BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 14. Juli 1994 - G 9/92*
(Amtlicher Text)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | P. Gori |
Mitglieder: | G. Gall |
| C. Andries |
| G. D. Paterson |
| C. Payraudeau |
| E. Persson |
| P. van den Berg |
Patentinhaber/Beschwerdeführer: Bayerische Motoren Werke Aktiengesellschaft
Einsprechender/Beschwerdegegner: KUKA Schweißanlagen + Roboter GmbH
Stichwort: Nicht-beschwerdeführender Beteiligter/BMW
Artikel: 101 (2), 107, 111, 114 (1) EPÜ
Regel: 58 (2), 64 b), 65 (1), 66 (1) EPÜ
Schlagwort: "reformatio in peius" - "Aufrechterhaltung in geändertem Umfang entsprechend einem Hilfsantrag" - "beide Parteien beschwert" - "Beschwerde einer Partei" - "Anträge der nicht-beschwerdeführenden Partei, die über den Beschwerdeantrag hinausgehen" - "Meinung einer Minderheit"
Leitsätze
I. Ist der Patentinhaber der alleinige Beschwerdeführer gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang, so kann weder die Beschwerdekammer noch der nicht beschwerdeführende Einsprechende als Beteiligter nach Art. 107 Satz 2 EPÜ die Fassung des Patents gemäß der Zwischenentscheidung in Frage stellen.
II. Ist der Einsprechende der alleinige Beschwerdeführer gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang, so ist der Patentinhaber primär darauf beschränkt, das Patent in der Fassung zu verteidigen, die die Einspruchsabteilung ihrer Zwischenentscheidung zugrunde gelegt hat. Änderungen, die der Patentinhaber als Beteiligter nach Art. 107 Satz 2 EPÜ vorschlägt, können von der Beschwerdekammer abgelehnt werden, wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich sind.
Zusammenfassung des Verfahrens
I. Den Verfahren T 60/91, T 96/92 (vor der Beschwerdekammer 3.2.1 - veröffentlicht im ABl. EPA 1993, 551) und T 488/91 (vor der Kammer 3.5.1 - nicht im ABl. EPA veröffentlicht) liegen Zwischenentscheidungen der Einspruchsabteilung zugrunde, in denen festgestellt wurde, daß dem angefochtenen Patent in einem gegenüber der erteilten Fassung geändertem Umfang Einspruchsgründe nicht entgegenstünden. Nach Erfüllung der ausstehenden Formerfordernisse könnte nach der Auffassung der ersten Instanz das Patent in geändertem Umfang aufrechterhalten werden. In den Zwischenentscheidungen wurde die gesonderte Beschwerde gemäß Artikel 106 (3) EPÜ zugelassen.
II. Im Verfahren T 60/91 hielt der Patentinhaber vor der Einspruchsabteilung nicht an der erteilten Fassung des Patents fest, sondern legte zwei geänderte Fassungen als Haupt- und als Hilfsantrag vor, wobei der Hauptantrag gegenüber der erteilten Fassung einschränkende Merkmale enthielt und der Hilfsantrag seinerseits wieder gegenüber dem Hauptantrag eingeschränkt war. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dem Gegenstand des Patents fehle in der Fassung nach dem Hauptantrag die erfinderische Tätigkeit und stellte in einer Zwischenentscheidung fest, daß der Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung gemäß dem Hilfsantrag keine Einspruchsgründe entgegenstehen.
Der Patentinhaber als alleiniger Beschwerdeführer stellte den Beschwerdeantrag, das Patent gemäß dem vor der Einspruchsabteilung gestellten Hauptantrag aufrechtzuerhalten. Der Einsprechende als Beschwerdegegner stellte den Gegenantrag, das Patent - insgesamt - zu widerrufen.
III. Im Verfahren T 96/92 stellte der Patentinhaber vor der ersten Instanz den Hauptantrag, den Einspruch zurückzuweisen und hilfsweise das Patent in einer von ihm vorgelegten eingeschränkten Fassung aufrechtzuerhalten. Die Einspruchsabteilung legte der Zwischenentscheidung die Fassung gemäß dem Hilfsantrag zugrunde.
Der Einsprechende als alleiniger Beschwerdeführer stellte den Antrag auf Widerruf des Patents. Der Patentinhaber als Beschwerdegegner stellte den Gegenantrag, das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten, hilfsweise die Aufrechterhaltung in der Fassung der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung zu beschließen.
IV. Auch im Verfahren T 488/91 ist der Einsprechende der alleinige Beschwerdeführer. Der Patentinhaber legte vor der Einspruchsabteilung zwei (eingeschränkte) Sätze von Patentansprüchen als Haupt- und Hilfsantrag vor. Die Einspruchsabteilung legte ihrer Zwischenentscheidung die Fassung der Patentansprüche gemäß dem Hilfsantrag zugrunde.
Der Einsprechende als alleiniger Beschwerdeführer beantragte, die Entscheidung in der Richtung abzuändern, daß das Patent widerrufen wird.
Der Patentinhaber als Beschwerdegegner beantragte die Abweisung der Beschwerde und die Aufrechterhaltung des Patents in dem Umfang gemäß der Entscheidung der Einspruchsabteilung. In der mündlichen Verhandlung stufte er diesen Antrag auf den Rang eines Hilfsantrages zurück und beantragte nunmehr als Hauptantrag die Aufrechterhaltung des Patents in der bereits vor der Einspruchsabteilung als Hauptantrag vorgelegten, von dieser aber abgelehnten Fassung.
V. Die für die Verfahren T 60/91 und T 96/92 zuständige Beschwerdekammer 3.2.1 war der Auffassung, daß in beiden Verfahren zu entscheiden sei, ob die Beschwerdekammer den alleinigen Beschwerdeführer im Vergleich zur angefochtenen Entscheidung schlechter stellen dürfe oder ob ein Verschlechterungsverbot (Verbot der reformatio in peius) gelte. In den beiden Verfahren hätten die Beschwerdegegner, ohne selbst Beschwerde erhoben zu haben, Anträge gestellt, die über die Anträge der Beschwerdeführer - zu deren Nachteil - hinausgehen.
Die Zulässigkeit solcher Anträge sei in der Rechtsprechung bisher unterschiedlich beurteilt worden. In der Entscheidung T 369/91, ABl. EPA 1993, 561, sei dem Patentinhaber, der gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung keine Beschwerde eingelegt hat, der Gegenantrag auf Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Zurückweisung des Einspruchs) verwehrt worden. Dagegen sei in den Entscheidungen T 576/89, ABl. EPA 1993, 543 und T 123/85, ABl. EPA 1989, 336 ein Zurückgehen auf die erteilte Fassung zugelassen worden. Die letztgenannte Entscheidung habe dies an die Bedingung geknüpft, daß kein verfahrensrechtlicher Mißbrauch vorliege.
VI. Unter Hinweis auf diese Rechtsprechungsdivergenz hat die Kammer 3.2.1 die Verfahren T 60/91 und T 96/92 für die Vorlage der folgenden, zweiteiligen Rechtsfrage an die Große Beschwerdekammer verbunden:
Darf die Beschwerdekammer die angefochtene Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdeführers abändern;
Wenn ja, in welchem Umfang?
Die Vorlageentscheidung zu T 60/91 und T 96/92 ist im ABl. EPA 1993, 551 veröffentlicht und bezieht sich auf das Verfahren G 9/92.
VII. Unter Bezugnahme auf diese Vorlageentscheidung legte die Kammer 3.5.1 im Verfahren T 488/91 der Großen Beschwerdekammer dieselbe zweiteilige Rechtsfrage vor (G 4/93).
VIII. Die Große Beschwerdekammer beschloß, die Vorlagen der Kammer 3.2.1 (G 9/92) und der Kammer 3.5.1 (G 4/93) gemäß Artikel 8 der Verfahrensordnung, ABl. EPA 1983, 3 in der Fassung ABl. EPA 1989, 362, zu einem gemeinsamen Verfahren zu verbinden.
IX. Nach dieser verfahrensleitenden Entscheidung hat der Patentinhaber und Beschwerdegegner im Verfahren T 96/92 seinen Hauptantrag, den Einspruch zurückzuweisen und damit das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten, zurückgenommen. Da sich für dieses Verfahren die der Großen Beschwerdekammer gestellte Rechtsfrage nicht mehr stellt, wurde das Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer, soweit T 96/92 betroffen ist, eingestellt.
X. Den am Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer noch Beteiligten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Beteiligten, die die Position des alleinigen Beschwerdeführers vertreten, sprachen sich gegen die Zulassung von selbständigen Gegenanträgen der Beschwerdegegner aus. Die Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung dürfe nur im Rahmen der Beschwerde erfolgen. Soweit der alleinige Beschwerdeführer durch die erstinstanzliche Entscheidung nicht beschwert sei, könne sie auch nicht Gegenstand seiner Beschwerde sein. Für eine "Anschlußbeschwerde" des Beschwerdegegners als Reaktion auf die eingereichte Beschwerde fehle die Rechtsgrundlage im EPÜ. Ohne Fristsetzung würde sie überdies eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens bewirken können und dem Beschwerdegegner ungerechtfertigte Vorteile gegenüber der Partei bringen, die fristgerecht Beschwerde eingelegt habe. Daß eine durch die erstinstanzliche Entscheidung beschwerte Partei eine Beschwerde einreiche, könne für die Gegenpartei keine Überraschung bedeuten. Die Prüfung im Rahmen der Beschwerde stünde mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens im Einklang.
Die am Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer Beteiligten, die die Position der nicht beschwerdeführenden Verfahrensbeteiligten vertreten, traten für die volle Entscheidungsfreiheit der Beschwerdekammern ein. So dürften diese bei der alleinigen Beschwerde des Patentinhabers nicht an der Feststellung der mangelnden Patentierbarkeit der Fassung nach der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung bloß aus dem Grund gehindert werden, daß der Einsprechende keine Beschwerde erhoben habe. Jede Beschränkung wäre künstlich und würde die Kammern bei der Prüfung von Haupt- und Hilfsanträgen zu einem "Balanceakt" bei der Beurteilung der Patentierbarkeitskriterien zwingen. Die Beschwerde stelle für den Beschwerdegegner eine neue, überraschende Situation dar, bei der er das Recht habe, ohne Einschränkung zu reagieren. Wenn der Einsprechende die erstinstanzliche Entscheidung nicht angefochten habe, bedeute dies nur, daß er sich für den Fall, daß die Entscheidung in Rechtskraft erwachse, mit der dort festgelegten Fassung des Patents abgefunden habe. Werde die Entscheidung aber durch die Beschwerde des Patentinhabers in Frage gestellt, müsse dieser das Risiko des Gegenangriffs und damit des möglichen Widerrufs des Patents tragen. Im umgekehrten Fall, der alleinigen Beschwerde des Einsprechenden, müsse dieser damit rechnen, daß der Patentinhaber auf frühere Anträge zurückkomme und die Aufrechterhaltung des Patents in unverändertem Umfang beantrage.
Entscheidungsgründe
Verfahrensgrundsätze
1. Die vorgelegte Rechtsfrage betrifft allgemeine Grundsätze des Verfahrensrechts, wie sie in zahlreichen Prozeßordnungen der Vertragsstaaten des EPÜ - wenn auch unterschiedlich geregelt - verankert sind. Ob und inwieweit das Verfahren vor den Beschwerdekammern nach dem EPÜ an den Beschwerdeantrag gebunden ist, ist Gegenstand der in den Verfahren T 60/91 und T 488/91 beschlossenen Vorlagen an die Große Beschwerdekammer. Die im EPÜ für europäische Patentanmeldungen und Patente geregelten Verfahren werden - von Ausnahmen abgesehen - auf Antrag eingeleitet. Der einleitende Antrag bestimmt das Verfahren. Dies entspricht dem Antragsgrundsatz (ne ultra petita). Im vorliegenden Verfahren geht es um die Reichweite des die Beschwerde einleitenden Antrags für das weitere Verfahren. Dies ist im systematischen Zusammenhang mit dem Verfahrensrecht nach dem EPÜ zu betrachten.
2. Das Einspruchsverfahren ist der Erteilung des Patents nachgeschaltet (Art. 99 EPÜ). Es finden die Artikel 99 bis 105 EPÜ und die entsprechenden Bestimmungen der Ausführungsordnung Anwendung. Auch im Einspruchsverfahren ist der Sachverhalt von Amts wegen zu erheben (Art. 114 (1) EPÜ). Dem Amtsermittlungsgrundsatz sind aber in mehreren Richtungen Schranken gesetzt, die darauf abzielen, den Verfahrensablauf transparenter zu gestalten, möglichen Verzögerungen durch Verfahrenskonzentration entgegenzuwirken, das Verfahren zu fördern und das Risiko der Parteien zu begrenzen.
3. Die Ausgestaltung der tragenden Verfahrensgrundsätze für das Einspruchsverfahren und das Einspruchsbeschwerdeverfahren war bereits mehrfach Gegenstand von Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer. Mit der Entscheidungskompetenz der Einspruchsabteilung und der Beschwerdekammer hat sich die Entscheidung G 9/91, ABl. EPA 1993, 408 auseinandergesetzt. Nach dieser Entscheidung ist das Einspruchsverfahren nur in dem Umfang anhängig, in dem das europäische Patent im Rahmen der Erklärung nach Regel 55 c) EPÜ angefochten worden ist. Darüber hinaus fehlt es an einer Entscheidungskompetenz und demgemäß an der Befugnis, "einen Sachverhalt zu ermitteln" (vgl. hierzu G 9/91, Gründe Nr. 10 und 11). Die Einspruchsabteilung und die Beschwerdekammer können die Kompetenz zur Entscheidung über den Widerruf oder die Aufrechterhaltung des Patents nur im Umfang der Anfechtung des Patents gemäß der Erklärung des Einsprechenden in Anspruch nehmen.
4. Auch bei den Einspruchsgründen gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (Art. 114 (1) EPÜ) nicht ohne Einschränkungen. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Frage der Kompetenz, sondern um die ausgewogene Anwendung von Verfahrensgrundsätzen (G 10/91, ABl. EPA 1993, 420, Gründe Nr. 12). Die Einspruchsabteilung prüft nur die vom Einsprechenden innerhalb der Einspruchsfrist geltend gemachten und durch Tatsachen und Beweise ordnungsgemäß gestützten Einspruchsgründe. Die Berücksichtigung von darüber hinausgehenden Gründen stellt eine Ausnahme dar, für deren Anwendung besondere Bedingungen gelten (s. G 10/91, Gründe Nr. 16).
5. Zum Einspruchsbeschwerdeverfahren hat die Große Beschwerdekammer Gründe angegeben, die die Anwendung des Amtsermittlungsgrundsatzes weiter einschränken. Das zweiseitige Beschwerdeverfahren hat primär die Aufgabe, der unterlegenen Partei die Möglichkeit zu geben, die getroffene Entscheidung der Einspruchsabteilung anzufechten. Nur mit Zustimmung des Patentinhabers kann ausnahmsweise ein neuer Einspruchsgrund in das Beschwerdeverfahren einbezogen werden (G 10/91, Gründe Nr. 18).
6. Im Zusammenhang mit der Entscheidungskompetenz der Beschwerdekammern ist auch die Wirkung der Zurücknahme der Beschwerde zu sehen. Das Beschwerdeverfahren endet, wenn die einzige Beschwerde oder, bei mehrseitigen Beschwerden, wenn alle Beschwerden zurückgezogen wurden. Mit dem Wegfall der Beschwerde oder der Beschwerden fällt die Kompetenz zur weiteren Durchführung des Verfahrens und zur Entscheidung weg (G 7/91, ABl. EPA 1993, 356 und G 8/91, ABl. EPA 1993, 346).
Beschwerdeantrag und Antragsbindung
7. In der Vorlage an die Große Beschwerdekammer wird nun die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit die Beschwerdekammer zu Lasten des Beschwerdeführers im Einspruchsbeschwerdeverfahren von dem Beschwerdeantrag abweichen kann. Die Vorlageentscheidung hat dies vor allem aus dem Gesichtspunkt des Verbots einer möglichen Verschlechterung - reformatio in peius - betrachtet. In ihrem Wesen geht es bei der vorgelegten Frage aber um die Bindungswirkung, die der Beschwerdeantrag für das weitere Verfahren entfaltet. Sie kann sowohl für Anträge des Beschwerdeführers oder des Beschwerdegegners als auch für ein Vorgehen von Amts wegen begrenzend wirken. Dagegen enthält das EPÜ keine Bestimmung, nach der die Beschwerdeentscheidung den Beschwerdeführer im Vergleich zur angefochtenen Entscheidung im Ergebnis nicht schlechter stellen dürfe.
8. Schon die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 2/91, ABl. EPA 1992, 206, hat die Frage aufgeworfen, inwieweit sich die nicht beschwerdeführende Partei mit ihren Anträgen zu denen des Beschwerdeführers in Widerspruch setzten darf oder ob sie gegebenenfalls auf die Verteidigung der angefochtenen Entscheidung beschränkt ist (Gründe Nr. 6.2). Nur wer eine - zulässige - Beschwerde einreicht, erlangt die Stellung eines Beschwerdeführers, während der nicht beschwerdeführenden Partei die Rolle eines am Beschwerdeverfahren Beteiligten gemäß Artikel 107, Satz 2 EPÜ zukommt (Gründe Nr. 6.1).
9. Die Beschwerde zielt auf die Beseitigung der "Beschwer" durch eine Änderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung ab (Art. 107, Satz 1 EPÜ). Die Beschwerdekammer hat zu prüfen, ob die Beschwerde zulässig und begründet ist (Art. 110 (1) EPÜ). Der Prüfung, ob die Beschwerde begründet ist, folgt die Entscheidung "über die Beschwerde" (Art. 111 (1) Satz 1 EPÜ). Die Beschwerdekammer kann dabei in der Sache selbst entscheiden oder die Sache zur Fortsetzung des Verfahrens an die erste Instanz zurückverweisen (Art. 111 (1) Satz 2 EPÜ). Stets ist es aber die Beschwerde selbst, die den Gegenstand des Beschwerdeverfahrens darstellt. Sie darf nicht bloß als der Einstieg in dieses Verfahren betrachtet werden.
10. Nach dem EPÜ ist die Einlegung der Beschwerde und damit das Recht, einen Beschwerdeantrag zu stellen, befristet. Dies dient der Verfahrenskonzentration. Mit dieser Regelung wäre es nicht vereinbar, dem nicht beschwerdeführenden Beteiligten das unbeschränkte Recht einzuräumen, das Verfahren durch eigene Anträge ohne zeitliche Grenze in eine andere Richtung zu lenken. Wer sich gegen eine Entscheidung der ersten Instanz nicht innerhalb der Beschwerdefrist beschwert, kann nicht das - unbefristete - Recht zu Anträgen beanspruchen, die in ihrer Tragweite einem Beschwerdeantrag entsprechen, und damit - als Reaktion auf eine Beschwerde des Verfahrensgegners - die Stellung eines Beschwerdeführers einnehmen. Die Bestimmung der Regel 65 (1) EPÜ über die Unzulässigkeit der Beschwerde bei nicht fristgerechtem Beschwerdeantrag mißt der Fristsetzung erkennbar Gewicht zu. Dies kann nur in dem Sinn verstanden werden, daß außerhalb dieser Frist gestellte Anträge, die den Rahmen des ursprünglichen Beschwerdeantrages (Regel 64 b) EPÜ) sprengen, nicht zugelassen sind. Das EPÜ sieht eine Anschlußbeschwerde des Beschwerdegegners nicht vor.
11. Das vorgebrachte Argument, die Beschwerde sei für den Beschwerdegegner eine "neue, überraschende Situation", greift nicht durch. Die Beschwerde steht unter den allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen beiden Parteien gleichermaßen offen. Mit einer Beschwerde einer Partei, die nicht vollständig obsiegt hat, muß die andere Partei rechnen.
Die nicht beschwerdeführende Partei hat als Beschwerdegegnerin die Möglichkeit, all das, was sie für die Verteidigung des vor der ersten Instanz erzielten Ergebnisses für notwendig und zweckmäßig hält, im Beschwerdeverfahren vorzubringen.
12. Ebenso fremd ist dem EPÜ die Vorstellung, der Beschwerdeführer müsse - unabhängig von einer Beschwerde der Gegenpartei - das Risiko tragen, durch seine Beschwerde das in erster Instanz erzielte Ergebnis zu gefährden. Auch der damit verbundene Gedanke, der alleinige Beschwerdeführer sollte durch Gegenanträge dazu veranlaßt werden können, seine Beschwerde wieder zurückzuziehen, läßt sich dem Verfahrensrecht nach dem EPÜ nicht entnehmen.
13. Im Folgenden werden die Schlußfolgerungen dargestellt, die sich einerseits bei der alleinigen Beschwerde des Patentinhabers und andererseits bei der alleinigen Beschwerde des Einsprechenden ergeben.
Alleinige Beschwerde des Patentinhabers (T 60/91)
14. Die erste Fallkonstellation betrifft die alleinige Beschwerde des Patentinhabers gegen eine Zwischenentscheidung, mit der das Patent von der Einspruchsabteilung in geändertem Umfang als aufrechterhaltbar erklärt worden ist. Diese Fassung ist bei der alleinigen Beschwerde des Patentinhabers vom Beschwerdeantrag - der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (Art. 108 S. 1, Regel 64 b) EPÜ) - nicht erfaßt. Denn der Beschwerdeführer strebt mit seiner Beschwerde an, daß eine andere, von ihm vorgeschlagene Fassung an ihre Stelle tritt, oder daß dann, wenn einem solchen Antrag nicht stattgegeben wird, d. h. die Beschwerde zurückgewiesen wird, das Patent in der von der Einspruchsabteilung festgelegten Fassung aufrechterhalten bleibt.
Der durch den Beschwerdeantrag gesteckte Rahmen wird verlassen, wenn der nicht beschwerdeführende Einsprechende einen Antrag auf Widerruf des Patents stellt. Der Einsprechende kann daher nach Ablauf der Beschwerdefrist einen solchen Antrag nicht mehr wirksam stellen.
Alleinige Beschwerde des Einsprechenden (T 488/91)
15. Die zweite Fallkonstellation betrifft die alleinige Beschwerde des Einsprechenden gegen eine Zwischenentscheidung, mit der das Patent von der Einspruchsabteilung in geändertem Umfang als aufrechterhaltbar erklärt worden ist. Die Beschwerde wird vom Einsprechenden mit dem Ziel eingelegt, die angefochtene Entscheidung dahin zu ändern, daß das Patent insgesamt widerrufen oder festgestellt wird, daß dem Patent in einer anderen (aus seiner Sicht in der Regel gegenüber der Zwischenentscheidung engeren) Fassung Einspruchsgründe nicht entgegenstehen.
16. Dem Patentinhaber, der keine Beschwerde erhoben hat und der daher nur Verfahrensbeteiligter nach Artikel 107, Satz 2 EPÜ ist, steht das Recht einer - unbefristeten - "Anschlußbeschwerde" nicht zu. Seine Anträge unterliegen daher im Vergleich zu den Rechten, die er als Beschwerdeführer hätte, Beschränkungen. Durch die Nichteinlegung der Beschwerde hat er zu erkennen gegeben, daß er die Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung der Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht anfechten will. Er ist damit primär auf die Verteidigung dieser Fassung beschränkt. Änderungen, die er im Beschwerdeverfahren vorschlägt, können von der Beschwerdekammer abgelehnt werden, wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich sind. Dies trifft dann zu, wenn die Änderungen nicht durch die Beschwerde veranlaßt sind (Art. 101 (2) EPÜ, Regel 58 (2) und 66 (1) EPÜ; T 406/86ABl. EPA 1989, 302; T 295/87, ABl. EPA 1990, 470).
17. Meinung einer Minderheit
Nach Meinung einer Minderheit der Großen Beschwerdekammer hat der Amtsermittlungsgrundsatz Vorrang. Eine reformatio in peius sei daher zulässig. Die Minderheitsmeinung beruft sich auf die seit dem 1. Arbeitsentwurf über ein Europäisches Patentrecht (Vorschläge des Vorsitzenden der EWG-Arbeitsgruppe "Patente" vom 29.05.1961 bis 09.04.1962) im wesentlichen unveränderten Text der Bestimmung über die Ermittlung von Amts wegen (siehe Art. 96 des Entwurfs Doc. IV/6514/61 vom 28.07.1961). Bereits in den Erläuterungen zu Artikel 96 des Entwurfs wurde dieser Grundsatz bestätigt und unter anderem ausgeführt: "Wendet sich somit ein Patentinhaber mit seiner Beschwerde dagegen, daß sein vorläufiges europäisches Patent bei der Prüfung teilweise aufgehoben wurde, so kann im Beschwerdeverfahren auf Grund des bereits erwähnten oder auch des bisher noch nicht herangezogenen Materials das gesamte vorläufige europäische Patent aufgehoben werden." Der erste Vorentwurf betrifft zwar noch einen Verfahrensablauf mit einem der Patenterteilung vorgeschalteten Einspruchsverfahren. Aus späteren Sitzungsberichten geht aber hervor, daß der Übergang zum nachträglichen Einspruch an der Anwendung der Offizialmaxime nichts ändern dürfe, weil er aus einem anderen Grunde beschlossen worden sei (BR 87/71 vom 28.02.1971, Seite 5, Rdn. 9). Nach Auffassung der Minderheit besteht daher im EPÜ keine Grundlage, die Entscheidungskompetenz der Beschwerdekammern im Einspruchsbeschwerdeverfahren einzuschränken.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte zweiteilige Rechtsfrage wie folgt beantwortet:
1. Ist der Patentinhaber der alleinige Beschwerdeführer gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang, so kann weder die Beschwerdekammer noch der nicht beschwerdeführende Einsprechende als Beteiligter nach Artikel 107 Satz 2 EPÜ die Fassung des Patents gemäß der Zwischenentscheidung in Frage stellen.
2. Ist der Einsprechende der alleinige Beschwerdeführer gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang, so ist der Patentinhaber primär darauf beschränkt, das Patent in der Fassung zu verteidigen, die die Einspruchsabteilung ihrer Zwischenentscheidung zugrunde gelegt hat. Änderungen, die der Patentinhaber als Beteiligter nach Artikel 107 Satz 2 EPÜ vorschlägt, können von der Beschwerdekammer abgelehnt werden, wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich sind.
* Dieselben Rechtsfragen wurden der Großen Beschwerdekammer auch im Verfahren G 4/93 (Motorola, Inc. vs. N.V. Philips' Gloeilampenfabrieken und Interessengemeinschaft für Rundfunkschutzrechte e.V.) vorgelegt. Die englische Übersetzung der Entscheidung G 9/92 entspricht dem amtlichen Text der zu G 4/93 am selben Tag ergangenen Entscheidung.