T 0050/95 25-02-1998
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Faltbarer Rollstuhl
Neuheit - neuer Einspruchsgrund (nicht eingeführt)
Ausführbarkeit der Offenbarung (nicht substantiiert)
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Beitritt der vermeintlichen Patentverletzerin
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat gegen die am 6. Dezember 1994 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das Patent Nr. 347 492 die am 12. Januar 1995 eingegangene Beschwerde eingelegt und gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung ist am 7. April 1995 eingegangen.
II. Mit dem Einspruch war das Patent mit der Begründung angegriffen worden, daß der Gegenstand des erteilten Patents nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Die Einspruchsabteilung war zur Auffassung gekommen, daß der genannte Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegenstünde.
Folgende Druckschriften waren für die Entscheidung von Bedeutung:
(1) DE-U-8 614 849
(2) DE-U-7 332 994
III. Mit dem am 25. November 1997 eingegangenen Schriftsatz erklärte die Firma Karl Dietz Rehabilitations-Technik, Karlsbad-Ittersbach, gemäß Artikel 105 EPÜ ihren Beitritt zum Verfahren und entrichtete die Einspruchsgebühr.
Die Beitretende brachte vor, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 des erteilten Patents im Hinblick auf den aus den Druckschriften:
(6) DE-U-78 29 713
(7) DE-U-87 05 386
bekannten Stand der Technik nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
IV. Der Anspruch 1 lautet wie folgt:
"Faltbarer Rollstuhl mit zwei seitlichen Rahmen (10a, 10b), welche die Antriebs- und Laufräder (14a, 14b; 16a, 16b) tragen und miteinander durch zwei in Ebenen quer zur Fahrtrichtung liegende, gekreuzte Streben (24a, 24b) verbunden sind, die im Kreuzungspunkt drehbar verbunden und um ihre Drehachse (26) scherenartig bewegbar sind, wobei die Streben (24a, 24b) an den unteren Enden an den Rahmen (10a, 10b) angelenkt sind und an den oberen Enden in Fahrtrichtung liegende Sitzrohre (28a, 28b) eines Sitzes (B2) tragen, die bei entfaltetem Rollstuhl auf an den Rahmen (10a, 10b) vorgesehene Einrastteile (30a, 30b) zu liegen kommen, und wobei jede Strebe (24a, 24b) oberhalb des Kreuzungspunktes durch eine Drehlasche (40a, 40b) mit dem benachbarten Rahmen (10a, 10b) gelenkig verbunden ist, dadurch gekennzeichnet, daß die Einrastteile (30a, 30b), die an den über eine Rückenlehne (B1) verbundenen Rahmen (10a, 10b) befestigt sind, durch die beim Entfalten einschnappenden Sitzrohre (28a, 28b) elastisch verformbare Aufnahmestücke aufweisen."
V. In der Anlage zur mündlichen Verhandlung wurden die Beteiligten außer auf die zu erörternde Frage, ob der Gegenstand des erteilten Patents auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, auch auf die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 7/95 (ABl. EPA 1996, 626) wegen des von der Beschwerdeführerin erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Einwands der mangelnden Neuheit hingewiesen.
VI. Eine mündliche Verhandlung fand am 25. Februar 1998 statt. In deren Verlauf wurde von der Beitretenden ein Blatt der Druckschrift "Konstruktionselemente der Feinmechanik" von Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Krause -Stichwort: 4.3.9 Einspreizverbindungen - überreicht.
1. Die Beschwerdeführerin und die Beitretende beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Anträge der Beschwerdeführerin und der Beitretenden zurückzuweisen.
2. Das Wesentliche des Vorbringens der Beteiligten kann wie folgt zusammengefaßt werden:
Beschwerdeführerin
Die Druckschrift (1) betrifft einen faltbaren Rollstuhl, der eine Getriebekonfiguration aufweist, die mit der des Gegenstands des Patents identisch ist und daher den gleichen Bewegungsabläufen unterliegt, wie sie beim beanspruchten Gegenstand erfolgen.
Das zeigt eindeutig ein Vergleich des in den Figuren 1 und 2 der Druckschrift (1) dargestellten Ausführungsbeispiels mit dem in den Figuren 4 und 5 der Patentschrift abgebildeten Ausführungsbeispiel des Gegenstands des Anspruchs 1. Denn aufgrund der identischen Getriebekonfiguration erfährt auch bei dem bekannten Rollstuhl während des Entfaltens der jeweils innere Zinken der gabelförmigen Aufnahmestücke 1c, 2c infolge der Bewegungsbahn der Sitzrohre 1a, 2a, die der in der Figur 5 der Patentschrift dargestellten entspricht, eine kurzfristige Auslenkung, so daß eine Schnappwirkung unvermeidlich ist. Es liegt das gleiche Einschnappverhalten vor, wie das auch der Figur 4 der Patentschrift zu entnehmen und Gegenstand des Anspruchs 1 des erteilten Patents ist.
Zwar ist in der Druckschrift (1) nicht expressis verbis erwähnt, daß die Aufnahmestücke 1c, 2c beim bekannten Rollstuhl elastisch verformbar seien. Jedoch ist aus den Figuren 1 und 2 deutlich zu ersehen, daß sich die Zinken der gabelförmig ausgebildeten Aufnahmestücke 1c, 2c zu ihren Enden hin verjüngen, was zwangsläufig zu einer elastischen Verformbarkeit entsprechend der Lehre des angefochtenen Patents führt. Das Merkmal, daß die Rahmen über eine Rückenlehne verbunden sind, ist auch implizit offenbart. Damit besteht auch hierin eine Identität zwischen dem Bekannten und der Erfindung. Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist daher nicht neu.
Beitretende
Die Druckschrift (1) beschreibt und zeigt, insbesondere die Seite 7, Absatz 2 und die Figuren 1 und 2, einen faltbaren Rollstuhl mit den Merkmalen gemäß dem Oberbegriff des Anspruchs 1 des erteilten Patents. Die vermeintliche Erfindung besteht gemäß dem kennzeichnenden Teil in der besonderen Einschnappverbindung, um die Sitzrohre mit den seitlichen Rahmen zu verbinden. Grundsätzlich ist es dem Fachmann bekannt, daß bei Einspreizverbindungen ein Element elastisch verformbar sein muß, wie der in der mündlichen Verhandlung überreichten Druckschrift zu entnehmen ist.
Zur Lösung der in der Patentschrift des angefochtenen Patents genannten Aufgabe - daß die gekreuzten Streben, die mit den Sitzrohen verbunden sind, fest und spielfrei beim auseinandergeklappten Rollstuhl mit dem Rahmen verbunden werden können - liegt es nahe, die der Druckschrift (6) oder (7) entnehmbare Lehre mit der Lehre der Druckschrift (1) zu kombinieren.
Aus den Druckschriften (6) und (7), die aus der auch in der Klasse A61G zu berücksichtigenden Klasse A47C stammen, ist es nämlich bekannt, ein klappbares Sitzmöbel, insbesondere eine Sitzplatte im auseinandergeklappten, d. h. im Gebrauchszustand mittels elastischer Einsatzkörper zu fixieren, so daß eine Verbesserung der Stabilität gegeben ist und gleichzeitig ein Anheben des Sitzmöbels, auch an der Sitzplatte, erfolgen kann, ohne daß dieses Sitzmöbel zusammenklappt.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des angefochtenen Patents beruht daher nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Zudem offenbart das Patent nicht die Ausführbarkeit der Erfindung.
Beschwerdegegnerin
Das Einverständnis, den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Einwand der mangelnden Neuheit in das Beschwerdeverfahren einzuführen, wird nicht gegeben.
Die Ansicht der Beschwerdeführerin hinsichtlich des aus der Druckschrift (1) bekannten Stands der Technik stellt eine rückschauende Betrachtungsweise dar, die z. B. nach der Entscheidung T 1041/93 (nicht veröffentlicht) nicht zulässig ist. Das vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß der Schwerpunkt dieser Druckschrift in der Ausbildung des Kreuzungspunkts der Kreuzstreben liegt, um die Stabilität des bekannten faltbaren Rollstuhls zu verbessern. Eine Schnappverbindung im Sinne des Anspruchs 1 des erteilten Patents ist nicht in der Druckschrift (1) erwähnt und auch deren Figuren 1 und 2 nicht zu entnehmen. Die Druckschriften D2, D6 und D7 betreffen einen gattungsfremden Stand der Technik, den der Fachmann nicht in Betracht zieht, wie es z. B. in den (nicht veröffentlichten) Entscheidungen T 549/92 und T 781/93 dargelegt ist.
1. Zulässigkeit der Beschwerde und des Beitritts
Die Beschwerde ist zulässig.
Der vom vermeintlichen Patentverletzer während des Beschwerdeverfahrens erklärte Beitritt erfüllt die Voraussetzungen des Artikels 105 EPÜ und ist daher zulässig (siehe Entscheidung G 1/94, ABl. EPA 1994, 787).
2. Neuer Einspruchsgrund
2.1. Die Beschwerdeführerin hatte ihren Einspruch mit mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber der im Einspruchsschriftsatz angegebenen Druckschrift (1), die den nächstkommenden Stand der Technik bildet, substantiiert.
Im Beschwerdeverfahren erhob die Beschwerdeführerin erstmals den Einwand, daß die beanspruchte Erfindung gegenüber diesem nächstkommenden Stand der Technik nicht neu sei. Nach der Entscheidung G 7/95 kann dieser neuer Einspruchsgrund nicht ohne das Einverständnis der Beschwerdegegnerin in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden.
Da die Beschwerdegegnerin ihr Einverständnis nicht gegeben hat, wird der neue Einspruchsgrund nicht in das Beschwerdeverfahren eingeführt.
2.2. Gegenüber den aus den Druckschriften D6 und D7 bekannten Stand der Technik ist der Gegenstand des Anspruchs 1 des erteilten Patents neu. Der Einwand mangelnder Neuheit ist im übrigen von der Beitretenden nicht erhoben worden.
3. Erfinderische Tätigkeit
3.1. Von dem aus der Druckschrift (1) bekannten Stand der Technik ausgehend, ist es Aufgabe der Erfindung, diesen faltbaren Rollstuhl so auszubilden, daß sich auf einfache Weise im entfalteten Zustand die gekreuzten Streben fest und spielfrei mit den zwei seitlichen Rahmen verbinden lassen, so daß dann der Rollstuhl in sich völlig stabil ist. Diese Aufgabe wird durch die im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 des erteilten Patents gelöst (siehe auch Patentschrift, Spalte 2, Zeilen 9 bis 42).
3.2. Auch der Rollstuhl nach der Druckschrift (1) soll so ausgebildet werden, daß er zwar zusammenklappbar, aber nahezu so stabil wie ein starrer Rollstuhl ist. Bei der Lösung dieser Aufgabe wird jedoch von der Erkenntnis ausgegangen, daß Maßnahmen zur Versteifung eines zusammenklappbaren Rollstuhls besonders wirkungsvoll sind, wenn sie auf den Kreuzungspunkt der beiden Kreuzstreben abzielen. Zu diesem Zweck wird an dem Kreuzungspunkt eine präzise Lagerung der Kreuzstreben vorgesehen mit der Besonderheit, daß die Kreuzstreben in Axialrichtung miteinander verspannbar sind. Dadurch ist eine absolute Spielfreiheit gewährleistet. Gleichzeitig bleibt der Rollstuhl leichtgängig zusammen - bzw. auseinanderklappbar (siehe Schutzanspruch 1; Seite 2, Zeile 14 bis Seite 3, Zeile 14; Seite 10, Zeilen 1 bis 15).
Nach der Lehre der Druckschrift (1) wird demnach die Stabilität des Rollstuhls allein durch die Ausbildung des Kreuzungspunkts der Kreuzstreben erzielt, so daß für den Fachmann kein Anlaß besteht, noch nach einer weiteren Lösung der oben genannten Aufgabe, vor allem in Richtung einer Schnappverbindung zwischen Sitzrohre und seitlichen Rahmen zu suchen. Dies um so mehr, als hinsichtlich der an den seitlichen Rahmen vorgesehenen Einrastteile der Beschreibung des bekannten Rollstuhls nur zu entnehmen ist, daß diese Einrastteile gabelähnliche Aufnahmen sind und die Sitzrohre in diesen Aufnahmen eine gewisse Fixierung in Querrichtung erhalten (siehe Seite 7, Zeilen 11 bis 17; Seite 11, Zeile 21 bis Seite 12, Zeile 1). Nach der Entscheidung T 1041/98 kann es außerdem nicht als naheliegend angesehen werden, das Wesentliche des bekannten Rollstuhls nicht zu berücksichtigen und nur die Merkmale in Betracht zu ziehen, die für einen Vergleich mit dem Gegenstand des erteilten Patents nötig erscheinen. Analog zu dieser Entscheidung lehnt daher die Beschwerdekammer ein solches Vorgehen als rückschauende Betrachtungsweise ab.
3.3. In den Druckschriften (2), (6) und (7) werden zwar Verbindungsvorrichtungen zum festen und spielfreien Verbinden von Teilen beschrieben, die auf dem Prinzip von Schnappverbindungen, wie sie in der von der Beitretenden überreichten Druckschrift definiert sind, beruhen. Aber da die Druckschrift (1) keinen Anlaß dazu gibt, die Einrastteile als elastisch verformbare Aufnahmestücke auszubilden, ist es auch nicht naheliegend, daß der Fachmann gerade die Druckschriften (2), (6) und (7) hinzuzieht und ohne eine rückschauende Betrachtungsweise von der in der Druckschrift (1) offenbarten Lehre zur Verbesserung der Stabilität eines faltbaren Rollstuhls - axiale Verspannung der Kreuzstreben - abgeht und diese Lehre durch eine auf einem ganz anderen Prinzip beruhende Lehre ersetzt. Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob der Stand der Technik gemäß den Druckschriften (2), (6) und (7) aus zu berücksichtigenden Nachbargebieten bzw. gattungsfremden Gebieten stammt oder nicht.
3.3. Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.
3.4. Was den Einwand der Beitretenden hinsichtlich des Artikels 100 (b) EPÜ betrifft, so hatte sie in ihrem Einspruchsschriftsatz diesen Einspruchsgrund nur angekreuzt, ihn jedoch weder in der schriftlichen Begründung noch während der mündlichen Verhandlung substantiiert. Ganz abgesehen davon, offenbart das Patent die Erfindung - die Einrastteile als elastisch verformbare Aufnahmestücke auszubilden - so deutlich und vollständig, daß der Fachmann sie ausführen kann.
4. Das Patent kann daher in der erteilten Fassung aufrechterhalten werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Anträge der Beschwerdeführerin und der Beitretenden werden zurückgewiesen.