9. Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit
9.12. Aufgabenerfindungen
Die Entdeckung einer unerkannten Aufgabe kann unter Umständen zu einem patentierbaren Gegenstand führen, auch wenn die beanspruchte Lösung rückwirkend betrachtet einfach und an sich naheliegend ist (s. T 2/83, ABl. 1984, 265; T 225/84). In einer neuen Aufgabenstellung kann aber dann kein Beitrag zur erfinderischen Qualifikation der Lösung vorliegen, wenn sie von der Durchschnittsfachperson hätte gestellt werden können (T 109/82, ABl. 1984, 473). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass es zu den üblichen Aufgaben der Fachperson gehört, sich ständig zu bemühen, Nachteile zu beseitigen und zu überwinden und Verbesserungen bekannter Vorrichtungen oder Erzeugnisse zu erzielen (s. T 15/81, ABl. 1982, 2; T 195/84, ABl. 1986, 121; T 455/91, ABl. 1995, 684, T 867/13).
In T 532/88 bestätigte die Beschwerdekammer, dass einer Aufgabe, die ausschließlich darin besteht, während einer Routinetätigkeit auftretende Schwierigkeiten zu beseitigen, keine erfinderische Tätigkeit zuerkannt werden kann. In Anlehnung an diese Rechtsprechung befand die Kammer in den Entscheidungen T 630/92, T 798/92, T 578/92, T 610/95, T 805/97, T 1417/05, T 2303/11 und T 437/21, dass das Stellen der Aufgabe dem beanspruchten Gegenstand keinen erfinderischen Charakter verleihen konnte. Hingegen wurde in T 135/94, T 540/93, T 1236/03, T 764/12, T 1201/13 und T 2321/15 das Vorliegen der erfinderischen Tätigkeit (auch) mit dem Umstand begründet, dass die Aufgabenstellung nicht offensichtlich war.
In T 252/10 stellte die Kammer Folgendes fest: Dass es im Stand der Technik keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass der Wunsch nach weiteren Verbesserungen nach wie vor besteht, bedeutet nicht, dass ein bislang unerkanntes Problem entdeckt worden ist (s. auch T 437/21).
In T 971/92 unterstrich die Kammer, dass das Erkennen gewöhnlicher technischer Aufgaben, die der üblichen Tätigkeit der Fachperson zugrunde liegen – wie etwa Mängelbeseitigung, Parameteroptimierung, Energie- und Zeiteinsparung –, nicht erfinderisch sein kann. Das Erkennen einer technischen Aufgabe kann daher nur unter ganz besonderen Umständen zur erfinderischen Tätigkeit beitragen. Will sich ein Anmelder aber dennoch darauf berufen, dass die erfinderische Tätigkeit im Erkennen einer technischen Aufgabe besteht, deren Lösung ja offensichtlich naheliegend ist, so muss zumindest das Erfordernis erfüllt sein, dass die Anmeldung in der eingereichten Fassung die technische Aufgabe deutlich und unmissverständlich offenbart (s. auch T 43/97, T 1417/05).
In T 566/91 bezog sich die Erfindung auf eine weiche Nystatin-Zubereitung in Pastillenform zur Behandlung von Candidose der Mundschleimhaut. Hier ließ die Kammer das Vorbringen der Beschwerdeführer nicht gelten, die dem Streitpatent zugrunde liegende Aufgabe bestehe in dem unerkannten Problem, dass Patienten die vorgesehene Behandlung nur mangelhaft befolgten, da die Durchschnittsfachperson diese Aufgabe hätte stellen können, wenn – wie in der betreffenden Sache – ein Problem zwangsläufig bei der Benutzung eines Gegenstands oder eines Erzeugnisses ans Licht komme. Eine Aufgabe, die lediglich in der Feststellung besteht, dass in einer bestimmten Situation klare Anweisungen offenkundig nicht befolgt werden, nämlich dass Patienten eine Nystatin-Zubereitung wegen des unangenehmen Geschmacks des Wirkstoffes nicht anweisungsgemäß einnehmen, könne nicht als die eigentlich zu lösende Aufgabe betrachtet werden.
In T 764/12 lag der technische Beitrag des Streitpatents in der Identifizierung eines im Stand der Technik bislang unerkannt gebliebenen Problems, nämlich der Notwendigkeit, eine Kaugummigrundlage mit durch die Umwelt abbaubaren Polymeren während der Lagerung unter den herrschenden Umgebungsbedingungen zu schützen. Das Argument des Beschwerdeführers war, die beanspruchte Erfindung sei nicht erfinderisch, weil allgemein bekannt sei, dass eine Beschichtung den allmählich fortschreitenden Abbauprozess verringere, nicht relevant. Unter Verweis auf T 2/83 (ABl. 1984, 265) sah die Kammer eine erfinderische Tätigkeit als gegeben an, weil das Erkennen der Aufgabe als Hauptbeitrag zum erfinderischen Charakter der beanspruchten Lösung anzusehen war.
In T 703/18 hielt die Kammer fest, dass ein Grund für die Seltenheit von "Aufgabenerfindungen" darin liegen könnte, dass sie dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz in gewisser Weise zuwiderlaufen. Es ist allgemein anerkannt, dass die Formulierung der technischen Aufgabe keine Hinweise auf die Lösung enthalten oder die Lösung teilweise vorwegnehmen soll. Im Gegensatz dazu neigen "Aufgabenerfindungen" dazu, beides zu tun. Wurde ein beanspruchter Gegenstand als "Aufgabenerfindung" bewertet, so kann sich ein erfolgreicher Angriff wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit nur gegen die Erkennung der Aufgabe richten, nicht aber gegen die beanspruchte Lösung. Gleichzeitig wurde in T 2/83 zu "Aufgabenerfindungen" klargestellt, dass im Rahmen einer eindeutig angestrebten Verbesserung Nebenwirkungen, die als Lösung einer noch unbekannten Aufgabe interpretiert werden könnten, für die Patentierbarkeit nicht entscheidend sein sollen.