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T 0695/89 (Rücknahme der Beschwerde) 09-09-1991
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Die Große Beschwerdekammer wird mit folgenden Rechtsfragen befaßt:
1. Wird durch die Rücknahme der Beschwerde eines einzigen Beschwerdeführers, sei es im einseitigen oder zweiseitigen Verfahren, das Beschwerdeverfahren beendet?
2. Wenn die Frage zu 1. verneint wird, ist dann das Beschwerdeverfahren in jedem Fall durch eine Entscheidung der Beschwerdekammer gemäß Regel 66 (2) EPÜ zu beenden?
I. Gegen das mit 11 Patentansprüchen erteilte europäische Patent 0 141 177 hat die Beschwerdeführerin Einspruch eingelegt mit dem Antrag, das Patent auf Grund der Dokumente 1 und 2 wegen mangelnder Patentfähigkeit zu widerrufen.
Die Einspruchsabteilung hat den Einspruch zurückgewiesen.
II. Hiergegen hat die Beschwerdeführerin zulässig Beschwerde erhoben und unter Hinweis auf weiteren Stand der Technik den Widerruf des Patents beantragt.
Daraufhin hat die Beschwerdegegnerin einen neuen, durch Aufnahme der Merkmale aus Anspruch 3 präzisierten Hauptanspruch vorgelegt.
III. Mit Schriftsatz vom 12. März 1991 hat die Beschwerdeführerin ihren Einspruch und mit Schriftsatz vom 19. März 1991 auch die Beschwerde zurückgezogen.
1. Artikel 112 (1) a) EPÜ ermächtigt die Beschwerdekammern, von Amts wegen die Große Beschwerdekammer zu befassen, wenn sie zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder im Fall einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung eine Entscheidung für erforderlich halten.
2. Gemäß Artikel 111 (1) Satz 1 EPÜ entscheidet die Beschwerdekammer über die Beschwerde. Fällt die Beschwerde durch Rücknahme weg, so stellt sich die Frage, ob damit das Beschwerdeverfahren, unabhängig von seinem sachlichen Stand, automatisch beendet ist und somit die Entscheidung der Vorinstanz in Rechtskraft erwächst, oder ob das Beschwerdeverfahren grundsätzlich auch nach dem Wegfall der Beschwerde des einzigen Beschwerdeführers noch fortgeführt werden kann und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen.
3. Das Europäische Patentübereinkommen enthält weder im Übereinkommen selbst noch in der Ausführungsordnung eine ausdrückliche Regelung über die Rücknahme der Beschwerde und die Folgen einer solchen Rücknahme.
4. Dementsprechend sind die Kammern in Anwendung allgemeiner Verfahrensgrundsätze in ihrer bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, daß die Rücknahme der Beschwerde das Beschwerdeverfahren beendet und die Entscheidung der Vorinstanz rechtskräftig wird. Dies gilt sowohl für das ex parte- wie für das inter partes-Verfahren.
5. Für das ex parte-Verfahren ist diese Frage zumindest bisher unproblematisch gewesen, da nur die Interessen des Patentanmelders bzw. -inhabers (nach Rücknahme eines einzigen Einspruchs) berührt werden (vgl. T 41/82, ABl. EPA 1982, 256; J 19/82, ABl. EPA 1984, 6; J 12/86, ABl. EPA 1988, 83). Dennoch darf das einseitige Verfahren hier nicht einfach außer Betracht bleiben, da die Frage, ob die Rücknahme der Beschwerde das Beschwerdeverfahren beendet oder nicht, für beide Verfahren von Bedeutung ist und möglicherweise für beide Verfahren gleich zu beantworten sein wird.
6. Für inter partes-Verfahren hat die Entscheidung T 85/84 vom
14. Januar 1986 (unveröffentlicht) festgestellt, daß die Zurückziehung der Beschwerde zur Folge hat, daß die Entscheidung der Einspruchsabteilung rechtskräftig wird mit der Folge, daß nur noch über die Verteilung der Kosten zu entscheiden ist. Diese Entscheidung ist ausdrücklich als "Kostenentscheidung" bezeichnet.
Zwei weitere, ebenfalls inter partes-Verfahren betreffende Entscheidungen, T 117/86 (ABl. EPA 1989, 401) und T 323/89 (zitiert im Jahresbericht 1990, Beilage zu ABl. EPA 6/1991, 47), legen - wenn auch nicht im Rahmen einer Kostenentscheidung - dar, daß mit Rücknahme der Beschwerde durch den Einsprechenden die von diesem vorgebrachten Einspruchsgründe nicht mehr überprüft werden, so daß nur noch über die Kosten zu entscheiden ist.
Ist keine Kostenentscheidung beantragt, so endet das Verfahren nach bisheriger überwiegender Praxis ohne Entscheidung (vgl. z. B. T 13/87, bei dem der Einsprechende seine Beschwerde zurückzog, nachdem die Kammer die Große Beschwerdekammer mit einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung befaßt hatte).
Eine Beschwerdekammer verfährt dergestalt, daß sie das Beschwerdeverfahren nach Rücknahme der Beschwerde durch den Einsprechenden durch einen Bescheid (kein Rubrum, nur rudimentäre Gründe) "einstellt" (vgl. z. B. T 169/87).
7. In zweiseitigen Verfahren mit dem Einsprechenden als Beschwerdeführer und dem Patentinhaber als Beschwerdegegner können Situationen auftreten, für die die bisherige Praxis keine befriedigende Lösung anbietet.
Beispielsweise kommt es vor, daß der Einsprechende nach Beschwerdeeinlegung auf Grund vertraglicher Vereinbarungen mit dem Patentinhaber die Beschwerde zurücknimmt und dadurch ein nach Ansicht der Kammer nicht bestandsfähiges Patent "rettet".
Zum anderen möchte ein Patentinhaber und Beschwerdegegner angesichts neu in das Verfahren eingeführten Standes der Technik sein Patent einschränken und sieht sich daran durch die Rücknahme der Beschwerde durch den Einsprechenden und Beschwerdeführer gehindert. Dies ist der vorliegende Fall. Die Patentinhaberin hat auf Grund der in der Beschwerdebegründungsschrift der Einsprechenden geltend gemachten Mängel des Patents neue Ansprüche eingereicht, mit denen die vorlegende Kammer das Patent, abgesehen von kleineren Änderungen, aufrechterhalten könnte. Ist dies nicht möglich, dann verbleibt der Patentinhaberin unter Umständen nur der mühsame Weg über nationale Beschränkungsverfahren, die nicht in allen Vertragsstaaten vorgesehen sind.
Schließlich gibt es auch noch den Fall, daß der Patentinhaber angesichts weiteren im Beschwerdeverfahren bekanntgewordenen Standes der Technik sein Patent widerrufen möchte. Ein solcher Fall liegt der Beschwerdekammer 3.3.1 unter dem Aktenzeichen T 419/89 vor.
8. Nachdem sich in dem Übereinkommen keine ausdrückliche Bestimmung über die Rücknahme der Beschwerde und ihre Folgen findet, ist zu prüfen, ob sich mittelbar andere Lösungsansätze als die bisher gefundenen anbieten könnten.
8.1 Eine der Rücknahme der Beschwerde vergleichbare Bestimmung enthält Regel 60 (2) Satz 2 EPÜ zur Fortsetzung des Einspruchsverfahrens von Amts wegen. Sie besagt, daß das Verfahren auch fortgesetzt werden kann, wenn der Einspruch zurückgenommen wird.
Es ist daher zu fragen, ob sich eine analoge Anwendung von Regel 60 (2) Satz 2 EPÜ anbieten könnte. Sie käme bei ähnlichem Sachverhalt oder vergleichbarer Rechtslage in Betracht.
Der Einspruch ist ein jedermann zur Verfügung stehendes Angriffsmittel, um das Patent auf seine Rechtsbeständigkeit überprüfen zu lassen. Der Einspruch leitet ein sich an die Patenterteilung zeitlich anschließendes besonderes Verwaltungsverfahren ein. Er ist kein Rechtsmittel im klassischen Sinn und hat daher keinen Devolutiv- und keinen Suspensiveffekt wie die Beschwerde.
Die Beschwerde kann dagegen nur derjenige einlegen, der an dem Verfahren beteiligt war, das zu der Entscheidung geführt hat, soweit er durch die Entscheidung beschwert ist (Artikel 107 EPÜ).
Gemeinsam ist dem Einspruch und der Beschwerde, daß sie beide Zulässigkeitshürden überwinden müssen, bevor sie einer sachlichen Prüfung unterzogen werden können.
Diese Gemeinsamkeit erscheint jedoch im Hinblick auf die aufgezeigten Unterschiede zu geringfügig, um die Bedenken gegen eine analoge Anwendung der Bestimmung auf die Rücknahme der Beschwerde auszuräumen.
Aus dem Umstand, daß die Regel 60 (2) Satz 1 EPÜ ausdrücklich auf den Einspruch begrenzt ist, könnte sich als Umkehrschluß oder argumentum e contrario anbieten, daß in allen anderen Fällen entsprechend dem allgemeinen Verfahrensgrundsatz der Dispositionsmaxime mit Rücknahme des Antrags oder der Erklärung das Verfahren nicht fortgeführt wird, sondern beendet ist.
Die Dispositionsmaxime oder der Verfügungsgrundsatz besagt, daß Beginn und Ende eines Verfahrens durch entsprechende prozessuale Erklärungen des Antragstellers (Klägers, Beschwerdeführers) bestimmt werden, es sei denn, das Gesetz verbietet ausdrücklich die Rücknahme eines Antrags (vgl. Art. 94 (2) Satz 3 EPÜ für den Prüfungsantrag) oder macht sie von der Genehmigung der Behörde, des Gerichts oder des Gegners abhängig oder sieht die Fortsetzung des Verfahrens trotz Rücknahme des Antrags vor (vgl. Regel 60 (2) Satz 2 EPÜ; vgl. auch für die Rücknahme der Beschwerde durch den Einsprechenden § 24, 1. Absatz, Satz 3 des schwedischen Patentgesetzes, der vorsieht, daß die Beschwerde dennoch berücksichtigt werden kann, wenn hierfür besondere Gründe vorliegen - Bl. f. PMZ 1985, 174, 177; Industrial Property, National Laws Sweden, Nr. 10, Oktober 1987).
Diesem Prinzip folgt im wesentlichen die Rechtsprechung der Beschwerdekammern.
8.2 Des weiteren ist zu überlegen, ob der Amtsermittlungsgrundsatz, der im Verfahren vor dem Patentamt neben dem Verfügungsgrundsatz gilt, zur Klärung der Frage beitragen kann.
Der Amtsermittlungsgrundsatz ist in Artikel 114 (1) EPÜ niedergelegt. Danach ermittelt das Europäische Patentamt den Sachverhalt vom Amts wegen; es ist dabei weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt. Der Untersuchungsgrundsatz gilt nach dieser Bestimmung offensichtlich nur für die Erforschung des Sachverhalts. Auch der unter anderem die Anträge der Beteiligten betreffende zweite Halbsatz läßt wohl wenig Möglichkeiten einer extensiven Auslegung, da er sich in allen drei Sprachen eindeutig nur auf die Sachverhaltsermittlung bezieht. Dies könnte wieder zu dem Schluß führen, daß die übrigen Anträge, insbesondere die das Beschwerdeverfahren als solches bestimmenden wie Beschwerdeerhebung oder -rücknahme, dem Verfügungsgrundsatz unterliegen, an welchen die Kammern gebunden sind.
8.3 Schließlich ist noch in Betracht zu ziehen, inwieweit sachliche Gründe der Beendigung des Beschwerdeverfahrens mit Rücknahme der Beschwerde entgegenstehen können.
Der häufigste Einwand geht dahin, es sei unerträglich und mit den Zielen des Patenterteilungsverfahrens nicht zu vereinbaren, wenn die Kammer in Fällen, in denen die Unhaltbarkeit des erstinstanzlichen Aufrechterhaltungsbeschlusses erkannt worden sei, "sehenden Auges" erleben müsse, daß der fehlerhafte Beschluß infolge der Zurücknahme der Beschwerde Rechtskraft erlange. Dies widerspreche dem Schutz der Öffentlichkeit.
Es fragt sich, ob diese Auffassung nicht Sinn und Wesen des Rechtsmittelverfahrens als einer nur auf Veranlassung und nur im Interesse des Beschwerdeführers in Gang gesetzten richterlichen Überprüfung der angefochtenen Entscheidung verkennt. Macht der durch die Entscheidung beschwerte Verfahrensbeteiligte von seinem Beschwerderecht keinen Gebrauch oder versäumt er die Beschwerdefrist, so bleibt es bei der Entscheidung der ersten Instanz, einerlei, ob sie richtig oder falsch war. Auch die Beschwerdekammern sind nicht gegen falsche Entscheidungen gefeit. Ist es angesichts dieser Umstände wirklich so unerträglich, wenn in einzelnen Fällen auf Grund einer auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhenden Vereinbarung der Beteiligten eines Einspruchsbeschwerdeverfahrens ein Rechtsmittel zurückgenommen und damit das Verfahren beendet wird? Eine fehlerhafte Entscheidung über die Aufrechterhaltung eines Patents oder die Zurückweisung eines Einspruchs kann zwar die gewerblichen Interessen bestimmter Unternehmen berühren, aber wohl kaum die Öffentlichkeit im Sinne der Gesamtheit aller Bürger. Daher erscheint der Gedanke, die Kammern müßten als Hüter höherer Belange der Öffentlichkeit das Beschwerdeverfahren fortsetzen können, nicht ganz der Realität zu entsprechen.
8.4 Dagegen könnte ein weiterer sachlicher, der Beendigung des Verfahrens entgegenstehender Grund der hier vorliegende Fall sein, daß der Patentinhaber sein Patent freiwillig beschränken möchte und sich hieran durch die Rücknahme der Beschwerde gehindert und auf den umständlicheren und kostspieligeren nationalen Weg verwiesen sieht.
Im Hinblick darauf, daß im Europäischen Patentübereinkommen im Gegensatz zum Gemeinschaftspatentübereinkommen kein Beschränkungsverfahren vorgesehen ist, sieht sich der Patentinhaber unter Umständen mit einem Patent konfrontiert, das in der geltenden Fassung nicht mehr bestandsfähig ist und aus dem er deshalb nicht gegen einen Verletzer vorgehen kann. Es hat den Anschein, daß dieses Problem von vordringlicher Bedeutung ist.
Sollte auf Grund des bestehenden Textes von Übereinkommen und Ausführungsordnung keine befriedigende Lösung gefunden werden, könnte in Erwägung gezogen werden, ob eine Änderung oder Ergänzung der Ausführungsordnung notwendig erscheint.
9. Für den Fall, daß nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer das Beschwerdeverfahren mit Rücknahme der Beschwerde durch den einzigen Beschwerdeführer beendet ist, ergibt sich in einer Vielzahl von Fällen für inter partes-Verfahren, an denen mehrere Einsprechende beteiligt sind, eine weitere Frage, nämlich die, ob das Beschwerdeverfahren auch dann für alle Verfahrensbeteiligten beendet ist, wenn der Einsprechende, der Beschwerdeführer ist, seine Beschwerde zurücknimmt, aber noch weitere Einsprechende, ohne Beschwerdeführer zu sein, am Beschwerdeverfahren beteiligt sind. Dieses Problem stellt sich im vorliegenden Fall allerdings nicht, da nur ein einziger Einsprechender - der Beschwerdeführer - am Verfahren beteiligt ist. Die Kammer wollte lediglich hierauf hingewiesen haben.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Die Große Beschwerdekammer wird mit folgenden Rechtsfragen befaßt:
1. Wird durch die Rücknahme der Beschwerde eines einzigen Beschwerdeführers, sei es im einseitigen oder zweiseitigen Verfahren, das Beschwerdeverfahren beendet?
2. Wenn die Frage zu 1. verneint wird, ist dann das Beschwerdeverfahren in jedem Fall durch eine Entscheidung der Beschwerdekammer gemäß Regel 66 (2) EPÜ zu beenden?