T 0371/17 (Leistungsfähigkeit eines Straßenmautsystems/KAPSCH) 20-07-2021
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Verfahren zum Messen der Leistungsfähigkeit eines Straßenmautsystems
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
I. Die Einsprechende (im Folgenden "die Beschwerdeführerin") hat Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt, den Einspruch zurückzuweisen. Die Einspruchsabteilung hat entschieden, dass Anspruch 1 des Streitpatents in der erteilten Fassung die Erfordernisse der Artikel 83 und 56 EPÜ erfüllt.
II. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents in vollem Umfang. Sie hat unter anderem auf das folgende Dokument Bezug genommen:
D3 : EP 1 909 231 A1
III. Die Patentinhaberin (im Folgenden "die Beschwerdegegnerin") beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung.
IV. Die Beteiligten wurden zu einer mündlichen Verhandlung geladen. Die Kammer erläuterte in ihrer vorläufigen Meinung unter anderem, dass Anspruch 1 ausgehend von D3 nicht erfinderisch sei.
V. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt. In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin zwei Hilfsanträge eingereicht.
VI. Anspruch 1 in der erteilten Fassung (Hauptantrag) lautet wie folgt:
"Verfahren zum Messen der Leistungsfähigkeit (Px) eines Straßenmautsystems (1, 1'), das auf einer Vielzahl fahrzeuggestützter, jeweils ihre Position (p) bestimmender Onboard-Units (2, 2', 2") basiert, die mit geographisch verteilten Funkstationen (8, 18) funkkommunizieren können, um in einer an diese angeschlossenen Mautzentrale (10) positionsbezogene Mauttransaktionen (ta) anzusammeln, umfassend:
Senden (13) eines Datensammelauftrags (m) mit einem Start-Ort (A) und einem Stop-Ort (B) von der Mautzentrale (10) über ein Mobilfunknetz (9) an eine Gruppe von Onboard-Units (2, 2', 2"),
in jeder Onboard-Unit (2, 2', 2") der Gruppe: wenn die eigene Position (p) in vorgegebene Nähe zum Start-Ort (A) gelangt, Starten eines Aufzeichnens der eigenen Positionen (p) oder davon abgeleiteter Daten (S) oder von Funkkommunikationen mit DSRC-Funkbaken (R) und, wenn die eigene Position (p) in vorgegebene Nähe zum Stop-Ort (B) gelangt, Stoppen des Aufzeichnens und Senden (14) der Aufzeichnung (rc) über das Mobilfunknetz (9) an die Mautzentrale (10),
in der Mautzentrale (10): Vergleichen (16) der von allen Onboard-Units (2, 2', 2") der Gruppe empfangenen Aufzeichnungen (rc) mit den von diesen Onboard-Units in Bezug auf Positionen (p), die zwischen dem Start- und dem Stop-Ort (A, B) liegen, gesammelten Mauttransaktionen (ta), und
Berechnen eines Leistungsmaßes (Px ) des Straßenmautsystems (1, 1') auf Basis des Vergleichs (16)."
VII. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags wie folgt (Änderungen unterstrichen):
"[...]
Berechnen eines Leistungsmaßes (Px ) des Straßenmautsystems (1, 1') auf Basis des Vergleichs (16),
wobei die Mauttransaktionen (ta) von der Mautzentrale (10) vermauteten Weglängen (L) entsprechen und die Aufzeichnungen (rc) von den Onboard-Units (2, 2') zurückgelegte Weglängen (L) angeben, und dass das Leistungsmaß (PL) auf Basis zumindest eines Verhältnisses (16) von vermauteten Weglängen zu zurückgelegten Weglängen berechnet wird, oder
die Mauttransaktionen (ta) von der Mautzentrale (10) vermauteten Wegzeiten (T) entsprechen und die Aufzeichnungen (rc) von den Onboard-Units (2, 2') verbrachte Wegzeiten (T) angeben, und das Leistungsmaß (PT) auf Basis zumindest eines Verhältnisses (16) von vermauteten Wegzeiten zu verbrachten Wegzeiten berechnet wird, oder
die Mauttransaktionen (ta) von der Mautzentrale (10) verrechneten Ist-Mautgebühren (F) entsprechen und die Aufzeichnungen (rc) von den Onboard-Units (2, 2', 2") aufgezeichnete Soll-Mautgebühren (F) angeben, und das Leistungsmaß (PF) auf Basis zumindest eines Verhältnisses (16) von verrechneten Ist-Mautgebühren zu aufgezeichneten Soll-Mautgebühren berechnet wird, oder
die Mauttransaktionen (ta) von der Mautzentrale (10) vermauteten Straßenabschnitten (SC) entsprechen und die Aufzeichnungen (rc) von den Onboard-Units (2, 2', 2") befahrene Straßenabschnitte (SC) angeben, und das Leistungsmaß (PSC) auf Basis zumindest eines Verhältnisses (16) von vermauteten Straßenabschnitten zu befahrenen Straßenabschnitten berechnet wird, oder
die Mauttransaktionen (ta) von der Mautzentrale (10) vermauteten DSRC-Funkbaken-Passagen (BC) entsprechen und die Aufzeichnungen (rc) von den Onboard-Units (2") aufgezeichnete DSRC-Funkbaken-Passagen (BC) angeben, und das Leistungsmaß (PBC) auf Basis zumindest eines Verhältnisses (16) von vermauteten Bakenpassagen zu aufgezeichneten Bakenpassagen berechnet
wird."
VIII. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 dadurch, dass der Text "die Mauttransaktionen (ta) von der Mautzentrale (10) verrechneten Ist-Mautgebühren (F) entsprechen und die Aufzeichnungen (rc) von den Onboard-Units (2, 2', 2") aufgezeichnete Soll-Mautgebühren (F) angeben, und das Leistungsmaß (PF) auf Basis zumindest eines Verhältnisses (16) von verrechneten Ist-Mautgebühren zu aufgezeichneten Soll-Mautgebühren berechnet wird, oder" gestrichen wurde.
1. Hauptantrag - Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
1.1 Die Erfindung gemäß Anspruch 1 betrifft ein Verfahren zum Messen der Leistungsfähigkeit eines Straßenmautsystems zwischen einem Start-Ort und einem Stop-Ort. Zu diesem Zweck wird ein Leistungsmaß berechnet.
1.2 Der nächstliegende Stand der Technik D3 offenbart ein "evidential log", das zur Überprüfung einer gestellten Mautrechnung abgefragt werden kann. In der angefochtenen Entscheidung wird ausgeführt, dass eine solche Überprüfung auch unter die Begriffe "Messen der Leistungsfähigkeit eines Straßenmautsystems" und "Berechnen eines Leistungsmaß" fällt (siehe Ziffer 3.1 der Gründe). Die Beschwerdegegnerin hat in der Beschwerdeerwiderung (siehe Seite 16, dritter Absatz) dieser Auslegung widersprochen.
1.3 Die Beschwerdeführerin führte aus, dass das patentgemäße Leistungsmaß keine weitere technische Verwendung habe und damit nicht zu dem technischen Charakter der Erfindung beitrage. Die Beschwerdegegnerin machte dagegen geltend, dass schon der Ausdruck "Leistungsmaß" [Hervorhebungen durch die Beschwerdegegnerin] definiere, dass etwas gemessen werde. Die Messgröße "Leistungsmaß" werde aus einem Vergleich physikalischer, nämlich ortsbezogener, Messgrößen berechnet und sei damit technisch. Es sei bei einem Messverfahren immer unerheblich, ob das ermittelte Messergebnis anschließend etwas bewirkt, denn bereits das Erzeugen des Messergebnisses an sich sei der technische Wert eines Messverfahrens.
1.4 Die Kammer stimmt nicht zu, dass die bloße Verwendung der Begriffe "Maß" und "messen" immer zum technischen Charakter eines Verfahrens beiträgt. Diese Begriffe werden sowohl in technischen als auch in nichttechnischen Bereichen des Lebens verwendet (siehe T 42/10, Ziffer 2.2 bis 2.7). Daher ist es auch für ein Messverfahren notwendig festzustellen, ob eine technische Wirkung sich aus seinem Ergebnis ergibt oder ob der Messwert doch eine nichttechnische, z.B. rein betriebswirtschaftliche, Auslegung erlaubt. Es ist dabei unerheblich, ob dieser Messwert aus dem Vergleich physikalischer oder ortsbezogener Größen berechnet wird, denn "[e]s gehört zum Wesen jeder geschäftlichen Tätigkeit, dass sie in Wechselwirkung mit der physischen Welt erfolgt und die Auswertung diesbezüglicher Informationen umfasst" (siehe T 154/04, Ziffer 20).
1.5 Die Beschwerdegegnerin führte aus, dass es nicht zu Lasten der Patentinhaberin gehen sollte, wenn ein Begriff umgangssprachlich mehrdeutig benutzt werde. Sie hat mehrere Beispiele technischer Messwerte vorgetragen, die unter anderem die Fehlerrate bzw. das korrekte Funktionieren eines technischen Systems oder einen Systemausfall ermitteln, und dafür plädiert, dass die Kammer das patentgemäße Leistungsmaß analog technisch auslege. Jedoch kann die Kammer dieser Auffassung nicht zustimmen. Denn, wie von der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung mit Verweis auf die Entscheidung T 930/05, Ziffer 4.5 angeführt, "[e]rlaubt ein Teilmerkmal in einem Anspruch eine nichttechnische Auslegung, so wird es nicht als technisches Merkmal angesehen".
1.6 Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin überzeugend vorgetragen, dass z.B. gemäß der Beschreibung, Absätze [0027] und [0033], das Verhältnis von verrechneten Ist-Mautgebühren zu aufgezeichneten Soll-Mautgebühren zwischen dem Start-Ort und dem Stop-Ort eine mögliche Auslegung des patentgemäßen Leistungsmaßes darstellt. Auch wenn - im Gegensatz zu der Feststellung in der angefochtenen Entscheidung - D3 das Berechnen eines dieser Auslegung entsprechenden Leistungsmaßes nicht offenbart, wie die Beschwerdegegnerin zutreffend argumentiert (siehe Punkt 1.2. oben), ist jedenfalls ein dementsprechendes Leistungsmaß ein betriebswirtschaftlicher Messwert, der keine technische Wirkung entfaltet. Damit ist das Messen der Leistungsfähigkeit eines Straßenmautsystems zwischen einem Start-Ort und einem Stop-Ort eine betriebswirtschaftliche, d.h. nichttechnische, Zielsetzung, die laut der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern (T 641/00, Leitsatz II) bei der Formulierung der Aufgabe als Teil der Rahmenbedingungen für die zu lösende technische Aufgabe aufgegriffen werden darf, insbesondere als eine zwingend zu erfüllende Vorgabe.
1.7 In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin in Frage gestellt, ob im "evidential log" in D3 überhaupt Positionsdaten gespeichert werden. Bezugnehmend auf Absätze [0112] und [0117] führte sie aus, dass "evidential log" keine Positionsdaten, sondern Satellitenkonstellationen bzw. rohe Sensordaten speichere. Die Beschwerdeführerin hat zutreffend entgegnet, dass es in z.B. Absatz [0144] eindeutig sei ("storing [...] vehicle position data as evidential data"), dass "evidential log" auch Positionsdaten beinhalte.
1.8 Die Beschwerdegegnerin hatte in der Beschwerdeerwiderung ausgeführt, dass im "evidential log" die OBU Positionsdaten laufend mitprotokolliert würden [Hervorhebungen durch die Beschwerdegegnerin], um diese auf gesonderte Aufforderung durch die Mautzentrale an diese senden zu können. Die Aufforderung ergehe im Nachhinein, einem vergangenen Zeitraum zugehörige, mitprotokollierte Positionsdaten zu retournieren. Eine solche Aufforderung sei völlig verschieden von dem Datensammelauftrag im Vorhinein durch Angabe eines Start-Orts und eines Stopp-Orts. In der angefochtenen Entscheidung wurde ebenfalls festgestellt, dass die Aufforderung der Mautzentrale ("request from back-end system") in D3, Absätze [0093], [0097], [0110], [0111], [0119], [0123], [0147], [0148], kein Auftrag sei, Daten zu sammeln, weil in D3 die Positionsdaten bereits laufend gesammelt werden.
1.9 Daraus ergibt sich jedoch, dass das Ausführungsbeispiel in D3 mit "evidential log" die zur Ausführung des Verfahrens gemäß Anspruch 1 notwendige technische Infrastruktur aufweist. Es werden nämlich die Positionsdaten der OBUs laufend aufgezeichnet und auf Aufforderung durch die Mautzentrale an diese gesendet. Die zu erfüllende Vorgabe der betriebswirtschaftlichen Zielsetzung (d.h. das Leistungsmaß des Straßenmautsystems soll zwischen einem bestimmten Start-Ort und einem bestimmten Stopp-Ort gemessen werden) legt nahe, dass diese Aufforderung den Start-Ort und den Stopp-Ort angibt. Bereits aufgezeichnete Daten im Nachhinein zur Berechnung eines Messwerts aufzufordern oder eine dementsprechende Aufforderung im Vornhinein auszuschicken, sind ebenfalls naheliegende Alternativen.
1.10 Die angefochtene Entscheidung sowie die Beschwerdegegnerin haben darauf hingewiesen, dass das "evidential log" in D3 möglicherweise mehr Daten aufzeichne als für die Berechnung des patentgemäßen Leistungsmaßes nötig wäre. Sie haben eine technische Wirkung in der gezielten Aufzeichnung der Positionsdaten und dem sich daraus ergebenden geringeren Speicherbedarf anerkannt. Das überzeugt die Kammer jedoch nicht. Vielmehr stimmt die Kammer der Beschwerdeführerin zu, dass der Umfang der Aufzeichnung der Positionsdaten nicht unbedingt auf technischen Überlegungen beruhen muss. Die Beschwerdeführerin gab als ein Beispiel hierfür rechtliche Randbedingungen an, wie Datenschutzverordnungen bzw. Verbote des laufenden Sammelns von Positionsdaten, wenn nicht erforderlich für einen gerechtfertigten Zweck.
1.11 Aus diesen Gründen beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
2. Hilfsanträge 1 und 2 - Zulassung, Artikel 13(2) VOBK 2020
2.1 Die Beschwerdegegnerin hat während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer Hilfsanträge 1 und 2 eingereicht. Die Beschwerdeführerin beantragte, dass diese spät eingereichten Hilfsanträge nicht in das Verfahren zugelassen werden.
2.2 Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Die Kammer hat die Beschwerdegegnerin gefragt, ob im vorliegenden Fall nach deren Auffassung solche außergewöhnlichen Umstände vorliegen. Die Beschwerdegegnerin hat diese Frage verneint.
2.3 Aus dem Grundsatz vom Artikel 13(2) VOBK 2020 ergibt sich daher, dass Hilfsanträge 1 und 2 nicht in das Verfahren zugelassen werden.
3. Da mithin kein gewährbarer Antrag vorliegt, ist das Streitpatent zu widerrufen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.