6. Ausführbarkeit
6.5. Durchgriffsansprüche
In T 1063/06 (ABl. 2009, 516) befand die Kammer, dass eine Anspruchsformulierung, nach der aufgabenhaft definierte chemische Verbindungen unter Anwendung eines in der Beschreibung angegebenen Bestimmungsverfahrens in Form eines neuartigen Forschungswerkzeuges aufgefunden werden sollen, einen Durchgriffsanspruch darstelle, der auch auf zukünftige Erfindungen gerichtet ist, welche auf der derzeitig offenbarten Erfindung beruhen. Der Anmelder könne nur Schutz für seinen tatsächlichen Beitrag zum Stand der Technik beanspruchen, nicht aber ein unerschlossenes Forschungsgebiet für sich reservieren.
In T 3122/19 (Identifizierung einer Untergruppe von Krebspatienten für die Behandlung mit FGFR-Inhibitoren) argumentierte der Einsprechende unter Verweis auf T 1063/06, dass die Fachperson nicht in der Lage sei, alle Verbindungen, die unter die weit gefasste Doppelfunktionsdefinition des Anspruchs fallen, ohne unangemessenen Aufwand zu identifizieren, und dass folglich der Fachperson diese Alternativen nicht zur Verfügung stünden. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass die dem vorliegenden Fall zugrunde liegende Erfindung nicht mit der Situation in T 1063/06 vergleichbar sei, in der jede beliebige Verbindung (ohne Vorgaben in Bezug auf die chemische Struktur oder andere Auswahlregeln) auf die gewünschte enzymstimulierende Aktivität untersucht werden müsse. Im vorliegenden Fall umfasste die funktionelle Definition zwei Ebenen. Somit gab es einen großen Kandidatenpool. Die Prüfung der Aktivität gegen Krebszellen der zweiten Ebene (wie in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beschrieben) habe nicht durch Versuch und Irrtum an zufällig ausgewählten Verbindungen durchgeführt werden müssen, sondern nur an einer begrenzten Auswahl von Verbindungen. Es sei nicht nachgewiesen worden, dass ein großer Teil der FGFR-Inhibitoren diesen Test nicht bestehen würde (in diesem Fall würde die Identifizierung aktiver Verbindungen für die Fachperson einen unzumutbaren Aufwand darstellen).
Die Entscheidung T 1170/20 behandelt die Frage des sogenannten Durchgriffsanspruchs ("reach-through claims"). Der Beschwerdeführer (Einsprechende) machte geltend, dass das Merkmal "ein elektrisch isolierendes Gas, umfassend mindestens eine Fluorverbindung, deren globales Erwärmungspotential PRG niedriger als 3500 ist" dem Anspruch einen Durchgriffscharakter verleihe, d. h., dass der Anspruch auf eine ausschließlich aufgabenhaft definierte chemische Verbindung gerichtet sei. Die Kammer stimmte dem Beschwerdeführer zu. Zugleich widersprach sie der Behauptung des Beschwerdegegners (Patentinhabers), wonach "das Patent genügend Informationen enthält, mit deren Hilfe der Fachmann mit zumutbarem Aufwand Alternativen von Fluorverbindungen finden kann, die für das elektrisch isolierende Gas der in Anspruch 1 des Patents definierten gasisolierten Mittel- und/oder Hochspannungsschaltanlage geeignet sind". Nach Ansicht der Kammer schien das Streitpatent weder die Kriterien zu benennen noch allgemeine Informationen oder Angaben zu enthalten, die die Fachperson dazu anleiten könnten, unter den umfangreichen Klassen der beanspruchten Verbindungen diejenigen zu finden, die den Vorgaben des Anspruchs entsprachen. Der Beschwerdegegner machte ferner geltend, dass eine fehlerhafte Anwendung der Richtlinien F‑III.9 vorliege, wenn der vorliegende Anspruch als Durchgriffsanspruch angesehen werde. Das Kapitel der Richtlinien betreffe, so der Beschwerdegegner, Erfindungen auf dem Gebiet der Biotechnologie und insbesondere Verbindungen, die ausschließlich durch ihre Wirkung oder Funktion gekennzeichnet sind. Dies sei hier nicht der Fall. Vielmehr handle es sich bei PRG um einen anerkannten und üblichen Parameter, der ohne Weiteres für eine bestimmte Verbindung bestimmt werden könne. Entgegen der Behauptung des Beschwerdegegners spielt es jedoch keine Rolle, auf welches technische Gebiet sich ein Anspruch bezieht, wenn er als Durchgriffsanspruch qualifiziert wird. Die Grundidee der Nichtzulassung derartiger Ansprüche ist im oben genannten Abschnitt der Richtlinien erläutert. Der Anspruch umfasst alle Verbindungen mit einem PRG von weniger als 3.500, die die Funktion eines Isoliergases für Mittel- und/oder Hochspannung aufweisen. Das Patent liefert dabei keine eindeutigen Hinweise auf die Identität der Verbindungen, die über die Angabe hinausgehen, dass sie Fluor enthalten. Wie die Kammer betonte, bestand die Schwierigkeit darin, geeignete Verbindungen zu finden. Der Beschwerdegegner behauptete einfach ohne entsprechende Beweise, dass die Fachperson die geeigneten Verbindungen allein aufgrund seiner normalen Kenntnisse finden könne und dass sich das GWP für eine geeignete Verbindung bestimmen lasse. Dies entsprach jedoch genau dem in den Richtlinien beschriebenen Fall, nämlich dass der Patentinhaber de facto versucht, etwas patentieren zu lassen, das noch gar nicht erfunden ist, und die Tatsache, dass er die Wirkung austesten kann, anhand deren die Stoffe definiert werden, bedeutet nicht, dass der Anspruch ausreichend offenbart ist. Tatsächlich handelt es sich bei dem Anspruch um eine Aufforderung zur Durchführung eines Forschungsprogramms.