T 0096/92 (Verschlechterungsverbot) 05-10-1992
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Es wird der Großen Beschwerdekammer die folgende, zweiteilige Rechtsfrage vorgelegt:
A. Darf die Beschwerdekammer die angefochtene Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdeführers abändern;
B. wenn ja, in welchem Umfang?
I. Betr.: Verbindung der Sache T 60/91 mit der Sache T 96/92
Gemäß den bei den Akten liegenden Telefonnotizen wurde am 29. bzw. 30. September 1992 telefonisch die Zustimmung der Vertreter aller an den beiden gleichzeitig vor der Kammer anhängigen Verfahren T 60/91 und T 96/92 beteiligten Parteien zur Verbindung/Konsolidierung für die Vorlage einer identischen Rechtsfrage an die Große Beschwerdekammer gemäß Artikel 9 (2) VOBK eingeholt. Alle Beteiligten haben ihre Zustimmung erteilt.
II. Betr.: T 60/91
a) In ihrer am 7. Dezember 1990 mündlich verkündeten Zwischenentscheidung, deren schriftliche Ausfertigung vom 25. Januar 1991 datiert, hat die Einspruchsabteilung das Patent 0 226 706 der Firma Bayerische Motoren Werke AG, W-8000 München 40 (DE), gemäß deren Hilfsantrag in geändertem Umfang aufrechterhalten. Der Hauptantrag wurde wegen Fehlens erfinderischer Tätigkeit zurückgewiesen.
Der auf ein Verfahren gerichtete Anspruch 1 gemäß Hauptantrag unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung darin, daß eine Begrenzung des Anwendungsgebiets erfolgte und zwei verfahrensspezifische Merkmale hinzugefügt wurden, d. h. der Schutzbereich dadurch eingeschränkt wurde.
Der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag ist demgegenüber durch die Aufnahme eines weiteren strukturellen Merkmals und eines weiteren verfahrensspezifischen Merkmals zusätzlich eingeschränkt.
b) Mit Schreiben vom 17. Dezember 1990, eingegangen am 21. Dezember 1990, hat die Patentinhaberin (im folgenden auch "Patentinhaberin I" und "Beschwerdeführerin I" genannt) gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt und diese mit Schreiben vom 27. Februar 1991, eingegangen am 7. März 1991, begründet.
c) Die Beschwerdegegnerin und Einsprechende (im folgenden auch "Beschwerdegegnerin I" genannt), die selbst keine Beschwerde eingelegt hatte, hat darauf mit Schreiben vom 1. Juli 1991, eingegangen am 2. Juli 1991, erwidert und die Patentwürdigkeit der Fassung gemäß Hilfsantrag, u. a. gestützt auf neueingereichte Dokumente, bestritten.
d) Der Beschwerdeantrag lautet auf Aufrechterhaltung des Patentes gemäß dem im Einspruchsverfahren gestellten und zurückgewiesenen Hauptantrag.
Der Gegenantrag der Beschwerdegegnerin lautet auf Widerruf des Patents.
III. Betr.: T 96/92
a) In ihrer Zwischenentscheidung vom 3. Dezember 1991 hat die Einspruchsabteilung das Patent 0 146 454 der Firma Sté. Look Société Anonyme, in F-58004 Nevers, gemäß deren Hilfsantrag in geändertem Umfang aufrechterhalten. Der Hauptantrag, lautend auf Bestätigung des Patents in der erteilten Fassung, wurde wegen Fehlens erfinderischer Tätigkeit zurückgewiesen. Der Schutzbereich des Hilfsantrags erweist sich zufolge der Aufnahme weiterer Merkmale in alle drei unabhängigen Ansprüche als gegenüber dem Hauptantrag eingeschränkt.
b) Mit Schreiben vom 30. Januar 1992, eingegangen am gleichen Tage, hat der Einsprechende OI (im folgenden auch "Beschwerdeführer II" genannt) Beschwerde eingelegt und diese mit Schreiben vom 2. April 1992, mit Eingang beim EPA vom gleichen Tage, im wesentlichen mit der Geltendmachung mangelnder erfinderischer Tätigkeit begründet.
Die vormaligen Einsprechenden OII haben ihren Einspruch schon vor der Vorinstanz zurückgenommen und sind aus dem Verfahren ausgeschieden.
c) Die Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin (im folgenden auch "Patentinhaberin II" bzw. "Beschwerdegegnerin II" genannt), die selbst keine Beschwerde eingelegt hatte, hat darauf mit Schriftsatz vom 20. August 1992, mit Eingang beim EPA vom gleichen Tag, unter Verteidigung des Vorliegens erfinderischer Tätigkeit erwidert.
d) Der Beschwerdeantrag lautet auf Widerruf des Patents. Der Gegenantrag der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) lautet auf Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung; hilfsweise Aufrechterhaltung in der Fassung der Einspruchsentscheidung.
1. Da die beiden Sachen T 60/91 und T 96/92 nach Auffassung der Kammer das gleiche Rechtsproblem betreffen und sich daher bei beiden die gleiche Rechtsfrage stellt (siehe auch Punkt 12), hält die Kammer es für gerechtfertigt, die beiden Fälle zum Zwecke der Vorlage dieser Rechtsfrage an die Große Beschwerdekammer zu verbinden. Da alle beteiligten Parteien dazu ihre Zustimmung erteilt haben, sind die Voraussetzungen von Artikel 9 (2) VOBK erfüllt. Die an die Beantwortung der Rechtsfrage durch die Große Beschwerdekammer anschließende materielle Behandlung der Fälle hat erneut getrennt zu erfolgen.
2. Nach Artikel 112 (1) EPÜ befaßt eine Beschwerdekammer zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, die Große Beschwerdekammer, wenn sie deren Entscheidung für erforderlich hält.
Die hier vorlegende Kammer 3.2.1 hält eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zu der Frage für erforderlich, ob sie (die vorlegende Kammer) in den vor ihr anhängigen Beschwerdeverfahren über den Antrag der Beschwerdeführerin I bzw. über den Antrag des Beschwerdeführers II zu deren bzw. zu dessen Nachteil hinausgehen darf.
3. Im vorliegenden Fall hat die Einspruchsabteilung das Patent in beiden Fällen in geändertem Umfang, nämlich gemäß dem Hilfsantrag der jeweiligen Patentinhaberin, aufrechterhalten. Das Patentbegehren gemäß Hauptantrag wurde jeweils als nicht erfinderisch beurteilt.
4. Die Patentinhaberin I hat in der Sache T 60/91 mit zulässiger Beschwerde die Aufrechterhaltung des Patentes in der Fassung gemäß dem zurückgewiesenen Hauptantrag beantragt. Dessen Schutzbereich ist im oben gezeigten Sinne weiter als die Fassung gemäß Hilfsantrag.
Die Einsprechende und Beschwerdegegnerin I hat dagegen den Widerruf des Patents beantragt.
Im hiermit vereinigten Parallelfall T 96/92 dagegen hat der vormalige Einsprechende zulässige Beschwerde mit dem Antrag auf Widerruf des Patents erhoben und die Patentinhaberin II hat darauf mit dem Antrag auf Aufrechterhaltung in der erteilten Fassung erwidert.
5. Die Beschwerdegegnerinnen I und II wären jeweils selbst beschwerdeberechtigt gewesen, da ihr Antrag im Einspruchsverfahren auf Widerruf des Patents (T 60/91) bzw. auf Aufrechterhaltung gemäß erteilter Fassung (T 96/92) lautete. Sie haben jedoch keine Beschwerde erhoben.
6. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die Beschwerdekammer nur berechtigt ist, die Rechtsbeständigkeit der angefochtenen Entscheidung in dem vom Beschwerdeantrag angefochtenen Umfang zu überprüfen, oder ob es ihr auch zukommt, die angefochtene Entscheidung in dem nicht von der Beschwerde, sondern vom nicht beschwerdeführenden Gegner beantragten Sinne zu korrigieren. Das könnte vorliegendenfalls darin resultieren, daß die beschwerdeführende Partei gewärtigen müßte, daß nicht allein die Beschwerde unter Bestätigung der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen würde, sondern daß diese zudem zu ihrem Nachteil abgeändert würde. Die beschwerdeführende Partei würde damit das vor der Vorinstanz erzielte Resultat verlieren, ohne daß die Beschwerdegegnerin selbst (fristgebunden, kosten- und schriftsatzpflichtig) beschwerdeführend tätig geworden ist. Es fragt sich, ob dies nach dem EPÜ gerechtfertigt ist.
7. Soweit die Regeln eines Beschwerdeverfahrens ein Hinausgehen über die Anträge der beschwerdeführenden Partei zu deren Nachteil verbieten, spricht man, zumindest im deutschsprachigen Rechtskreis, vom sog. "Verschlechterungsverbot" oder vom Verbot einer "reformatio in peius" (vgl. u. a. Fasching H.W., Lehrbuch des österr. Zivilprozeßrechts, 2. A., Wien 1990, RN 1746, Walder H.-U., Zivilprozeßrecht, 3. A., Zürich 1983, § 39 Rz 18).
8. Nach Auffassung der Kammer findet sich im europäischen Patentübereinkommen keine eindeutige Regelung der gestellten Frage, d. h. keine Erwähnung eines Verschlechterungsverbots.
Soweit dieses Übereinkommen Vorschriften über das Verfahren nicht enthält, berücksichtigt das europäische Patentamt die in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts (Art. 125 EPÜ).
Ein nicht vollständiger Blick in das Recht der Vertragsstaaten zeigt folgendes:
Im Beschwerdeverfahren nach deutschem Patentrecht gilt das Verschlechterungsverbot. Da das deutsche Patentgesetz dazu keine Regel enthält und in einem solchen Falle auf die Regeln der Zivilprozeßordnung verweist (§ 99 PatG), stützt sich dessen Anwendung auf § 308, 536, 559 ZPO. Es gilt nicht, wo das Patentgericht auch ohne Antrag entscheiden kann, wie bei Kostenfragen (vgl. Benkard, Patentgesetz, 8. A., München 1988, RN 9, 10 zu § 79 PatG, Schulte, Patentgesetz, 4. A., Köln 1987, RN 1 zu § 79 PatG).
Im französischen Beschwerdeverfahren, welches hierin ebenso zivilprozessualen Regeln folgt, gilt nur bedingt Vergleichbares, wobei dort auf den "effet dévolutif" (Devolutivwirkung) Bezug genommen wird (vgl. Mathély, Le nouveau droit français des brevets d'invention, 1991, S. 556/557, 567; NCPC 562 al. 1 und Vincent/Guichard, Procédure Civile, XXI.A., 1987, N. 947 ff., S. 790 ff.).
Das Beschwerdeverfahren nach schweizerischem Patentrecht folgt diesbezüglich den Normen des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Nach Artikel 62 VwVG ist eine "Verschlechterung" möglich, jedoch nur in einer beschränkten Zahl von Fällen. Hat die Beschwerdekammer die Absicht, eine Abänderung der angefochtenen Entscheidung zuungunsten des Beschwerdeführers vorzunehmen, so muß sie ihm dies vorab mitteilen (Art. 62 Abs.3 VwVG). Er hat dann stets die Möglichkeit, seine Beschwerde zurückzuziehen, was das Verfahren beendet. Das führt zu einer faktischen Geltung des Verschlechterungsverbots. Es gilt dann nicht, wenn die Amtsmaxime Anwendung findet, nämlich bezüglich der Kosten- bzw. Parteientschädigungsfrage. (vgl. Saladin P., Das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, Basel 1979, S. 105/6).
Allein diese Beispiele zeigen schon, daß die Frage der Bindung der Beschwerdeinstanz an die Beschwerdeanträge in den Vertragsstaaten unterschiedlich beantwortet wird bzw. sich aus Rechtsquellen verschiedener Art herleitet.
9. Unter dem Aspekt einer rechtsystematischen Betrachtung des Regelwerks des EPÜ sind u. a. folgende Anhaltspunkte zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage zu nennen:
9.1 Abwesenheit einer Bestimmung betreffend eine Anschlußbeschwerde im EPÜ
Eine Anschlußbeschwerde im eigentlichen Sinne liegt vor, wenn dem Beschwerdebeklagten eine Frist eingeräumt ist, nach Erhebung der Beschwerde bzw. nach Ablauf der Beschwerdefrist seinerseits eine förmliche Beschwerde einzureichen. Das EPÜ enthält kein solches Rechtsinstitut. Sind mehrere Parteien durch eine Entscheidung beschwert, so haben sie je einzeln das Recht und die Pflicht, eine Beschwerde einzureichen, falls sie eine Änderung der fraglichen Entscheidung begehren.
9.2 Rechtskraft
Eine Entscheidung erwächst in Rechtskraft, sofern sie nicht rechtzeitig, d. h. innerhalb der gegebenen Rechtsmittelfrist, angefochten wird. Wären im EPÜ außerordentliche Rechtsmittel vorgesehen, so könnte dieser Grundsatz eine Ausnahme erfahren. Dies trifft jedoch nicht zu.
Die Entscheidung erwächst dabei insoweit in Rechtskraft, als sie nicht angefochten wird. Damit ist der Rahmen der Überprüfungs- und Korrekturmöglichkeit der Rechtsmittelinstanz in der Regel definiert. Es ist zudem zu erwägen, ob die nicht beschwerdeführende Partei durch ihre Untätigkeit nicht objektiv zu erkennen gibt, daß sie die Entscheidung anerkennt.
Wird Beschwerde erhoben und erweist sie sich als ganz oder teilweise begründet, so ist die angefochtene Entscheidung ganz oder teilweise entsprechend den Beschwerdeanträgen zu korrigieren. Etwas anderes kann gelten, wenn die Beschwerdeinstanz die Amtsmaxime/Offizialmaxime anzuwenden hat. Dann kann sie gegebenenfalls über die Rechtsmittelanträge hinausgehen. Die Offizialmaxime ist im EPÜ dann vorgesehen, wenn im Verfahren öffentliche Interessen zu berücksichtigen sind. Sie steht im Gegensatz zum Antragsprinzip und zur Dispositionsmaxime, welche Ausdruck der Privatautonomie bzw. der freien Verfügbarkeit über private Rechte und Interessen sind.
9.3 Antragsprinzip und Dispositionsmaxime
Die Beschwerdekammer wird nicht von sich aus, sondern nur auf Antrag des Rechtsmittelklägers, d. h. im vorliegenden Fall der jeweiligen beschwerdeführenden Partei tätig, die über ihr Recht bzw. über ihr Rechtsmittel verfügt.
Parteiinteressen lösen ein Verfahren vor dem EPA aus, bzw. sie bilden die Voraussetzung dazu. Sie finden verfahrensrechtlich ihren vielfältigen Niederschlag im EPÜ, u. a. in Artikeln 58, 94, 99, 106 und 113 (2) sowie Regel 51 (4), welche die Verwirklichung des Antragsprinzips und der Dispositionsmaxime im EPÜ darstellen.
9.4 Amtsmaxime
Die Berücksichtigung öffentlicher Interessen, d. h. Tätigwerden von Amts wegen, ist der Beschwerdekammer nach Artikel 114 (1) EPÜ zwecks Aufklärung des Sachverhalts (Untersuchungsmaxime) aufgegeben. Es ist dort ausdrücklich von einer Nicht-Bindung an die Anträge der Beteiligten die Rede. Es trifft zweifellos zu, daß diese Aussage für die Beweisanträge gilt. Es kann sich jedoch etwa angesichts des daraus herleitbaren Rechts der Parteien, noch im Beschwerdeverfahren neue Tatsachen und Beweismittel einzuführen, die Frage stellen, ob dies auch für den Beschwerdeantrag, d. h. den materiellen Antrag zum Bestand und Umfang des Schutzrechts selbst gilt. Diese Frage steht im Zusammenhang mit derjenigen Problematik, die derzeit bei der Großen Beschwerdekammer in den Verfahren G 7/91, G 8/91, G 9/91, G 10/91 anhängig ist, worauf verwiesen wird.
Eine weitere Norm, welche ein Handeln des EPA von Amts wegen verlangt, findet sich in Regel 60 (2) letzter Satz, welche aufgrund des Artikels 111 (1), Satz 2 bzw. von Regel 66 (1) EPÜ auch für die Beschwerde gelten kann (vgl. auch hierzu die bei der GBK anhängigen Verfahren G 7/91, G 8/91 ). Die Vertragsstaaten haben mit dieser Norm eine "Kann"-Vorschrift erlassen und legen damit den Ausgleich zwischen öffentlichen und privaten Interessen in das Ermessen der Organe des EPA. Letztere sind verpflichtet, dieses auszuüben und das Maß der Ausübung aus Gründen der Rechtssicherheit in ihrer Praxis festzulegen.
Schließlich ist festzuhalten, daß hinsichtlich der Verteilung von Verfahrenskosten und hinsichtlich der Rückzahlung der Beschwerdegebühr gemäß Artikel 104 (1) bzw. Regel 67 EPÜ keine Parteianträge vorausgesetzt werden.
9.5 Andere Beschränkungen der Dispositionsmaxime
Die Dispositionsmaxime wird nicht nur durch jene Normen beschränkt, welche die Amtsmaxime statuieren, sondern auch durch Normen wie etwa Artikel 94 (2) EPÜ letzter Satz, wo das Verfügungsrecht des Anmelders über seine Anmeldung und die damit verbundenen Rechte insoweit eingeschränkt ist, als die Rücknahme des Prüfungsantrags ausgeschlossen wird.
Auch die übrigen Normen des EPÜ, wie etwa Artikel 99 ff. zum Einspruch und Artikel 115 betr. Einwendungen Dritter, welche auf die Berücksichtigung öffentlicher Interessen angelegt sind, stellen institutionelle Beschränkungen der Dispositionsfreiheit, namentlich des Anmelders bzw. des Patentinhabers dar. Es fragt sich, ob und inwieweit daraus Rückschlüsse auf die verfahrensrechtliche Position der Parteien im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren zu ziehen sind.
10. Die frühere Praxis der Kammern
In den Entscheidungen T 565/88, T 556/89 und T 24/88 hielten Beschwerdekammern gegen den Antrag des Beschwerdeführers und vormaligen Einsprechenden das Patent im erteilten Umfang aufrecht, doch erwies sich die von der Einspruchsabteilung dort gutgeheißene, geänderte Fassung als lediglich überflüssigerweise, ohne inhaltliche Konsequenz, geändert.
In der Entscheidung T 369/91 vom 15. Mai 1992 der Kammer 3.3.1 wurde ausdrücklich festgehalten, bei einer Beschwerde des Einsprechenden gegen die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang entsprechend dem Hilfsantrag des Patentinhabers im Einspruchsverfahren, mit dem Antrag auf Widerruf desselben, sei der Patentinhaber mit einem Gegenantrag auf Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung ausgeschlossen, da der Beschwerdeantrag den Gegenstand des Beschwerdeverfahrens bestimme.
Die Entscheidung T 576/89 vom 29. April 1992 der Kammer 3.3.3 betraf ebenfalls eine Beschwerde des Einsprechenden gegen eine sog. Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, welche ein Patent im geänderten (reduzierten) Umfang aufrechterhielt. Der Beschwerdeantrag lautete auf Widerruf des Patents. Der Gegenantrag des Patentinhabers verlangte Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung. Dieser wurde unter Hinweis auf Artikel 114 (1) EPÜ zugelassen.
Letztere Entscheidung bestätigt das schon in der Entscheidung T 123/85, ABl. EPA 1989, 336, Punkt 3.1.1 Gesagte, wobei dort ein Zurückgehen auf die erteilte Fassung an die Bedingung geknüpft wurde, daß darin kein verfahrensrechtlicher Mißbrauch vorliege. Wann ein solcher darin zu erblicken ist, wurde nicht gesagt.
Die Entscheidungen T 123/85 und T 576/89 stehen somit im Widerspruch zu T 369/91.
11. Angesichts dessen sind die beiden Voraussetzungen für eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ erfüllt. Die aufgeworfene Frage ist eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, da dadurch die Rechte der Parteien sowie die Kompetenzen der Beschwerdekammern betroffen sind. Angesichts der einander widersprechenden Entscheidungen in der bisherigen Praxis geht es dabei auch um die Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung.
12. Die unten gestellte Frage erfaßt zwei Fälle. Beide betreffen die Beschwerde gegen eine Entscheidung der Einspruchsabteilung auf Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang. Beide betreffen zudem den Fall, bei dem nur eine Beschwerde vorliegt, bei dem also der Beschwerdegegner nicht mit einer eigenen, selbständigen Beschwerde geantwortet hat. In einem Fall (T 60/91) ist der Patentinhaber Beschwerdeführer, und es stellt sich die Frage, ob die angefochtene Entscheidung zum Nachteil des Patentinhabers abgeändert werden kann. Im anderen Fall (T 96/92), in dem der Einsprechende Beschwerdeführer ist, stellt sich die Frage, ob die Entscheidung zum Nachteil des Einsprechenden abgeändert werden darf. Da die beiden genannten Beschwerdesachen gerade diese beiden komplementären Fallvarianten zeigen und sich in beiden Fällen die gleiche Rechtsfrage stellt, werden sie gemeinsam vorgelegt (siehe dazu oben Punkt 1).
Die Frage hängt schließlich eng mit jener anderen zusammen, ob die Beschwerdekammer auch zugunsten eines Beschwerdeführers über dessen Beschwerdeanträge hinausgehen darf oder ob nicht auch dann die Dispositionsmaxime gilt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Verfahren T 60/91 und T 96/92 werden zum Zwecke der Vorlage einer Rechtsfrage an die Große Beschwerdekammer unter gemeinsamer Nennung ihrer beiden Aktenzeichen (T 60/91; T 96/92) verbunden.
2. Es wird der Großen Beschwerdekammer die folgende, zweiteilige Rechtsfrage vorgelegt:
A. Darf die Beschwerdekammer die angefochtene Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdeführers abändern;
B. wenn ja, in welchem Umfang?