5 ein. Dabei wurde die Priorität nur einer nationalen UK-Anmeldung in Anspruch genommen, die am 27. November 1980 eingereicht worden war. Die Beschwerdeführerin hatte die zugelassenen Vertreter jedoch mit Schreiben vom 2. September 1981 angewiesen, die Priorität dieser und dreier am 18. März 1981, 21. April 1981 und 9. September 1981 eingereichter nationaler Anmeldungen in Anspruch zu nehmen. Die zugelassenen Vertreter hatten vom Patentamt des Vereinigten Königreichs Kopien der betreffenden Prioritätsunterlagen angefordert und auch erhalten; die europäische Patentanmeldung wurde jedoch nicht von der Person, die die Unterlagen angefordert hatte, zur Einreichung vorbereitet, da sie zu dem betreffenden Zeitpunkt in Urlaub war. Als die Anmeldung eingereicht wurde, wurde versehentlich nur die Priorität der ersten der vier nationalen Anmeldungen in Anspruch genommen.
II. Das Versehen wurde erst am 30. November 1981 entdeckt; die zugelassenen Vertreter setzten sich daraufhin telefonisch mit einem Beamten der Eingangsstelle des EPA in Verbindung, der ihnen riet, eine Berichtigung des Erteilungsantrags nach Regel 88 EPÜ zu beantragen.
III. Am 4. Dezember 1981 reichten die Vertreter der Beschwerdeführerin einen Berichtigungsantrag nach Regel 88 EPÜ und die Prioritätsunterlagen für alle vier Prioritätsansprüche ein.
IV. Mit Schreiben vom 8. Dezember 1981 forderte die Eingangsstelle den Beweis dafür an, daß die Beschwerdeführerin beabsichtigt hatte, alle Prioritäten in Anspruch zu nehmen, und verlangte ferner eine Erklärung der für das geltend gemachte Versehen verantwortlichen Personen. Die Erklärungen, die zwei der betreffenden Vertreter nach dem englischen "Statutory Declarations Act, 1835" abgaben, wurden zusammen mit den Schreiben der Beschwerdeführerin, die die betreffenden Anweisungen enthielten, am 2. März 1982 als Beweismittel eingereicht.
V . Am 18. März 1982 reichte die Beschwerdeführerin vorsorglich eine zweite europäische Patentanmeldung (Nr. 82 301 389.1) ein, in der die anderen drei Prioritätstage beansprucht wurden. Diese Anmeldung wurde am 29. September 1982 unter der Nummer 0 061 304 veröffentlicht.
VI. Am 30. März 1982 traf die Eingangsstelle die angefochtene Entscheidung, mit der der nach Regel 88 EPÜ gestellte Berichtigungsantrag mit der Begründung zurückgewiesen wurde, daß zur Zeit der Einreichung der Anmeldung kein Hinweis auf mehr als einen Prioritätsanspruch bestanden habe und der Antrag und die Beweismittel daher nicht berücksichtigt werden könnten.
VII. Mit Schreiben vom 27. Mai 1982 wurde gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdegebühr wurde fristgerecht entrichtet; am 26. Juli 1982 ging die Beschwerdebegründung beim Amt ein.
VIII. Obwohl die vorliegende Beschwerde bereits anhängig war, veröffentlichte das EPA am 16. Juni 1982 die europäische Patentanmeldung Nr. 81 305 433.5 in der eingereichten Fassung unter der Nummer 0 053 884.
IX. In ihrer Beschwerdebegründung machte die Beschwerdeführerin folgende Gründe geltend, aus denen ihres Erachtens die angefochtene Entscheidung aufgehoben und dem Berichtigungsantrag stattgegeben werden müsse: Die Absicht der Anmelderin und das Versehen seien hinreichend belegt worden. Auch enthalte die Regel 38 bzw. 41 EPÜ keine Bestimmung. die die Berichtigung ausschließe. Es könnten auch Fehler im Erteilungsantrag nach Regel 88 EPÜ berichtigt werden, die nicht offensichtlich seien; die Beschwerdeführerin könne sich hier auf frühere Entscheidungen der Juristischen Beschwerdekammer berufen, die die Hinzufügung ausgelassener Benennungen von Staaten betrafen. Sie beanstandete ferner, daß die Eingangsstelle ihre Entscheidung getroffen habe, ohne ihr Gelegenheit zu geben, sich zur Sache zu äußern. Sie beantragte. ihr die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen und anzuordnen, daß ihr die Anmelde- und Recherchengebühr sowie die Benennungs- und Anspruchsgebühren, die sie für die europäische Patentanmeldung Nr. 82 301 389.1 entrichtet habe, zurückgezahlt würden, wenn sie diese Anmeldung zurücknehme, wie es im Falle der Stattgabe dieser Beschwerde ihre Absicht sei. Auf Aufforderung der Juristischen Beschwerdekammer hin reichte die Beschwerdeführerin ein Schreiben ein, das zu der Anmeldung Nr. 82 301 389.1 genommen wurde; darin bekundet sie ihre Absicht, die Anmeldung bei Stattgabe der vorliegenden Beschwerde zurückzunehmen.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106-108 und der Regel 64 EPÜ und ist somit zulässig.
2. In der Entscheidung J 04/82 vom 21. Juli 1982 (ABl. EPA 1982, 385) hat sich die Juristische Beschwerdekammer schon einmal mit einem Antrag auf Berichtigung einer Prioritätserklärung befaßt. Sie hat dem Antrag damals stattgegeben, weil sie der Ansicht war, daß auch Unrichtigkeiten dieser Art nach Regel 88 Satz 1 EPÜ berichtigt werden könnten und keine anderslautenden Bestimmungen im EPÜ oder übergeordneten Grundsätze in der Pariser Verbandsübereinkunft (Artikel 4D(1), (2)) einer nachträglichen Berichtigung einer Prioritätserklärung nach Regel 88 EPÜ entgegenstünden.
3. Entgegen der in der angefochtenen Entscheidung der Eingangsstelle vertretenen Ansicht ist die Bestimmung der Regel 38(2) EPÜ, daß die Priorität bei der Einreichung beansprucht werden muß, kein Grund dafür, eine Berichtigung nicht zuzulassen. In diesem Fall betrifft die Berichtigung eine Auslassung; die Juristische Beschwerdekammer hat bisher stets die Ansicht vertreten, daß Fehler in beim Europäischen Patentamt eingereichten Unterlagen auch in Auslassungen bestehen können, die durch Hinzufügung des zunächst Ausgelassenen berichtigt werden können. Auf diese Frage wurde erstmals in der Sache J-08/80 (ABl. EPA 1980, 293), bei der eine Benennung eines Vertragsstaats ausgelassen worden war, und später in der Sache J-04/82 (siehe Nummer 2) eingegangen, bei der ein Prioritätsanspruch vergessen worden war.
4. In der Sache J 04/82 war die europäische Patentanmeldung veröffentlicht worden, als die Beschwerde bereits anhängig war. In die veröffentlichte Anmeldung und in das Europäische Patentblatt war die Priorität, deren Hinzufügung beantragt worden war, zusammen mit dem Hinweis aufgenommen worden, daß die Frage, ob die Hinzufügung zugelassen werden könne, noch nicht endgültig entschieden sei. Unter den damaligen Umständen war die Juristische Beschwerdekammer der Auffassung, daß das Interesse der Öffentlichkeit nicht gefährdet sei, wenn die Berichtigung zugelassen werde.
5. Der vorliegende Fall ähnelt der Sache J 04/82 insoweit, als die Hinzufügung weiterer Prioritäten beantragt wird, die zeitlich auf die bei der Einreichung beantragte folgen. Diesmal ist die Anmeldung jedoch ohne einen entsprechenden Hinweis veröffentlicht worden. Die Kammer muß daher prüfen, ob das Interesse der Öffentlichkeit verletzt würde, wenn die Berichtigung zugelassen würde.
6. Eine europäische Patentanmeldung wird deshalb unverzüglich veröffentlicht (Artikel 93 EPÜ), damit die Öffentlichkeit von der möglichen Entstehung eines europäischen Patents in Kenntnis gesetzt wird. Für die Unterrichtung der Öffentlichkeit sind jedoch nicht nur der technische Gehalt und die benannten Staaten, sondern auch der Anmeldetag und etwaige Prioritätstage von Bedeutung. Grundsätzlich hat die Öffentlichkeit Anspruch darauf, daß die veröffentlichten Informationen richtig und vollständig sind.
7. Der Anmelder eines europäischen Patents hat seinerseits Anspruch darauf, daß das EPA ihm gegenüber den Grundsatz der Billigkeit anwendet. Er muß sich darauf verlassen können, daß die Bestimmungen des EPÜ richtig angewandt werden, wenn er selbst richtig handelt. Im vorliegenden Fall hat die Anmelderin, die die Berichtigung kurz nach Einreichung der Anmeldung beantragt hat, alles getan, was ihr möglich war. Da ein Berichtigungsantrag gestellt und noch anhängig war, hätte das EPA die Anmeldung nicht ohne einen entsprechenden Hinweis für die Öffentlichkeit veröffentlichen dürfen.
8. Glücklicherweise ist im vorliegenden Fall die Öffentlichkeit durch die am 29. September 1982 veröffentlichte europäische Patentanmeldung Nr. 82 301 389.1, bei der die drei fraglichen Prioritäten für denselben Gegenstand beansprucht wurden, über den vollen Umfang des europäischen Schutzbegehrens unterrichtet worden. Die Beschwerdeführerin hat erklärt, daß sie diese Anmeldung zurückzunehmen beabsichtige, falls der vorliegenden Beschwerde stattgegeben werde (siehe Nummer IX). Unter diesen besonderen Umständen kann die Kammer entscheiden, daß das Interesse der Öffentlichkeit nicht verletzt wird, wenn der vorliegenden Beschwerde stattgegeben wird.
9. Die Entscheidung der Eingangsstelle war offensichtlich auf Gründe gestützt, zu denen sich die Beschwerdeführerin nicht hatte äußern können. Dies stellt einen Verstoß gegen Artikel 113(1) EPÜ dar. Die Juristische Beschwerdekammer ist daher der Ansicht, daß die Umstände des Falles eine Anordnung zur Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ rechtfertigen.
10. Die Kammer ist nicht ermächtigt, die Rückzahlung der für die europäische Patentanmeldung Nr. 82 301 389.1 gezahlten Gebühren anzuordnen, da diese Anmeldung nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die Entscheidung der Eingangsstelle des Europäischen Patentamts vom 30. März 1982 wird aufgehoben.
2. Es wird angeordnet, daß der Erteilungsantrag zur europäischen Patentanmeldung Nr. 81 305 433.5 dadurch berichtigt wird, daß auf Seite 2 in Feld VII Bezugnahmen auf die am 18. März 1981, 21. April 1981 und 9. September 1981 eingereichten UK-Patentanmeldungen 8108392, 8112331 und 8127289 hinzugefügt werden.
3. Es wird angeordnet, daß die Beschwerdegebühr an die Beschwerdeführerin zurückgezahlt wird.
4. Es ergeht keine Anordnung zur Rückzahlung der für die europäische Patentanmeldung Nr. 82 301 389.1 gezahlten Gebühren.