T 0026/86 (Röntgeneinrichtung) 21-05-1987
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1. Das EPÜ verbietet nicht die Patentierung von Erfindungen, die aus einer Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale bestehen.
2. Zur Entscheidung der Frage, ob ein Anspruch auf ein Computerprogramm als solches gerichtet ist, bedarf es nicht der Gewichtung seiner technischen und nicht technischen Merkmale. Bedient sich vielmehr die im Anspruch definierte Erfindung technischer Mittel, so kann sie - wenn sie die Patentierungsvoraussetzungen der Art. 52-57 erfüllt - patentiert werden.
Erfindung im Sinne von Art. 52(1) EPÜ (ja);
Erfindung bestehend aus technischen und nicht technischen Merkmalen
Erfinderische Tätigkeit (ja)
I. Die Beschwerdegegnerin ist Inhaberin des europäischen Patents 0 001 640 (Anmeldenummer 78 101 198.6).
II. Die von den Beschwerdeführerinnen Siemens (0I) und Philips (0II) (Einsprechende) eingelegten Einsprüche gegen die Patenterteilung wurden von der Einspruchsabteilung zurückgewiesen.
(...)
IV. Gegen diese Entscheidung haben die Beschwerdeführerinnen 0I und 0II Beschwerde erhoben.
V. Es wurde mündlich verhandelt. Für die Beschwerdeführerin 0I war niemand anwesend. Es wurde festgestellt, daß sie ordnungsgemäß geladen worden war.
VI. Die Beschwerdeführerin 0I hat in ihrer Beschwerdeschrift beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
VII. Die Beschwerdeführerin 0II hat in der mündlichen Verhandlung beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und
1. das Patent zu widerrufen (Hauptantrag)
2. die Sache der Großen Beschwerdekammer vorzulegen (Hilfsantrag).
VIII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) hat in der mündlichen Verhandlung beantragt, die Beschwerden zurückzuweisen.
IX. Der geltende Patentanspruch 1 lautet wie folgt: "1. Röntgeneinrichtung zur Erstellung radiologischer Abbildungen mit einer Eingabeeinheit (20) zur Wahl einer von mehreren vorgesehenen Röntgenröhren (46, 48, 50) mit einstellbarer Brennfleckgröße und Drehanodengeschwindigkeit, sowie zur Wahl der Werte des Röntgenröhrenstromes und der Belichtungszeit, und mit einer die Belastungskurven dieser Röntgenröhren für unterschiedliche Belichtungsparameter speichernden Datenverarbeitungseinheit (12), die die mit den gewählten Werten der Belichtungsparameter korrespondierenden Röntgenröhrenspannungswerte anhand der zugehörigen Belastungskurve einstellt, dadurch gekennzeichnet, daß die Datenverarbeitungseinheit (12) für eine optimale Belichtung bei hinreichender Sicherheit vor Überlastung der Röntgenröhre im Rahmen eines Ablaufprogramms:
a) zunächst sowohl die Röntgenröhrenspannung als auch das Produkt aus Röntgenröhrenstrom und Belichtungszeit konstant hält und den Röntgenröhrenstrom beginnend mit dem zulässigen Maximalwert solange erniedrigt, bis die zugehörige Belastungskurve eine Belichtung gestattet,
b) bei Nichtgewähren der Belichtung und Erreichen der maximal zulässigen Belichtungszeit die Röntgenröhrenspannung solange erhöht und den Röntgenröhrenstrom in der Abhängigkeit der Nebenbedingung konstanter Schwärzung solange erniedrigt, bis die zugehörige Belastungskurve eine Belichtung gestattet, und
c) die Belichtungsparameter zunächst unter Zugrundelegung der für die Bildauflösung optimalsten Belastungskurve des kleinsten Brennflecks und der Standardgeschwindigkeit der Drehanode ermittelt und bei Nichtgewähren der Belichtung die gewählten Belichtungsparameter mit den für die Bildauflösung nächstoptimalen Belastungskurven für unterschiedliche Werte des Brennflecks und der Anodendrehgeschwindigkeit vergleicht, und zwar zunächst mit der für den kleinsten Brennfleck und einer schnelleren Anodendrehgeschwindigkeit, daß Mittel vorgesehen sind, die die gemäß dem Ablaufprogramm von der Datenverarbeitungseinheit (12) ermittelten Werte der Belichtungsparameter über entsprechende Wahlkreise (58 bzw. 60 oder 64) zu einem Antriebs- und Versorgungskreis (52) zur Einstellung des Hochspannungserzeugers weiterleiten." Die Ansprüche 2 bis 5 sind von Anspruch 1 abhängig.
X. Die Beschwerdeführerin 0I vertrat die Auffassung, der Gegenstand des angegriffenen Patents sei keine patentfähige Erfindung; es läge vielmehr ein Fall des Artikels 52 (2) EPÜ vor, da der Unterschied des Patentgegenstandes gegenüber dem Stand der Technik, insbesondere der Druckschrift US-A- 4 035 648 (D1), nur darin bestünde, daß ein neues Programm in eine bekannte Datenverarbeitungsanlage geladen werde. (...)
XI. Die Beschwerdeführerin 0II trug im wesentlichen vor, es sei zwar richtig, daß die Merkmale a), b) und c) des Ablaufprogramms in Zusammenhang mit der gesamten Röntgeneinrichtung gemäß Anspruch 1 des angegriffenen Patents einen technischen Effekt bewirkten und demzufolge der Gegenstand des Anspruchs 1 nach den Richtlinien und der Entscheidung T 208/84 "VICOM", ABl. EPA 1/1987, 14, als Erfindung im Sinne von Art. 52 (1) EPÜ zu betrachten wäre. Dies würde jedoch zu einer Aushöhlung des Artikels 52 (2) EPÜ führen, denn bei dieser Betrachtungsweise würde jedes Computerprogramm, das für einen Universalrechner konzipiert ist, wegen des Entstehens elektrischer Signale, also wegen dieser technischen Wirkung, die Voraussetzungen der Patentfähigkeit erfüllen. Der Ausdruck "Gegenstände oder Tätigkeiten als solche" in Artikel 52 (3) EPÜ dürfe nicht zu eng ausgelegt werden. Das bedeute, daß immer dann, wenn der Kern des Gegenstandes keinen technischen Charakter besitze (der Kern der Lehre z. B. ein Computerprogramm sei), ein Fall des Artikels 52 (2) EPÜ gegeben sei. Diese Auslegung entspreche auch der Rechtsprechung des BGH in der Bundesrepublik Deutschland. Im Anspruch 1 des angegriffenen Patents sei der Kern des Gegenstandes ein reines Computerprogramm, das zudem keine ständige Wechselwirkung mit der "hardware" der Röntgeneinrichtung habe. Darum sei der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Artikel 52 (2) und (3) EPÜ nicht patentierbar.
XII. Die Beschwerdegegnerin widersprach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin OII. Es sei nicht möglich, den Gegenstand des Anspruchs 1 in einen technischen und in einen nichttechnischen Teil aufzuteilen. Durch die Erfindung sei ein technischer Effekt erzielt worden, so daß der Gegenstand des Anspruchs 1 patentfähig sei. . . .
1. Die Beschwerde ist zulässig.
(...)
3. Erfindung im Sinne von Artikel 52 (1) EPÜ.
3.1. Bei der Frage, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 eine Erfindung im Sinne von Artikel 52 (1) EPÜ ist oder nicht, ist zu prüfen, ob es sich im Sinne des Artikels 52 (2) c) und (3) EPÜ um ein Programm als solches handelt oder nicht. Gegenstand des Anspruchs 1 ist weder ein Computerprogramm allein, losgelöst von jeder technischen Anwendung, noch ein Computerprogramm in Form einer Aufzeichnung auf einem Datenträger, noch eine bekannte, universelle Datenverarbeitungsanlage in Verbindung mit einem Computerprogramm. Vielmehr handelt es sich um eine Röntgeneinrichtung, die zwar eine Datenverarbeitungseinheit aufweist, die nach einem Ablaufprogramm arbeitet, bei der aber das Ablaufprogramm in der Röntgeneinrichtung eine technische Wirkung ausübt.
Dies geht deutlich aus den Merkmalen a), b) und c) des Anspruchs 1 hervor, wonach die Röntgenröhren von dem Ablaufprogramm so gesteuert werden, daß gemäß einer Parameterprioritätsbeziehung eine optimale Belichtung bei hinreichender Sicherheit vor Überbelastung der Röntgenröhren erzielt wird.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist daher eine Erfindung im Sinne von Artikel 52 (1) EPÜ, die - unabhängig davon, ob die Röntgeneinrichtung ohne dieses Computerprogramm zum Stand der Technik gehört oder nicht - dem Patentschutz zugänglich ist.
3.2. Die Beschwerdeführerin 0II vertrat die Meinung, es fehle an einer ständigen technischen Wechselwirkung zwischen Programm und Röntgeneinrichtung. Ein technischer Effekt komme lediglich am Ende einer Rechenoperation zustande. Daher seien die allgemein bekannte Röntgeneinrichtung und das Computerprogramm völlig getrennt zu werten. Die Beschwerdekammer kann dieser Auffassung nicht folgen. Denn es spielt keine Rolle für die Feststellung, ob es sich um eine Erfindung nach Artikel 52 (1) EPÜ handelt, wann die technische Wirkung eintritt. Wichtig ist nur, daß sie überhaupt erzielt wird.
3.3. Zu den Einwänden der Beschwerdeführerin 0II, die Rechtsansicht in den Richtlinien (C, IV, 2.2) und der Entscheidung der Kammer 3.5.1, T 208/84 (ABl. EPA 1987, 14 VICOM) würden zu einer vollständigen Wirkungslosigkeit des Artikels 52 (2) c) EPÜ führen, weil dann auch ein übliches Computerprogramm im Rahmen eines Universalrechners als Erfindung im Sinne von Artikel 52 (1) EPÜ angesehen werden könne, weil auch dabei jede Rechenoperation mit Hilfe von Naturkräften, nämlich elektromagnetischen, durchgeführt werde, nimmt die Beschwerdekammer wie folgt Stellung. Es ist zwar richtig, daß ein übliches Computerprogramm im Rahmen eines Universalrechners mit Hilfe von Naturkräften mathematische Größen in elektrische Signale umwandelt. Diese elektrischen Signale entsprechen jedoch lediglich einer Wiedergabe von Informationen, d.h. elektrische Signale an sich dürfen nicht als technischer Effekt betrachtet werden. In diesem Fall wird das Computerprogramm im Rahmen des Universalrechners als Programm als solches, also nicht als Erfindung gemäß Artikel 52 (2) (c) EPÜ angesehen. Steuert dagegen das Computerprogramm die Arbeitsweise eines allgemein bekannten Universalrechners, so daß der Rechner aus technischer Sicht andersartig arbeitet, dann kann die Einheit von Programm und Universalrechner als Erfindung dem Patentschutz zugänglich sein.
3.4. Zur Stützung ihrer Auffassung, daß die vorliegende Erfindung dem Patentschutz nicht zugänglich sei, weil sie dem Bereich der Technik nicht angehöre, hat sich die Beschwerdeführerin OII auf die deutsche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bezogen, insbesondere auf dessen Urteil vom 11. März 1986 X ZR 65/85 (GRUR 1986, 531, Flugkostenminimierung). Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, wenn man die Grundsätze dieser Entscheidung sowie der früheren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu dieser Frage (vgl. BGH GRUR 1978, 102 Prüfverfahren; BGH GRUR 1977, 96, Dispositionsprogramm; GRUR 1981, 39, Walzstabteilung) zugrundelege, so komme eine Patentierung nicht in Betracht, weil der maßgebliche Inhalt der Erfindung in dem Programm bestehe, das aber dem Patentschutz nach Artikel 52 (2) c) EPÜ nicht zugänglich sei. Nach der erwähnten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es für die Entscheidung der Frage, ob eine Erfindung technischen Charakter besitzt, entscheidend darauf an, welches der sachliche Gehalt der beanspruchten Lehre ist, d.h. auf welchem Gebiet ihr Kern liegt. Für den Bundesgerichtshof ist eine Lehre dann nicht technisch, wenn die Lehre in ihrem Kern die Auffindung einer Regel darstellt, deren Befolgung den Einsatz beherrschbarer Naturkräfte außerhalb des menschlichen Verstandes nicht gebietet, und zwar auch wenn zu ihrer Ausführung der Einsatz technischer Mittel zweckmäßig oder gar allein sinnvoll, d. h. notwendig erscheint und auf den Einsatz dieser technischen Mittel in den Ansprüchen oder in der Patentschrift hingewiesen ist.
Die Kammer vermag dieser Rechtsauffassung insoweit nicht zu folgen, als sie für die Entscheidung der Frage, ob eine Erfindung dem Bereich der Technik angehört, darauf abstellt, auf welchem Gebiet ihr Kern liegt. Die Kammer ist vielmehr der Auffassung, daß eine Erfindung in ihrer Gesamtheit zu würdigen ist. Bedient sich eine Erfindung sowohl technischer wie nichttechnischer Mittel, so kann die Verwendung nichttechnischer Mittel nicht der gesamten Lehre ihren technischen Charakter nehmen. Das Europäische Patentübereinkommen verlangt nicht, daß eine patentfähige Erfindung ausschließlich oder überwiegend technischer Natur sein müsse oder anders ausgedrückt, das Europäische Patentübereinkommen verbietet nicht die Patentierung von Erfindungen, die aus einer Mischung technischer und nichttechnischer Bestandteile bestehen.
Abgesehen davon, daß die Kerntheorie des Bundesgerichtshofs nach Auffassung der Kammer jedenfalls im Europäischen Patentübereinkommen keine gesetzliche Grundlage findet, spricht auch in der praktischen Anwendung gegen sie die Notwendigkeit, daß jeweils eine Gewichtung der nichttechnischen und technischen Maßnahmen vorgenommen werden muß, weil nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs es darauf ankommt, welche Maßnahme den wesentlichen Beitrag zur Erzielung des Erfolgs liefert. Diese Entscheidung kann in der Praxis im Einzelfall nicht nur sehr schwierig sein, sondern sie führt auch dazu, daß die gesamte Lehre dem Patentschutz nicht zugänglich ist, wenn der überwiegende Teil der Lehre nichttechnischer Natur ist, und zwar auch dann, wenn der nach der Gewichtung untergeordnete technische Teil der Lehre für sich bewertet neu und erfinderisch wäre.
Die Kammer ist daher der Auffassung, daß es zur Entscheidung der Frage, ob ein Patentanspruch auf ein Computerprogramm als solches gerichtet ist, einer Gewichtung seiner technischen und nichttechnischen Merkmale nicht bedarf. Bedient sich vielmehr die durch den Anspruch definierte Erfindung technischer Mittel, so fällt sie nicht unter die Ausnahmebestimmung des Art. 52 (2) c) und (3) EPÜ und kann - wenn sie die Patentierungsvoraussetzungen der Art. 52-57 EPÜ erfüllt - patentiert werden.
4. Neuheit.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist daher neu (Artikel 54 EPÜ).
5. Erfinderische Tätigkeit.
(...)
Aus diesen Gründen ist es nicht möglich, in naheliegender Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1 zu gelangen. Demzufolge genügt dieser Gegenstand dem Erfordernis des Artikels 52 (1) i.V.m. Art. 56 EPÜ.
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 5 sind auf besondere Ausführungsformen der Röntgeneinrichtung nach Anspruch 1 gerichtet und sind deshalb ebenfalls gewährbar.
6. Dem Antrag der Beschwerdeführerin OII, die vorliegende Sache der Großen Beschwerdekammer vorzulegen, konnte die Kammer nicht entsprechen. Nach Art. 112 EPÜ befaßt die Beschwerdekammer auf Antrag die Große Beschwerdekammer zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt und sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall, da die Kammer mit ihrer Entscheidung der früheren Entscheidung der Kammer 3.5.1 vom 15. Juli 1986 T 208/84 (ABl. EPA 1987, 14, VICOM) folgt und damit eine einheitliche Rechtsanwendung in der wichtigen Rechtsfrage der Patentierbarkeit von Erfindungen, die sich eines Computerprogramms bedienen, gesichert ist. Daher hält die Kammer eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer nicht für erforderlich.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
2. Der Antrag, die Große Beschwerdekammer mit dem Verfahren zu befassen, wird zurückgewiesen.