3.4. Geheimhaltungsverpflichtung
3.4.12 Medizinisches Gebiet inklusive klinischer Versuche
In T 670/20 wurden klinische Versuche nach den Leitlinien der EMA für Gute Klinische Praxis (GCP), die ausdrücklich die Einhaltung des vorgeschriebenen Protokolls und die Gewährleistung der Bilanzierung der Prüfmedikation fordern, durchgeführt. Bei diesem Versuchsaufbau erklärten sich die an den Versuchen teilnehmenden Patienten nach Aufklärung und Einwilligung bereit, die bereitgestellten Medikamente verschreibungsgemäß einzunehmen oder ungenutzte Medikamente zurückzugeben. Somit entstand zwischen den teilnehmenden Patienten, die die Prüfpräparate erhielten, und den Versuchsleitern eine besondere Beziehung, weshalb die Patienten hinsichtlich der bereitgestellten Tabletten nicht als Mitglieder der Öffentlichkeit, die frei über die Präparate hätten verfügen können, zu betrachten waren.
In T 7/07 hatte ein Dritter unter anderem behauptet, die Hauptansprüche des Patents seien nicht neu gegenüber einer Vorbenutzung, nämlich der Durchführung klinischer Versuche mit Empfängnisverhütungsmitteln, die das im Patent beanspruchte Stoffgemisch enthielten. Die Teilnehmer seien über die Bestandteile informiert worden, hätten aber keine Geheimhaltungsvereinbarung unterzeichnet, und nicht alle nicht verwendeten Arzneimittel seien zurückgegeben worden. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass das Arzneimittel durch die Aushändigung an die Teilnehmer der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei, und befand, dass die Fachperson ohne unzumutbaren Aufwand die Zusammensetzung oder innere Struktur des bei den klinischen Versuchen verwendeten Erzeugnisses erschließen und dieses reproduzieren konnte.
In T 906/01 handelte es sich bei der angeblichen offenkundigen Vorbenutzung um eine Operation, bei der einem Patienten ein Korrektursystem implantiert wurde. Hier bestanden Zweifel, welches I.-Spinalsystem tatsächlich implantiert wurde. Die Kammer befand, dass eine Vorrichtung im Erprobungsstatus, die im begrenzten Rahmen eines Krankenhauses unter der Verantwortung eines Chirurgen implantiert und getestet wird, der auf der Grundlage einer Forschungsvereinbarung mit einer Geheimhaltungsklausel handelt, als Prototyp zu betrachten ist. Die Entwicklungs- und Testphasen solcher Erzeugnisse oder Vorrichtungen unterliegen in der Regel so lange der Geheimhaltung, bis diese abgenommen und auf den Markt gebracht worden sind (s. auch T 818/93). Die Kammer folgte der Entscheidung T 152/03 dahin gehend, dass auf diesem Gebiet die Prima-facie-Annahme besteht, dass an einem medizinischen Verfahren beteiligte Personen aufgrund des Erfordernisses der ärztlichen Schweigepflicht sowie der Notwendigkeit, die Entwicklung und den Test von Prototypen zu schützen, zur Geheimhaltung verpflichtet sind, und dass jeder Nachweis des Gegenteils wichtig und baldmöglichst vorzulegen ist. S. auch T 2395/22.
T 239/16 betraf die öffentliche Verfügbarkeit von Unterlagen zu klinischen Versuchen. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass der Inhalt des Dokuments (55) Personen zugänglich gemacht wurde, die weder an eine Geheimhaltungsvereinbarung gebunden waren noch in einem besonderen Verhältnis zum Sponsor der Studie standen. Das Dokument (55) offenbarte jedoch nicht unmittelbar und eindeutig die wirksame Behandlung von Osteoporose, wie sie in den unabhängigen Ansprüchen des Hauptantrags definiert ist.
Der Verkauf eines Produkts zu kommerziellen Zwecken ist mit dem Konzept einer implizierten Geheimhaltungsverpflichtung nicht vereinbar. Die Kammer in T 505/15 stellte fest, dass T 152/03 und T 906/01 auf eine Prima-facie-Vermutung verwiesen, der zufolge an einem medizinischen Verfahren beteiligte Personen zur Geheimhaltung verpflichtet sind, weil die Notwendigkeit besteht, die ärztliche Schweigepflicht zu wahren und die Entwicklung und das Testen von Prototypen zu schützen. T 505/15 war insofern anders, als die Vorbenutzung in einem kommerziellen Kontext erfolgte; das Produkt war im Zusammenhang mit einer Vermarktung noch vor der Erteilung der Marktzulassung (aber mit behördlicher Sondergenehmigung) ausgeliefert worden, wobei die Ausgabe nicht im Zusammenhang mit einer klinischen Studie stand. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass keine Geheimhaltungsverpflichtung bestand.