T 1016/23 12-08-2025
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KRAFTFAHRZEUGSCHLOSS
Neuheit - Hauptantrag (nein)
Neuheit - Hilfsantrag (ja)
Änderung nach Zustellung des Bescheids - außergewöhnliche Umstände (nein)
I. Die Einspruchsabteilung wies den Einspruch gegen das Europäische Patent Nr. 33 274 529 zurück.
II. Die Einsprechende legte Beschwerde gegen diese Entscheidung ein.
III. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents.
IV. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, das heißt die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag), oder hilfsweise gemäß Hilfsantrag 1, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer, gemäß einem der Hilfsanträge 2 bis 5, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 15. Dezember 2023, oder gemäß einem der Hilfsanträge 5a bis 10, eingereicht mit Schriftsatz vom 6. August 2025.
V. Am 12. August 2025 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.
VI. Für die vorliegende Entscheidung ist folgendes Beweismittel relevant:
E3 JP 2005 163 357 A
mit Übersetzung E3'
VII. Der unabhängige Anspruch 1 hat folgenden Wortlaut. Die Merkmalsgliederung wurde hinzugefügt.
a) Hauptantrag (wie erteilt)
a)
"Kraftfahrzeugschloss aufweisend
b)
ein Gesperre mit einer Drehfalle und mindestens einer Sperrklinke, wobei mittels der Sperrklinke eine Drehbewegung der Drehfalle sperrbar ist,
c)
eine Antriebseinrichtung, mit der die Sperrklinke aus einer Sperrstellung in eine Freigabestellung für das Gesperre überführbar ist, und
d)
einer Ausstelleinrichtung (11, 15, 18), wobei mittels der Ausstelleinrichtung (11, 15, 18) ein das Kraftfahrzeugschloss aufnehmendes Fahrzeugteil (4) aus einer Schließstellung heraus in eine Öffnungsstellung bewegbar ist,
dadurch gekennzeichnet, dass
e)
die Ausstelleinrichtung (11, 15, 18) das Kraftfahrzeugteil (4) in seiner Öffnungsstellung hält, so dass ein selbständiges Öffnen des Kraftfahrzeugteils (4) über die Öffnungsstellung hinaus unterbindbar ist,
f)
wobei die Ausstelleinrichtung (11, 15, 18) ein Ausstellmittel (11, 15, 18) aufweist, wobei mittels des Ausstellmittels (11, 15, 18) das Kraftfahrzeugteil (4) in die Öffnungsstellung bewegbar ist,
g)
wobei das Ausstellmittel (11, 15, 18) einen aus dem Kraftfahrzeugschloss heraus bewegbaren Stößel (14) aufweist."
b) Hilfsantrag 1:
Ausgehend vom Hauptantrag wurde das Merkmal hinzugefügt, wonach
h)
"das Ausstellmittel (11, 15, 18) mit einem Schlosshalter (6), Schlosshalterbolzen oder Schlosshalterbügel zusammenwirkt."
VIII. Die einzelnen Argumente der Beteiligten gehen aus den untenstehenden Entscheidungsgründen hervor.
1. Hauptantrag
1.1 Die Einsprechende erhob den Einwand, der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu gegenüber E3.
1.2 Die Patentinhaberin beantragte, den Einspruchsgrund der Neuheit nicht in das Verfahren zuzulassen. Die Frage der Neuheit sei gegenüber der erfinderischen Tätigkeit ein neuer Einspruchsgrund (G7/95).
Der neue Einspruchsgrund unter Artikel 54(2) EPÜ wurde am 30. Januar 2023 geltend gemacht, also zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung im Einspruchsverfahren. Es gab im Einspruchsverfahren offenbar keinen Einwand von der Patentinhaberin gegen die Zulassung des Neuheitseinwands. Der Neuheitseinwand lag also bereits im Einspruchsverfahren vor, wurde in der Einspruchsentscheidung ausführlich behandelt und war somit Teil des Einspruchsverfahrens.
Die nun von der Patentinhaberin herangezogene Entscheidung G10/91 bezieht sich auf die Zulassung von Einspruchsgründen, die im Beschwerdeverfahren neu eingeführt werden. Die dort genannten Kriterien, insbesondere die Notwendigkeit des Einverständnisses der Patentinhaberin (G10/91, Punkt 18), treffen daher hier nicht zu. Die Zulassung des verspäteten Einspruchsgrunds im Einspruchsverfahren lag im Ermessen der Einspruchsabteilung (vgl. dazu auch: G10/91, Absatz 16) und wurde von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren nicht bemängelt.
Der auf die E3 gestützte Neuheitseinwand ist daher Teil des Beschwerdeverfahrens.
1.3 E3 offenbart unstreitig ein
a)
"Kraftfahrzeugschloss aufweisend
b)
ein Gesperre mit einer Drehfalle 12 und einer Sperrklinke 13, wobei mittels der Sperrklinke eine Drehbewegung der Drehfalle sperrbar ist (Figuren 4-1 bis 4-3),
c)
eine Antriebseinrichtung, mit der die Sperrklinke aus einer Sperrstellung in eine Freigabestellung für das Gesperre überführbar ist (kann mit dem Motor 27 geöffnet werden), und
d)
einer Ausstelleinrichtung (pressing pin 30, Absatz [0027]), wobei mittels der Ausstelleinrichtung ein das Kraftfahrzeugschloss aufnehmendes Fahrzeugteil (Tür D) aus einer Schließstellung heraus in eine Öffnungsstellung bewegbar ist (Figuren 5-1, 5-2),
wobei
f)
die Ausstelleinrichtung (30) ein Ausstellmittel (30) aufweist, wobei mittels des Ausstellmittels (30) das Kraftfahrzeugteil (D) in die Öffnungsstellung bewegbar ist,
g)
wobei das Ausstellmittel (30) einen aus dem Kraftfahrzeugschloss heraus bewegbaren Stößel (30) aufweist.
1.4 Streitig war die Frage, ob E3 das Merkmal e) vorwegnimmt, wonach
e)
"die Ausstelleinrichtung (30) das Kraftfahrzeugteil (D) in seiner Öffnungsstellung hält, so dass ein selbständiges Öffnen des Kraftfahrzeugteils (4) über die Öffnungsstellung hinaus unterbindbar ist."
1.5 Merkmal e) ist ein funktionelles Merkmal, das sich jedoch nicht ausschließlich auf das vom Anspruch umfasste Kraftfahrzeugschloss bezieht, sondern auf eine funktionelle Wechselwirkung zwischen dem Kraftfahrzeugschloss und dem (nicht beanspruchten) Kraftfahrzeugteil.
Das Erreichen dieser Wechselwirkung hängt wesentlich davon ab, wie das Kraftfahrzeugteil ausgestaltet ist. Im Gegenzug erfüllt eine Vielzahl von Ausgestaltungen der Ausstelleinrichtung dieses Merkmal, abhängig davon, welche strukturellen Merkmale das (undefinierte) Kraftfahrzeugteil aufweist.
Da das Merkmal e) keine strukturellen Merkmale definiert, sondern rein funktioneller Natur ist, genügt es also, wenn die Ausstelleinrichtung im Stand der Technik geeignet ist, ein beliebiges Kraftfahrzeugteil in seiner Öffnungsstellung zu halten.
Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus dem Anspruchswortlaut für die Ausstelleinrichtung nicht.
1.6 Die Patentinhaberin argumentierte, das Ausstellmittel nach Merkmal e) müsse nicht nur geeignet sein, das Kraftfahrzeugteil zu halten, sondern es müsse dafür eingerichtet sein. Sie verwies hierzu auf die Beschreibung des Streitpatents, Spalte 3, Zeilen 10 bis 31, wo die Funktion des Ausstellmittels näher erläutert wird.
Als Beispiel nenne Anspruch 7 des Streitpatents eine Ausführungsform, die eine magnetische Kraft nutzt. Das Ausstellmittel könne hier also entweder selbst magnetisch sein oder nur ferromagnetisch. Wesentlich sei, dass es für eine magnetische Zusammenwirkung eingerichtet sei.
Die Ausstelleinrichtung müsse kausal für die Zusammenwirkung verantwortlich sein.
Eine solche Einrichtung sei im Stand der Technik nur gegeben, wenn die entsprechende Funktion beschrieben sei. Dies sei aber in E3 nicht der Fall. In E3 sei die Ratio des Streitpatents, wonach die Kraftfahrzeugtür festgehalten werden muss, nicht erwähnt.
1.7 Zunächst ist festzuhalten, dass eine einschränkende Begriffsdefinition in der Beschreibung des Streitpatents (hier Spalte 3, Zeilen 10 bis 31) nicht dazu verwendet werden darf, den ansonsten für den Fachmann eindeutig breiteren Anspruchsgegenstand einzuschränken. Wie in der Entscheidung T1999/23 (siehe Gründe, 5.6 und 5.7) erläutert, sind es die Ansprüche, die die Erfindung definieren (siehe G1/24, Leitsatz, 1. Satz), auch wenn die Ansprüche im Lichte der Beschreibung gelesen werden (siehe G1/24, Leitsatz, 2. Satz).
Zusätzlich nennt die zitierte Passage keine weiteren strukturellen Merkmale des Ausstellmittels, sondern erläutert nur dessen Funktion im Zusammenwirken mit einem zweiten Gegenstand (dem Kraftfahrzeugteil).
Das Argument, dass das Ausstellmittel (allein) kausal für das Zusammenwirken mit dem Kraftfahrzeugteil verantwortlich sei, trifft ebenfalls nicht zu. Je nachdem, mit was für einem Kraftfahrzeugteil das Ausstellmittel zusammenwirkt, ist dies an dem Ausstellmittel erkennbar oder auch nicht erkennbar. Erst in der Zusammenschau beider Teile ist erkennbar, ob sie zusammenwirken wie in Merkmal e) gefordert. Der Anspruch umfasst daher auch Ausstellmittel, an denen alleine nicht erkennbar ist, ob Merkmal e) erfüllt ist oder nicht. Im Beispiel der magnetischen Kraft genügt - wie von der Patentinhaberin vorgetragen - ein Stößel aus Eisen, um Merkmal e) zu erfüllen. Er ist strukturell dafür geeignet, das Kraftfahrzeugteil zu halten, wenn dieses mit einem Magneten ausgestattet ist.
In der gleichen Weise ist der Stößel (pressing pin) der E3 geeignet, ein Kraftfahrzeugteil zu halten, wenn dieses beispielsweise mit einer komplementären Öffnung ausgestattet ist. Er besitzt einen pilzartigen Kopf mit einer Hinterschneidung, die für eine Haltefunktion geeignet ist.
1.8 Die Patentinhaberin bezog sich in ihrer Argumentation auf die Entscheidung T0857/20.
Das dieser Entscheidung zugrundeliegenden Patent beanspruchte einen Kindersitz mit einem energieabsorbierenden Element, das "beim Anbringen des Kindersitzes (1) an seinem Bestimmungsort automatisch aus der Ruhestellung (3) in die Funktionsstellung (4) überführt wird." (Merkmal 1.6). Die damalige Beschwerdekammer hielt dieses Merkmal für nicht im Stand der Technik offenbart, da sie der Auffassung war, es sei "im Rahmen der Prüfung von Artikel 54 EPÜ unzulässig, sich eine beliebige Struktur auszudenken, die für die Erreichung der Funktionalität eingesetzt werden könnte, wenn eine solche im Stand der Technik nirgends auch nur ansatzweise gezeigt ist."
Diese Aussage muss vor dem Hintergrund des damals entgegengehaltenen Standes der Technik betrachtet werden, in dem bei einem Kindersitz manuell zwei Arbeitsschritte durchgeführt werden mussten, um die Funktionsstellung zu erreichen. Die damalige Beschwerdekammer war der Ansicht, dass sich der Fall von der in solchen Fällen üblichen Betrachtungsweise unterscheide, indem sie anführte: "Hier dagegen wird ein Objekt beansprucht, das selbst veränderbar ist, um in unterschiedlichen Stellungen unterschiedlich stark wirkenden Seitenaufprallschutz zu bieten. Diese Veränderung muss gemäß Merkmal 1.6 beim Anbringen am Bestimmungsort automatisch bewirkt werden können. Der hierzu erforderliche Mechanismus muss also im beanspruchten Objekt selbst ausgebildet sein, auch wenn er gegebenenfalls erst durch extern am Bestimmungsort vorhandene Strukturen (Fahrzeugsitz, Iso-Fix Verankerung, Gurt, etc.) auszulösen ist.", T0857/20, Punkt 3.5.1 (Unterstreichungen hinzugefügt.
Im vorliegenden Fall ist in der Ausstelleinrichtung keinerlei Mechanismus erforderlich, um die beanspruchte Funktion zu erreichen. Es genügt vielmehr eine einfache Anpassung des Kraftfahrzeugteils an den in E3 gezeigten Stößel 30, um die Funktion zu erreichen. Der Stößel selbst besitzt alle Strukturen, die hierfür nötig sind.
Mehr ist auch nicht gefordert, um Merkmal e) zu erfüllen.
1.9 Aus diesen Gründen ist der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht neu gegenüber E3.
2. Hilfsantrag 1
2.1 Ausgehend vom Hauptantrag wurde in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 das Merkmal hinzugefügt, wonach
h)
"das Ausstellmittel (11, 15, 18) mit einem Schlosshalter (6), Schlosshalterbolzen oder Schlosshalterbügel zusammenwirkt."
2.2 Die Einsprechende erhob den Einwand, der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu gegenüber E3.
Sie argumentierte, dass - analog zur Argumentation bezüglich dem Hauptantrag - der Schlosshalter S nur geringfügig angepasst werden müsse, um mit dem Stößel 30 zusammenzuwirken (Figuren 5-1, 5-2). Er müsse dafür lediglich etwas verschoben werden.
Daher sei das Kraftfahrzeugschloss der E3 geeignet, auch das Merkmal h) zu erfüllen.
2.3 Der Stößel 30 der E3 ist Teil des gezeigten Kraftfahrzeugschlosses. Er ist so angeordnet, dass er etwas abseits des Schlosshalters mit der Karosserie zusammenwirkt (Absatz [0027]). Gleichzeitig wirkt das Kraftfahrzeugschloss über die Drehfalle mit dem Schlosshalter zusammen.
Merkmal h) fordert jedoch, dass das Kraftfahrzeugschloss nicht nur mittels Drehfalle (Merkmal b) sondern auch über den Stößel mit dem Schlosshalter zusammenwirkt. Das in E3 gezeigte Kraftfahrzeugschloss ist hierfür nicht geeignet.
Eine Verschiebung des Stößels hin zum Schlosshalter würde eine Veränderung des Kraftfahrzeugschlosses bedeuten, die nicht in E3 offenbart ist.
Eine mögliche Verschiebung des Schlosshalters hin zum Stößel würde zugleich erfordern, dass auch die Drehfalle innerhalb des Kraftfahrzeugschlosses so verschoben wird, dass sie weiterhin mit dem Schlosshalter zusammenwirkt. Auch dies stellt eine Veränderung des Kraftfahrzeugschlosses dar, die nicht in E3 offenbart ist.
2.4 Aus diesen Gründen ist der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 neu gegenüber E3.
3. Die Einsprechende erhob in der mündlichen Verhandlung erstmals den Einwand, der Gegenstand des Anspruchs 4 des Hilfsantrags 1 gehe über den Inhalt der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht hinaus (Artikel 123(2) EPÜ).
Die Einsprechende trug zwar vor, sie habe einen gleichlautenden Einwand bereits mit dem Schreiben vom 13. September 2024 (Seite 5) in Bezug auf den Hilfsantrag 8 eingereicht. Es ist jedoch weder der Patentinhaberin noch der Beschwerdekammer zuzumuten, zu überprüfen, ob ein gegen einen Hilfsantrag erhobener Einwand auch auf höherrangige Anträge zutrifft.
Daher stellt der in der mündlichen Verhandlung erhobene Einwand eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Einsprechenden dar.
Eine solche Änderung bleibt gemäß Artikel 13(2) VOBK grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
Die Einsprechende hat keine solchen stichhaltigen Gründe vorgetragen.
Daher hat die Beschwerdekammer diesen Einwand nicht in das Verfahren zugelassen.
4. Die Beschwerdekammer hat während der mündlichen Verhandlung festgestellt, dass die Ansprüche des Hilfsantrags 1 nicht fortlaufend nummeriert waren (Regel 43(5) EPÜ) und dies den Parteien mitgeteilt. Die daraufhin von der Patentinhaberin vorgelegte korrigierte Fassung des Hilfsantrags 1 hat die Beschwerdekammer in das Verfahren zugelassen.
Die Einsprechende hat dagegen keine Einwände erhoben.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in der Fassung der Ansprüche 1 bis 7 des in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingereichten Hilfsantrags 1 und einer daran anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.