Artikel 68
Referenz: ABl. EPA 2025, A68
Online-Veröffentlichungsdatum: 28.11.2025
BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 2. Juli 2025 - Verfahren G 1/23
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender:
C. Josefsson
Mitglieder:
I. Beckedorf
T. Bokor
M. Teppey
Y. Rüedi
P. Gryczka
G. Pricolo
Anmelder:
Mitsui Chemicals, Inc.
Mitsui Chemicals ICT Materia, Inc.
Einsprechender:
Borealis GmbH
Stichwort:
Auslegung von G 1/92 (Erfordernis der Nacharbeitbarkeit für auf den Markt gebrachte Erzeugnisse, um zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) und 56 EPÜ zu gehören)
Relevante Rechtsnormen:
Art. 54 (2), 56, 83, 112 (1), 117 (1) f) EPÜ
Art. 9, 10 VOGBK
Schlagwort:
Zulässigkeit der Vorlage (bejaht)
Auf den Markt gebrachtes Erzeugnis – Erfordernis der Reproduzierbarkeit für die Einstufung als Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und 56 EPÜ (verneint)
Berücksichtigung nicht reproduzierbarer Eigenschaften bei der Beurteilung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit (bejaht)
Leitsatz:
I. Ein Erzeugnis, das vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht wurde, kann nicht allein deshalb vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ ausgeschlossen werden, weil seine Zusammensetzung oder innere Struktur von der Fachperson vor diesem Tag nicht analysiert und reproduziert werden konnte.
II. Technische Informationen über ein solches Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden, gehören zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ, und zwar unabhängig davon, ob die Fachperson das Erzeugnis und seine Zusammensetzung oder innere Struktur vor diesem Tag analysieren und reproduzieren konnte.
SACHVERHALT UND ANTRÄGE
I. Mit der Zwischenentscheidung T 438/19 vom 27. Juni 2023 ("Vorlageentscheidung") hat die Technische Beschwerdekammer 3.3.03 ("vorlegende Kammer") der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfragen vorgelegt:
Frage 1
Ist ein Erzeugnis, das vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht wurde, schon allein deshalb vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ auszuschließen, weil seine Zusammensetzung oder innere Struktur vom Fachmann vor diesem Tag nicht ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
Frage 2
Falls Frage 1 zu verneinen ist, gehören dann technische Informationen über dieses Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden (z. B. durch Veröffentlichung in einer Fachbroschüre, der Nichtpatent- oder der Patentliteratur), zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ, unabhängig davon, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses vom Fachmann vor diesem Tag ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
Frage 3
Falls Frage 1 zu bejahen oder Frage 2 zu verneinen ist, nach welchen Kriterien ist dann zu beurteilen, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses im Sinne der Stellungnahme G 1/92 ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte? Ist es insbesondere erforderlich, dass die Zusammensetzung und innere Struktur des Erzeugnisses vollständig analysierbar und identisch reproduzierbar sind?
Zusammenfassung des Beschwerdeverfahrens/der Vorlageentscheidung
II. Die Beschwerde der Einsprechenden vor der vorlegenden Kammer richtete sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 626 911 (Anmeldenummer 12830390.8) zurückzuweisen. Nach Auffassung der Einspruchsabteilung beruhte der Gegenstand von Anspruch 1, der sich auf ein Kapselungsmaterial für eine Solarzelle bezog, auf einer erfinderischen Tätigkeit. Der nächstliegende Stand der Technik war das im Handel erhältliche Erzeugnis "ENGAGE® 8400". Einige Eigenschaften von ENGAGE® 8400 waren anhand verschiedener technischer Unterlagen nachgewiesen worden.
III. Bei dem Erzeugnis ENGAGE® 8400 handelt es sich um ein komplexes Polymer. Zwischen den Beteiligten war unstreitig, dass das genaue Herstellungsverfahren nicht allgemein zugänglich war und dass die exakte Reproduktion eines komplexen Polymers selbst dann kein einfaches Unterfangen ist, wenn das Material, d. h. das Enderzeugnis selbst, der Fachperson zur Analyse zur Verfügung steht. Die Einsprechende brachte lediglich vor, dass die Fachperson ein Erzeugnis herstellen könne, das ENGAGE® 8400 hinreichend ähnlich sei, und dass eine exakte Reproduktion mit der Stellungnahme G 1/92 nicht beabsichtigt gewesen sein könne (vgl. T 438/19, Nrn. 3.3 und 3.4 der Entscheidungsgründe).
IV. Dass es sich bei ENGAGE® 8400 um ein im Handel erhältliches Erzeugnis handelt, war unstreitig; Uneinigkeit herrschte zwischen den Beteiligten bei der Frage, ob das Erzeugnis bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit dem Stand der Technik zuzurechnen sei. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) argumentierte unter Verweis auf die Begründung in der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer G 1/92 (ABl. EPA 1993, 277), dass das Handelsprodukt ENGAGE® 8400 nicht der Öffentlichkeit im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ zugänglich gemacht worden sei. Anders ausgedrückt, gehöre das Erzeugnis ENGAGE® 8400 schlichtweg deshalb nicht zum Stand der Technik, weil es nicht exakt reproduzierbar sei.
V. In der englischen Fassung wird für den Rechtsbegriff "state of the art" im Sinne der Artikel 54 (2) und 56 EPÜ auch die üblicherweise für denselben Begriff verwendete Bezeichnung "prior art" verwendet. Das Erfordernis der Reproduzierbarkeit des Stands der Technik wird auch als Erfordernis der Nacharbeitbarkeit bezeichnet. Dieser Begriff wird hier ausschließlich im Zusammenhang mit der erwarteten Reproduzierbarkeit einer Offenbarung im Sinne des Artikel 54 (2) EPÜ, d. h. des Stands der Technik, verwendet. Die Ausführbarkeit im Sinne des Artikels 83 EPÜ ist nicht Gegenstand dieser Entscheidung.
VI. Die Einsprechende führte an, dass unabhängig davon, in welchem Umfang das Polymer ENGAGE® 8400 nachgearbeitet werden könne, bestimmte seiner Eigenschaften, die für den beanspruchten Gegenstand relevant sind, zusammen mit dem Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich gewesen seien. Solch öffentlich zugängliche Informationen über ein im Handel erhältliches Erzeugnis sollten nicht aus dem Grund außer Acht gelassen werden, dass das konkrete kommerzielle Material nicht exakt oder in nur in Bezug auf bestimmte Eigenschaften reproduziert werden könne.
VII. Ein weiterer Streitpunkt zwischen den Beteiligten war die Frage, ob die verschiedenen technischen Unterlagen über das Polymer ENGAGE® 8400 zum Stand der Technik gehören. Nach Auffassung der Patentinhaberin waren diese Dokumente ebenfalls vom Stand der Technik auszuschließen, da das Erzeugnis, auf das sie sich bezogen, nicht reproduzierbar war. Die Einsprechende argumentierte, dass messbare oder offenbarte Merkmale eines bekannten Materials für die Fachperson nicht unsichtbar seien, nur weil sie im Zusammenhang mit einem im Handel erhältlichen Material, das die Fachperson selbst nicht herstellen kann, gemessen bzw. offenbart worden sind.
VIII. Die Vorlageentscheidung kam zu dem Schluss, dass das im Handel erhältliche Erzeugnis ENGAGE® 8400 dem erfinderischen Charakter entgegenstünde, wenn es als zum Stand der Technik gehörend angesehen werden könne (Nr. 7 der Entscheidungsgründe, letzter Satz). Dementsprechend sei zu prüfen, ob das Erzeugnis zum Stand der Technik gehört, was wiederum eine korrekte Auslegung der Stellungnahme G 1/92 (Nr. 7 der Entscheidungsgründe) erfordere.
Ablauf des Verfahrens vor der Großen Kammer
IX. Der Präsident des EPA ("Amtspräsident") wurde aufgefordert, sich zu der Vorlage zu äußern, und Dritten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gemäß Artikel 9 und 10 der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer (VOGBK) gegeben. Ihre Stellungnahmen wurden an die Beteiligten weitergeleitet.
X. Der Amtspräsident machte geltend, dass sich das Erfordernis der Nacharbeitbarkeit weder durch wörtliche noch durch systematische oder historische Auslegung aus dem EPÜ ableiten lasse (Nrn. 56, 57 und 60 der Stellungnahme des Amtspräsidenten) und vom Gesetzgeber ausdrücklich abgelehnt worden sei (Nr. 31). Im Übrigen stellte der Amtspräsident die Rechtsprechung des EPA nach G 1/92, die an dem Erfordernis der Nacharbeitbarkeit festhielt, nicht infrage (Nr. 34) und erkannte sogar an, dass sich diese auch in den Richtlinien widerspiegelte (Nr. 13). Der Amtspräsident erläuterte, dass nach G 2/88 eine zum Stand der Technik gehörende Offenbarung stets unter Berücksichtigung aller Umstände und verfügbaren Mittel und Beweismittel zu beurteilen sei (Nrn. 64 bis 66, 68, 69) und nicht formell und kategorisch als zum Stand der Technik im Sinne der Artikel 54 (2) und 56 EPÜ gehörend ausgeschlossen werden dürfe.
XI. Nach Auffassung des Amtspräsidenten ist Frage 1 zu verneinen. Eine erfolgreiche Analyse des Erzeugnisses bedeute, dass nicht nur das Erzeugnis, sondern auch die Zusammensetzung Bestandteil des Stands der Technik geworden sei. G 1/92 beabsichtige nicht, öffentlich zugängliche Informationen vom Stand der Technik auszuschließen, vielmehr solle mit den Ausführungen in Nummern 1.4 und 2.1 der Entscheidungsgründe lediglich unterstrichen werden, dass das Erzeugnis bereits zum Stand der Technik gehörte (Nr. 48). Die Detailgenauigkeit der Offenbarung im Stand der Technik sei irrelevant (Nr. 70), folglich gehöre das auf den Markt gebrachte Erzeugnis zum Stand der Technik, und zwar offensichtlich unabhängig davon, ob es teilweise oder vollständig reproduzierbar ist. So regte der Amtspräsident de facto eine dritte Auslegung von G 1/92 an und schlug vor, das ausdrückliche Erfordernis der Reproduzierbarkeit des Erzeugnisses in der Antwort von G 1/92 außer Acht zu lassen.
XII. Die Einsprechende brachte vor, dass die Fachperson technische Informationen, die ihr durch Analyse zugänglich waren, nicht allein deshalb außer Acht lassen würde, weil sie möglicherweise nicht in der Lage sei, das Erzeugnis, von dem die Informationen abgeleitet waren, zu reproduzieren. So sei beispielsweise die Vorstellung, dass Coca-Cola unbekannt sei und kein Stand der Technik sein könne, eindeutig abwegig.
XIII. Die Patentinhaberin blieb bei ihrer Auffassung, dass das nicht nacharbeitbare Erzeugnis in seiner Gesamtheit vom Stand der Technik auszuschließen sei. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen folgende Argumente an: In T 206/83 wurde festgestellt, dass eine Offenbarung in einem Dokument im Sinne des Artikels 54 (2) und (3) EPÜ ebenso ausführbar sein müsse wie eine Patentanmeldung im Sinne des Artikels 83 EPÜ. T 206/83 kam zu dem Schluss, dass eine nicht ausführbare Lehre in einem Dokument bedeutet, dass die Offenbarung des Dokuments für den Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ nicht relevant sei. Diese Entscheidung wurde in der Rechtsprechung nie infrage gestellt. G 1/92 bestätigt diesen Grundsatz für ein nicht nacharbeitbares Erzeugnis, ebenfalls nach dem Prinzip, dass alle Arten des Stands der Technik (schriftliche Offenbarung, mündliche Offenbarung, Offenbarung einer Vorbenutzung) gleich zu behandeln sind. Vor diesem Hintergrund ist die Antwort der Großen Beschwerdekammer in G 1/92 so auszulegen, dass ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis nur dann als zum Stand der Technik gehörend angesehen wird, wenn das Erzeugnis reproduzierbar ist. Dass dies zu einer späteren Patentierung von bereits auf den Markt gebrachten Erzeugnissen führen kann, ist unproblematisch und sogar gerecht, da der Erfinder, der das Herstellungsverfahren des zuvor nicht reproduzierbaren Erzeugnisses zuerst offenbart, eine Belohnung verdient.
XIV. Verschiedene Berufsverbände, Unternehmen und Privatpersonen haben fünfzehn Amicus-curiae-Schriftsätze (Artikel 10 VOGBK) eingereicht. Die meisten von ihnen vertraten die Auffassung, dass ein im Handel erhältliches Erzeugnis nicht vom Stand der Technik ausgeschlossen werden könne. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellte die AIPPI dar, die vorschlug, Frage 1 mit "Ja" und Frage 2 mit "Nein" zu beantworten. Das Erfordernis der Nacharbeitbarkeit für mündliche und schriftliche Offenbarungen wurde von niemandem infrage gestellt. Einige Schriftsätze lehnten es ab, die Fragen direkt zu beantworten, sondern schlugen vielmehr vor, sie umzuformulieren. Die britische Patentanwaltskammer CIPA und die IP Federation regten an, dass die Große Beschwerdekammer eine Orientierung zum Erfordernis "ohne unzumutbaren Aufwand" geben solle. Ein verspäteter Schriftsatz ging weit nach Ablauf der Einreichungsfrist ein.
XV. Die Große Beschwerdekammer stellte in ihrer vorläufigen Einschätzung in einer Mitteilung vom 16. August 2024 fest, dass es für keine der vorgeschlagenen Auslegungen eine Rechtsgrundlage im EPÜ für das Erfordernis der Nacharbeitbarkeit in der Auslegung durch die Rechtsprechung ab G 1/92 zu geben scheine. Mit dem Erfordernis der Nacharbeitbarkeit sei eine Rechtsfiktion geschaffen worden, die bei konsequenter Anwendung zu absurden Ergebnissen führe. Die beiden ersten Fragen seien mit "Nein" bzw. "Ja" zu beantworten, die dritte Frage sei gegenstandslos. Die Beteiligten und der Amtspräsident erhielten Gelegenheit, zu der vorläufigen Einschätzung der Großen Beschwerdekammer Stellung zu nehmen.
XVI. Die Einsprechende und der Amtspräsident stimmten der vorläufigen Einschätzung weitgehend zu. Die Patentinhaberin bestritt die Feststellungen der Großen Beschwerdekammer und die jeweiligen Begründungen.
XVII. Die mündliche Verhandlung vor der Großen Beschwerdekammer fand am 12. März 2025 statt. Am Ende der mündlichen Verhandlung erklärte der Vorsitzende, dass die Entscheidung schriftlich ergehen werde.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
1. Zulässigkeit der Vorlage
1. Artikel 112 (1) EPÜ sieht vor:
"Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt,
a) befasst die Beschwerdekammer … die Große Beschwerdekammer, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält. …
b) …"
2. Nichts in der Akte spricht gegen die Zulässigkeit dieser Vorlage. Auf den ersten Blick mag die Frage technisch anmuten, doch im Kern geht es um ein mutmaßliches Rechtserfordernis der ausführbaren Offenbarung. Anders ausgedrückt, gilt es zu klären, ob die angeführten Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ tatsächlich implizit Teil der Formulierung "der Öffentlichkeit ... zugänglich gemacht" im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ sind und damit über den gemeinsamen Begriff des "Stands der Technik" in die Anwendung des Artikels 56 EPÜ einfließen. Dabei geht es nicht um die Frage, ob das Erzeugnis physisch zugänglich ist, also um eine Tatsachenfrage, sondern vielmehr darum, ob das Erzeugnis der Fachperson in dem Sinne zugänglich ist, dass sie es als Stand der Technik berücksichtigen kann, also um eine Rechtsfrage. Der Stand der Technik bildet in den allermeisten Fällen einen Eckpfeiler der Prüfung, und die Vorlage betrifft die rechtlichen Grenzen des Stands der Technik. Eine Rechtsfrage kann auch ohne widersprüchliche Rechtsprechung von grundsätzlicher Bedeutung sein (G 4/19, Nr. 12 der Entscheidungsgründe). Es steht somit außer Frage, dass die Vorlage eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung betrifft.
3. Im vorliegenden Fall erkannte die Vorlageentscheidung außerdem zutreffend, dass die Rechtsprechung nicht einheitlich ist. Diese Uneinheitlichkeit zeigt sich hier nicht in zwei unterschiedlichen und diametral entgegengesetzten Rechtsprechungslinien, sondern in einem relativ breiten Spektrum der Auslegung des Erfordernisses der Reproduzierbarkeit nach G 1/92 durch die Rechtsprechung im Laufe der Jahre. Es wird auf die drei Hauptaspekte in Nummer 11 der Entscheidungsgründe der Vorlageentscheidung verwiesen. Die Zahl der Entscheidungen, die sich ausdrücklich mit dem Erfordernis der Ausführbarkeit befassen, mag nicht sehr hoch erscheinen, allerdings kann sich die Notwendigkeit der Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung auch ohne eine große Zahl divergierender Fälle ergeben (G 1/11, Nr. 1 der Entscheidungsgründe).
4. Die Große Beschwerdekammer erkennt ferner an, dass die Beantwortung der Vorlagefragen für die Entscheidung der vorlegenden Kammer notwendig ist (T 438/19, Nr. 7 der Entscheidungsgründe). Es ist nicht die Aufgabe der Großen Beschwerdekammer, eine materiellrechtliche Beurteilung des Gegenstands vorzunehmen und insbesondere die Erfindungshöhe des beanspruchten Gegenstands in Bezug auf das Polymer ENGAGE® 8400 als möglichen Stand der Technik zu beurteilen.
5. Die Große Beschwerdekammer ist der Überzeugung, dass die Vorlage den Erfordernissen des Artikels 112 (1) a) EPÜ entspricht und zulässig ist.
2. Begründetheit der Vorlage
2.1. Stellungnahme G 1/92 und ihre Auslegung
6. Die Vorlage des Amtspräsidenten, die zur Stellungnahme G 1/92 führte, befasste sich ursprünglich mit einer Frage, die keinen unmittelbaren Bezug zur gegenwärtigen Vorlage hatte. Es ging um die Frage, ob die Fachperson besondere Gründe haben müsse, die chemische Zusammensetzung eines auf den Markt gebrachten Erzeugnisses zu analysieren, damit die Zusammensetzung Bestandteil des Stands der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ wird (G 1/92, Zusammenfassung des Verfahrens, I.). Die Frage der Reproduzierbarkeit wurde vom Amtspräsidenten nicht aufgeworfen. In der Vorlage war von "der Öffentlichkeit zugänglichen Erzeugnissen" die Rede, wobei klar ist, dass sich die Formulierung "zugängliche Erzeugnisse" auf Erzeugnisse bezieht, die durch Vorbenutzung zugänglich gemacht wurden, d. h. auf physische, greifbare Erzeugnisse. Dabei besteht kein relevanter Unterschied zu einem "auf den Markt gebrachten Erzeugnis", mit dem sich die gegenwärtige Vorlage befasst.
7. G 1/92 beantwortete die Vorlagefrage wie folgt, wobei zusätzlich zur ursprünglichen Annahme, dass die Fachperson in der Lage sei, das Erzeugnis zu analysieren, das Erfordernis der Reproduzierbarkeit aufgenommen wurde: "Die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses gehört zum Stand der Technik, wenn das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist und vom Fachmann analysiert und reproduziert werden kann, und zwar unabhängig davon, ob es besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren." (Leitsatz 1, Hervorhebung durch die Kammer).
8. Auf diese Weise warf die Antwort von G 1/92 zwei separate Rechtsfragen auf. Sie bestätigte, dass die Eigenschaften von Erzeugnissen auch ohne besondere Veranlassung, eine Eigenschaft zu analysieren, zum Stand der Technik gehören. Darüber hinaus wurde sie in der Rechtsprechung so ausgelegt, dass ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis reproduzierbar sein muss, um zum Stand der Technik zu gehören. Die gegenwärtige Vorlage befasst sich ausschließlich mit dieser zweiten Frage.
9. Nach G 1/92 gelten für jede Art von Offenlegung dieselben Anforderungen, vgl. Nummer 1.2 der Entscheidungsgründe: "Artikel 54 (2) EPÜ unterscheidet auch nicht zwischen den verschiedenen Wegen, auf denen Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Somit gelten für Informationen, die aus der Benutzung eines Erzeugnisses abgeleitet werden, grundsätzlich dieselben Bedingungen wie für Informationen, die durch mündliche oder schriftliche Beschreibung offenbart werden." und Nummer 1.4 der Entscheidungsgründe, Satz 1: "Ein wesentlicher Zweck jeder technischen Lehre besteht darin, daß der Fachmann in die Lage versetzt werden soll, ein bestimmtes Erzeugnis durch Anwendung dieser Lehre herzustellen oder zu benutzen." (Hervorhebung durch die Kammer).
10. Es scheint allgemeines Einvernehmen darüber zu herrschen, dass eine Auslegung des Erfordernisses der Reproduzierbarkeit nach G 1/92 primär aus den Teilen abzuleiten ist, in denen dieses Erfordernis, wenn auch nur kurz, erläutert wird (Nrn. 1.3 und 1.4 der Entscheidungsgründe):
"1.3 Der Großen Beschwerdekammer erscheint es zweckdienlich, zunächst einmal ganz allgemein darauf einzugehen, welche Informationen sich – im Hinblick auf die Anwendung des in Artikel 54 (2) EPÜ vorgesehenen Erfordernisses "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht" – aus der offenkundigen Benutzung von Erzeugnissen ableiten lassen.
1.4 Ein wesentlicher Zweck jeder technischen Lehre besteht darin, daß der Fachmann in die Lage versetzt werden soll, ein bestimmtes Erzeugnis durch Anwendung dieser Lehre herzustellen oder zu benutzen. Ergibt sich eine solche Lehre aus einem Erzeugnis, das auf den Markt gebracht wird, so muß der Fachmann auf sein allgemeines Fachwissen zurückgreifen, um Aufschluß über alle zur Herstellung dieses Erzeugnisses benötigten Informationen zu gewinnen. Wenn der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand [1] die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses erschließen und [2] dieses reproduzieren kann, gehören sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur zum Stand der Technik." (Hervorhebungen, Nummerierung in eckigen Klammern und Unterstreichung durch die Kammer). Hier stellt sich die Frage, worauf sich im englischen Original das "it" beziehen soll, das dem hier unterstrichenen "dieses" entspricht.
11. Aus Nummer 1.3 der Entscheidungsgründe geht hervor, dass die Ausführungen in Nummer 1.4 der Entscheidungsgründe als allgemeine Einleitung dienen, bevor die eigentliche Frage des Amtspräsidenten behandelt wird. Somit beschränken sich diese Ausführungen nicht notwendigerweise auf den spezifischeren Fall der Vorlage, bei dem der zu prüfende Stand der Technik ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis ist. Der Ausgangsfrage, nämlich der ersten Rechtsfrage, wendet sich G 1/92 erst in den Nummern 2 und 2.1 der Entscheidungsgründe zu, vgl. Nummern 6 und 8 oben. In diesem Zusammenhang trifft G 1/92 eine weitere Feststellung, die für die gegenwärtige Vorlage ebenfalls von Belang zu sein scheint: "Die Einführung eines solchen zusätzlichen Erfordernisses würde ein reproduzierbares Handelsprodukt aus dem Bereich der Gemeinfreiheit ("domaine public") herausnehmen. Damit würde man ohne Not von den Grundsätzen abweichen, die für die übrigen Quellen des Stands der Technik gemäß Artikel 54 (2) EPÜ gelten, und ein Element der Subjektivität schaffen, das zu Unwägbarkeiten bei der Anwendung des in diesem Artikel definierten Neuheitsbegriffs führen würde." (Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe, Unterstreichung durch die Kammer).
12. In der gegenwärtigen Vorlage ist der entscheidende Punkt das in der Antwort von G 1/92 ausdrücklich formulierte Erfordernis, dass das Erzeugnis reproduzierbar sein muss. Nichts in G 1/92 spricht dafür, dass dies außer Acht gelassen werden sollte. Die oben erwähnte Feststellung aus Nummer 1.4 der Entscheidungsgründe "Ergibt sich eine solche Lehre aus einem Erzeugnis, das auf den Markt gebracht wird, so muß der Fachmann auf sein allgemeines Fachwissen zurückgreifen, um Aufschluß über alle zur Herstellung dieses Erzeugnisses benötigten Informationen zu gewinnen." lässt keinen Zweifel daran, dass die Fachperson einen Versuch zur Herstellung des Erzeugnisses unternehmen muss. Somit scheint die Nacharbeitbarkeit des Erzeugnisses für die Große Beschwerdekammer eine entscheidende Frage zu sein. Die Formulierung, dass die Fachperson anhand ihres allgemeinen Fachwissens "alle ... Informationen ... gewinnen" muss, führt weg von der Auslegung, dass die Fachperson das Erzeugnis bei Bedarf einfach auf dem Markt beschaffen kann.
13. In Anbetracht der wiederholten Erwähnung der Reproduktion des Erzeugnisses und seiner unbestreitbaren Bedeutung für die Große Beschwerdekammer könnte eine mögliche Auslegung des letzten Satzes von Nummer 1.4 der Entscheidungsgründe wie folgt lauten: Wenn die Fachperson ohne unzumutbaren Aufwand [1] die Zusammensetzung oder die innere Struktur des Erzeugnisses erschließen und [2] das Erzeugnis reproduzieren kann, werden sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur Bestandteil des Stands der Technik.
14. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die ursprüngliche Vorlage auf die Frage bezog, ob die Zusammensetzung zum Stand der Technik gehört, und daher die Frage der Analyse und Reproduktion des Erzeugnisses so verstanden werden könnte, dass es dabei ausschließlich um die Analyse und Reproduktion der Zusammensetzung geht, gibt es auch eine andere nachvollziehbare Lesart. Demnach würde auch folgende Auslegung Sinn ergeben: Wenn die Fachperson ohne unzumutbaren Aufwand [1] die Zusammensetzung oder die innere Struktur des Erzeugnisses erschließen und [2] die Zusammensetzung oder die innere Struktur des Erzeugnisses ohne unzumutbaren Aufwand reproduzieren kann, werden sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur Bestandteil des Stands der Technik. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Reproduzierbarkeit der Zusammensetzung, was wiederum den Schluss zulässt, dass es von Anfang an nur um die Einstufung der Zusammensetzung als Stand der Technik und nicht um die des Erzeugnisses ging. Daraus wiederum lässt sich mehr oder weniger direkt schlussfolgern, dass, wenn es überhaupt etwas vom Stand der Technik auszuschließen gilt, dies die Eigenschaft sein muss, der das Problem zugrunde liegt, nämlich die nicht reproduzierbare Zusammensetzung.
15. Je nachdem, ob der Schwerpunkt von G 1/92 in der Reproduktion des Erzeugnisses oder der Zusammensetzung gesehen wird, ist es dann verlockend, aus den verschiedenen Feststellungen von G 1/92 Rückschlüsse auf die fehlende Einstufung des Erzeugnisses oder nur der Zusammensetzung als Stand der Technik zu ziehen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zumindest auf der Grundlage einer rein grammatikalischen Auslegung beide von der vorlegenden Kammer vorgeschlagene Auslegungsmöglichkeiten (Nr. 11 i) der Entscheidungsgründe) plausibel sind. Somit legt die Große Beschwerdekammer die Vorlagefragen mit diesem Verständnis der Stellungnahme G 1/92 aus.
2.2. Frage 1, Umfang und Auslegung
16. Die erste Frage ist die entscheidende Frage der Vorlage. Mit ihrer Beantwortung soll geklärt werden, ob die erste oder die zweite Auslegung, die beide in der Rechtsprechung zu finden sind, korrekt ist (Nr. 11 i) der Entscheidungsgründe, vgl. Nrn. 13 und 14 oben).
17. Die Große Beschwerdekammer geht davon aus, dass die vorlegende Kammer für ihre Entscheidung wissen muss, ob nach korrekter Auslegung der Rechtsprechung das nicht analysier- und reproduzierbare Erzeugnis als solches gleichsam fiktiv vom Stand der Technik auszuschließen ist oder ob G 1/92 nur meinte, dass zwar die Zusammensetzung des Erzeugnisses kein Bestandteil des Stands der Technik wird, das Erzeugnis selbst aber dennoch fest zum Stand der Technik gehört (und als solches potenziell alle seine weiteren Merkmale offenbart, die ihrerseits analysier- und reproduzierbar waren). Wenn hier und im Folgenden von der Reproduktion der Zusammensetzung eines Erzeugnisses die Rede ist, so ist damit, wo immer möglich, die "Zusammensetzung oder innere Struktur" im Sinne des Leitsatzes II und der allgemeinen Gründe von G 1/92 gemeint.
18. Frage 1 ist jedoch nicht auf die Auswahl einer der beiden Auslegungen der vorlegenden Kammer beschränkt. Sie kann auch beantwortet werden, indem das festgestellte Fehlen einer rechtlichen Grundlage für das Erfordernis der Ausführbarkeit, wie von der vorlegenden Kammer in Nummer 10.4 der Entscheidungsgründe angegeben, untersucht wird. Alternativ kann die Frage auch auf der Grundlage der vom Amtspräsidenten vorgeschlagenen Auslegung (vgl. Nr. XI oben) beantwortet werden.
19. Das Erzeugnis an sich wurde nicht formal, d. h. als physisches Beweismittel, für die Zwecke einer Augenscheinseinnahme im Sinne des Artikels 117 (1) f) EPÜ, sondern als eine im Dokument D1 erwähnte Ausführungsform in das Verfahren eingeführt. Dieser Umstand scheint für die Vorlage nicht von Belang zu sein. Die Frage der Reproduzierbarkeit eines im Handel erhältlichen Erzeugnisses wäre aller Wahrscheinlichkeit nach dieselbe gewesen, wenn von Anfang an direkt auf das Erzeugnis Bezug genommen worden wäre. Die Kammer identifizierte das Erzeugnis direkt als möglichen nächstliegenden Stand der Technik für die Frage der erfinderischen Tätigkeit. Die Einstufung des Dokuments D1 als Stand der Technik wurde in der Vorlageentscheidung nicht infrage gestellt. Auch die Patentinhaberin sah die allgemeine Offenbarung von D1 als geeignetsten Stand der Technik an.
20. Für ein umfassendes Verständnis der für die Vorlage relevanten Fragen ist es hilfreich zu klären, wie die Große Beschwerdekammer einige relevante Begriffe der Vorlagefragen auslegt.
21. Zur einfacheren Lesbarkeit wird Frage 1 wiederholt: "Ist ein Erzeugnis, das vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht (3) wurde, schon allein deshalb vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ auszuschließen, weil seine Zusammensetzung oder innere Struktur (1) vom Fachmann vor diesem Tag nicht ohne unzumutbaren Aufwand (5) analysiert und reproduziert (2, 4) werden konnte?" (Hervorhebungen und Nummerierung durch die Kammer).
2.2.1. (1): Analyse und Reproduktion der Zusammensetzung anstelle des Erzeugnisses
22. In ihrer Antwort in G 1/92 formulierte die Große Beschwerdekammer eindeutig das Erfordernis der Analyse und Reproduktion des Erzeugnisses. Die vorlegende Kammer richtete die Fragen dagegen auf die Analyse und Reproduktion der Zusammensetzung, ohne jedoch eine Erklärung für diese Abweichung zu liefern. Dies muss für sich genommen keine bedeutende Verschiebung darstellen, sondern spiegelt möglicherweise nur die Auffassung der vorlegenden Kammer wider, dass in G 1/92 wohl eher die Reproduktion der Zusammensetzung gemeint war. Es mag streitig sein, ob G 1/92 das gesamte Erzeugnis vom Stand der Technik ausschließt oder nur die Zusammensetzung, wie in der vorliegenden Entscheidung ausführlich erörtert. Dennoch besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Aufgabe der Fachperson, das Erzeugnis zu reproduzieren, im Wesentlichen gleichbedeutend ist mit der Aufgabe, die Zusammensetzung zu reproduzieren. Weder in G 1/92 noch in der Vorlageentscheidung gibt es einen Hinweis darauf, dass die Analyse und Reproduktion des Erzeugnisses durch etwas anderes behindert würde als durch den Mangel an für die Analyse und Reproduktion der Zusammensetzung erforderlichem Fachwissen. Wie bereits unter Nummer 17 erwähnt, kann diese Zusammensetzung auch gleichbedeutend mit der inneren Struktur sein. Im vorliegenden Fall war zwischen den Beteiligten streitig, ob die Polymerstruktur von ENGAGE® 8400 in ausreichendem Maß analysiert und reproduziert werden konnte, vgl. Nummer III oben.
2.2.2. (2): Kombinierte Bedingung "analysiert UND reproduziert"
23. Die Ausführungen und Analysen der Rechtsprechung in der Vorlageentscheidung und letztlich die Vorlagefragen legen nahe, dass der erste Aspekt bereits unter der Annahme zu prüfen ist, dass die doppelte Bedingung der Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit eines im Handel erhältlichen Erzeugnisses, wie in G 1/92 festgestellt, zumindest formal als gültiges Erfordernis anzusehen ist. Das Fehlen einer Rechtsgrundlage im Übereinkommen (und in den vorbereitenden Arbeiten, den "Travaux préparatoires") scheint nicht die Hauptsorge der vorlegenden Kammer zu sein. Eine andere Frage betrifft die Auslegung dieses Erfordernisses, beispielsweise in welchem Umfang die Analyse und Reproduktion für die Fachperson möglich sein sollten. Die letzteren Fragen werden durch die identifizierten Aspekte als ii) für die Analyse dieses Erzeugnisses erforderliche Genauigkeit und iii) Erfordernisse für seine Reproduzierbarkeit behandelt.
24. In Bezug auf Frage 1 vertritt die Große Beschwerdekammer die Auffassung, dass eine von der Reproduzierbarkeit unabhängige Betrachtung der Analysierbarkeit nicht erforderlich ist. Eine andere Schlussfolgerung lässt sich auch nicht aus dem Wortlaut von Frage 3 ziehen, in der die vorlegende Kammer nach der für die Analyse geforderten Genauigkeit (vollständig vs. teilweise, vgl. Nr. 11 der Entscheidungsgründe, Aspekt ii)) und den Erfordernissen für die Reproduktion (identisch oder partiell, vgl. Nr. 11 der Entscheidungsgründe, Aspekt iii)) fragt, wobei diese beiden Fragen nicht unabhängig voneinander erörtert werden.
25. Die Große Beschwerdekammer kommt zu dem Schluss, dass sich alle drei von der vorlegenden Kammer genannten Aspekte zumindest auf das Erfordernis der Reproduzierbarkeit beziehen, d. h. darauf, ob dieses tatsächlich eine gültige Voraussetzung dafür ist, dass ein Erzeugnis zum Stand der Technik gehört. Die Aussagen in G 1/92, Nummer 1.4 der Entscheidungsgründe, scheinen ebenfalls die Reproduktion (Herstellung) des Erzeugnisses als Endziel der Fachperson zu sehen und unterstreichen, dass die Reproduzierbarkeit ein entscheidendes Kriterium ist.
2.2.3. (3): Auf den Markt gebrachtes Erzeugnis: künstlich hergestellt oder natürlich vorkommend
26. In dem der Vorlageentscheidung zugrunde liegenden Fall handelte es sich bei dem betreffenden Erzeugnis um ein im Handel erhältliches, künstlich hergestelltes Erzeugnis. In der Beschwerdeakte wird nicht erörtert, ob das Polymer ENGAGE® 8400 noch zu einem späteren Zeitpunkt, z. B. am Anmeldetag oder noch später, im Handel erhältlich war. Für die Vorlageentscheidung scheinen diese Fragen in Bezug auf die Einstufung von ENGAGE® 8400 als Stand der Technik keine Rolle zu spielen.
27. Die Große Beschwerdekammer bezweifelt nicht, dass die plausibelste spontane Auslegung eines "auf den Markt gebrachten Erzeugnisses" darin besteht, dass das Erzeugnis künstlich hergestellt wurde. Die Entscheidungsgründe von G 1/92 liefern keinen Anhaltspunkt dafür, dass die dort getroffenen Feststellungen nicht in gleicher Weise für natürlich vorkommende Materialien wie für künstlich hergestellte Erzeugnisse gelten. Die Vorlagefragen beziehen sich nicht nur auf künstlich hergestellte Erzeugnisse, sondern auch auf natürlich vorkommende Materialien.
28. Auch die Tatsache, dass das Erzeugnis nicht für jedermann frei zugänglich ist, sondern von einem Unternehmen verkauft wird, scheint keinen rechtserheblichen Unterschied zu begründen. So ist die Beschaffung natürlich vorkommender Materialien in den meisten Fällen mit Kosten verbunden. Auch natürlich vorkommende Rohstoffe sind in der Regel nicht für jedermann im wirtschaftlichen Sinne frei zugänglich. Ebenso wie bei künstlich hergestellten Erzeugnissen wird der praktische Zugang durch Wirtschaftsakteure kontrolliert.
29. De facto sind auch natürlich vorkommende Materialien, einschließlich einfacher chemischer Standardzusammensetzungen, auf den Markt gebrachte Erzeugnisse. Es ist allgemein bekannt, dass Unternehmen, die verschiedene chemische Erzeugnisse herstellen, die Ausgangsstoffe sehr oft nicht selbst produzieren, sondern von Spezialanbietern beziehen. Ein "auf den Markt gebrachtes Erzeugnis" muss also nicht unbedingt eine besonders raffinierte chemische Zusammensetzung sein. Selbst reine chemische Elemente würden auf dem Markt normalerweise als ein "auf den Markt gebrachtes Erzeugnis" erscheinen, einige davon im Wesentlichen in derselben Form, wie sie in der Natur vorkommen. Der Anbieter eines "auf den Markt gebrachten Erzeugnisses" muss also nicht unweigerlich auf eine weitere chemische Verarbeitung zurückgreifen, bei der eine chemische Verbindung in eine andere umgewandelt wird, deren chemische Zusammensetzung sich von der des Ausgangsstoffs bzw. der Ausgangsstoffe unterscheidet.
30. Daraus lässt sich schließen, dass die Einstufung von auf den Markt gebrachten nicht reproduzierbaren künstlich hergestellten Erzeugnissen und von nicht reproduzierbaren natürlich vorkommenden Materialien als Stand der Technik gleich bewertet werden kann. Dementsprechend umfasst die Formulierung "auf den Markt gebrachtes Erzeugnis" sowohl künstlich hergestellte als auch natürlich vorkommende Erzeugnisse.
2.2.4. (4): Bedeutung von "reproduzieren"
2.2.4.1. Die Reproduktion muss eine physische Reproduktion sein
31. Die Große Beschwerdekammer hält es für unstreitig, dass in G 1/92 mit Reproduktion die Fähigkeit gemeint ist, ein physisch vorhandenes Erzeugnis physisch zu reproduzieren. Dies wird dort deutlich, wo G 1/92 erwartet, dass die Fachperson in der Lage ist, das Erzeugnis herzustellen (Nr. 1.4 der Entscheidungsgründe). Bei der physischen Reproduktion eines Erzeugnisses muss die Fachperson in der Lage sein, eine materielle Kopie des Erzeugnisses herzustellen, die sie nach ihrem Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Reproduktion des Erzeugnisses als physisch und technisch gleichwertig mit dem zu reproduzierenden ursprünglichen Erzeugnis ansehen würde. An dieser Stelle kann dahingestellt bleiben, ob verborgene Eigenschaften des Erzeugnisses aufgrund fehlender Analyseinstrumente oder schlicht aus mangelndem Interesse der Fachperson, alle potenziell analysierbaren Eigenschaften des Erzeugnisses vollständig zu erkunden, das reproduzierte Erzeugnis von dem ursprünglichen Erzeugnis, das die Fachperson zu reproduzieren sucht, unterscheiden würden.
2.2.4.2. Möglichkeiten der physischen Reproduktion: Übernahme des Erzeugnisses in seiner ohne Weiteres zugänglichen Form oder Herstellung desselben aus einem anderen Ausgangsstoff
32. Bei der Definition der physischen Reproduktion in diesem Sinne scheint der Begriff "reproduzieren" zwei Möglichkeiten zu umfassen. Wenn das Erzeugnis auf den Markt gebracht wurde und über einen angemessenen Zeitraum und in angemessenen Mengen verfügbar war, eröffnet sich der Fachperson in der Regel die Möglichkeit, das Erzeugnis in seiner ohne Weiteres zugänglichen Form erneut zu erwerben. Auf diese Weise könnte die Fachperson eine physische Kopie des Erzeugnisses erhalten, die mit den zuvor verkauften Kopien des Erzeugnisses in der Regel technisch gleichwertig ist. Wenn die Fachperson die Zusammensetzung des Erzeugnisses analysieren und dadurch bestimmen kann, so versetzt die Übernahme des Erzeugnisses die Fachperson auch in die Lage, die Zusammensetzung zumindest in der Form herzustellen, in der sie im Erzeugnis erscheint, wenn die Fachperson gezielt versucht, die Zusammensetzung physisch zu reproduzieren. Dies ist wahrscheinlich der einfachste Weg für die Fachperson, physische Kopien des betreffenden Erzeugnisses zu erhalten, wenn sie das Erzeugnis für einen technischen Zweck benötigt, sei es zur Verwendung in seiner ohne Weiteres zugänglichen Form oder zur Umwandlung in ein anderes Erzeugnis.
33. Alternativ kann die Fachperson aber auch einen anderen Weg wählen. So könnte die Fachperson je nach Erzeugnis, Reproduktionszweck und ihren technischen Möglichkeiten in Erwägung ziehen, das Erzeugnis selbst herzustellen. In diesem Fall würde die Fachperson nach einem geeigneten Herstellungsverfahren suchen, was impliziert, dass die Fachperson von einem Ausgangsstoff ausgeht, der sich in irgendeiner Weise von der Form unterscheidet, in der das Erzeugnis auf den Markt gebracht worden ist.
34. Eine dritte Möglichkeit der physischen Reproduktion im Sinne von G 1/92 ist nicht ersichtlich. Es versteht sich, dass in der Praxis beide Optionen nur als theoretische Übung in einigen Verfahren geprüft werden, in denen der Stand der Technik ermittelt werden soll, wenngleich nicht ausgeschlossen ist, dass die Beteiligten auch physische Beweise vorlegen, um bestimmte Fragen in den normalerweise schriftlichen und mündlichen Verfahren zu untermauern.
35. Das Erfordernis der Reproduzierbarkeit in G 1/92 scheint auf der Annahme zu beruhen, dass die Fachperson unweigerlich nach einer technischen Lehre sucht, die ihr die Herstellung des Erzeugnisses ermöglicht. Die Übernahme des Erzeugnisses in seiner ohne Weiteres verfügbaren Form bringt die Fachperson also bei dem Versuch, das Erzeugnis selbst herzustellen – ein für die Fachperson möglicher und in der Tat vernünftiger und plausibler technischer Zweck – möglicherweise nicht weiter. Eine aus dem Stand der Technik ableitbare technische Lehre ist jedoch nicht auf Informationen über die Herstellung oder Verwendung eines Erzeugnisses beschränkt, auch wenn dies ein "wesentlicher Zweck" einer technischen Lehre sein kann, wie in G 1/92, Nummer 1.4 der Entscheidungsgründe, Satz 1, ausgeführt. Die dort verwendete Formulierung "ein wesentlicher Zweck jeder technischen Lehre" (Unterstreichung hinzugefügt) scheint anzudeuten, dass jede technische Lehre, die nicht dem unmittelbaren Zweck der Herstellung oder Verwendung des Erzeugnisses dient, von dem diese Lehre abgeleitet wurde, überhaupt keine technische Lehre ist. Eine derartige Einschränkung technischer Lehren des Stands der Technik, erscheint jedoch offensichtlich ungerechtfertigt. Von einem Erzeugnis abgeleitete technische Lehren können für die Fachperson auch für eine Verwendung nützlich sein, die nicht mit den ursprünglichen Verwendungen des Erzeugnisses zusammenhängt.
36. G 1/92 verlangt auch nicht, dass eine technische Lehre, die "sich ... aus einem Erzeugnis [ergibt], das auf den Markt gebracht wird", unmittelbar auf die Herstellung des Erzeugnisses selbst gerichtet sein und als solche zwangsläufig der "Reproduktion" des Erzeugnisses dienen muss. Auch eine technische Lehre, die die Verwendung des Erzeugnisses betrifft, ist offensichtlich eine technische Lehre und würde unter den "wesentlichen Zweck" der aus dem Erzeugnis ableitbaren technischen Lehre fallen. Die zuvor in G 1/92 (Nr. 1.3 der Entscheidungsgründe) verwendete Formulierung legt nahe, dass sich die technische Lehre über die Verwendung des Erzeugnisses aus seiner offenkundigen Benutzung ableiten lässt. Es gibt jedoch keinen Grund, den Begriff "Verwendung" hier in einem besonders engen Sinne zu verstehen. Wird ein Erzeugnis mit der eindeutigen Absicht auf den Markt gebracht, es zu verschiedenen anderen Erzeugnissen zu verarbeiten, wie es bei dem Polymer ENGAGE® 8400 der Fall ist, so muss die technische Lehre über die "Verwendung" zwangsläufig Herstellungsschritte umfassen, die möglicherweise nicht das fragliche Erzeugnis, sondern ein anderes Erzeugnis betreffen. Dies wiederum setzt voraus, dass sich die Fachperson mit allen möglichen technischen Informationen befasst, die sich aus dem betreffenden Erzeugnis ableiten lassen, wie etwa seiner Zusammensetzung und anderen physikalischen Eigenschaften, ohne dabei notwendigerweise die Herstellung des Erzeugnisses selbst im Sinn zu haben.
2.2.4.3. G 1/92 und die Vorlageentscheidung sind so zu verstehen, dass die Reproduktion auf einem anderen Weg erfolgt
37. Es hat den Anschein, dass in der gesamten Rechtsprechung bei der Analyse des Erfordernisses der Reproduzierbarkeit eines bestimmten Erzeugnisses zur Auslegung von G 1/92 Reproduktion nur im zweiten Sinne verstanden wird (vgl. Nr. 33 oben), nämlich als Herstellung des Erzeugnisses nach einem anderen Verfahren als dem der Übernahme in seiner ohne Weiteres zugänglichen Form. Nur mit diesem Verständnis von Reproduzierbarkeit erscheinen die Feststellungen in G 1/92 und die Fragen der Vorlageentscheidung Sinn zu ergeben. Sowohl G 1/92 als auch die Vorlageentscheidung setzen voraus, dass das Erzeugnis auf den Markt gebracht wurde und als solches physisch zugänglich ist. Mit der Annahme einer einfachen Übernahme des Erzeugnisses "wie es ist" zum Zwecke der Reproduktion würden offensichtlich einige Aussagen in G 1/92 und den Vorlagefragen überflüssig. Die Feststellung in G 1/92 "Ergibt sich eine solche Lehre aus einem Erzeugnis, das auf den Markt gebracht wird, so muß der Fachmann auf sein allgemeines Fachwissen zurückgreifen, um Aufschluß über alle zur Herstellung dieses Erzeugnisses benötigten Informationen zu gewinnen" (Nr. 1.4 der Entscheidungsgründe, Satz 2, oben erörtert) lässt sich nur schwer anders interpretieren, als ein impliziter Ausschluss des Kaufs des Erzeugnisses als eine Möglichkeit, es "herzustellen".
38. Daraus lässt sich schließen, dass der Begriff "reproduziert", wie er in der Vorlageentscheidung verwendet wird, als "Reproduktion auf einem anderen Weg" zu verstehen ist, d. h. nicht dadurch, dass das Erzeugnis in der bestimmten Form übernommen wird, in der es auf den Markt gebracht wurde und ohne Weiteres zugänglich ist. Auch die Beteiligten stimmten darin überein, dass dies die richtige Auslegung der Vorlagefragen sei. Um Missverständnisse zu vermeiden, grenzt die Reproduktion "auf einem anderen Weg" lediglich diese Art der Reproduktion von der wiederholten Übernahme des Erzeugnisses vom Markt ab. Dies bedeutet nicht, dass sich das von der Fachperson vorgesehene Verfahren zur Herstellung des Erzeugnisses zwangsläufig von dem des Verkäufers des Erzeugnisses unterscheiden muss. Letzteres Verfahren wäre ohnehin nicht allgemein zugänglich, wenn das Erzeugnis als auf anderem Weg nicht reproduzierbar angesehen würde.
2.2.4.4. Die Reproduktion muss auf den Kenntnissen der Fachperson beruhen
39. Schließlich ist zu beachten, dass die Forderung nach Reproduzierbarkeit des auf den Markt gebrachten Erzeugnisses in G 1/92 eindeutig auf dem allgemeinen Fachwissen der Fachperson vor dem Anmeldetag basiert. Die üblichen zusätzlichen Informationen in einer Patentanmeldung, die die Fachperson im Sinne von Artikel 83 EPÜ unterstützen sollen, helfen hier nicht weiter. Reproduziert werden soll nicht eine bestimmte, in einer Patentanmeldung offenbarte Erfindung, sondern der (potenzielle) Stand der Technik, der nicht zusammen mit der Anmeldung, sondern ohne sie bewertet wird. Jede zusätzliche Lehre in einem Patent stellt keine Information dar, die selbst zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gehören würde, und kann als solche nicht in die Bestimmung der Lehre des Stands der Technik einfließen. Somit kann sie der Fachperson nicht dabei helfen, etwas zu ergänzen, was im allgemeinen Fachwissen oder im Stand der Technik fehlt, wenn die Fachperson mit einer nicht nacharbeitbaren Lehre im Stand der Technik konfrontiert wird.
2.2.5. (5): Ohne unzumutbaren Aufwand
40. Je nach Auslegung des Begriffs "ohne unzumutbaren Aufwand" scheint es in der Rechtsprechung Divergenzen zu geben (siehe insbesondere T 952/92). Der Bedeutungsumfang dieses Begriffs könnte eine Rolle spielen, falls Frage 3 von der Großen Beschwerdekammer beantwortet werden sollte. Außerdem wurde die Große Beschwerdekammer in Amicus-curiae-Schriftsätzen dazu aufgefordert, hinsichtlich der Grenzen dieses Erfordernisses Klarheit zu schaffen. Die Vorlageentscheidung selbst hat dieses Erfordernis offenbar in die Vorlagefragen aufgenommen, weil es in G 1/92 erwähnt wurde (siehe die entscheidende Passage in Nummer 1.4 der Entscheidungsgründe), auch wenn in G 1/92 nicht näher auf dieses Erfordernis eingegangen wird und es in der abschließenden Antwort nicht einmal Erwähnung findet. Das Erfordernis braucht nicht weiter analysiert und interpretiert zu werden, als sich aus G 1/92 ableiten lässt. Für die Zwecke der Vorlage genügt die Annahme, dass Analyse und Reproduktion keinen unzumutbaren Aufwand darstellen, wenn sie auf der Grundlage des allgemeinen Fachwissens der Fachperson erfolgen können.
2.3. Fragen 2 und 3
41. Zu Frage 2 enthält die Vorlageentscheidung keine besondere Erläuterung. Aus Nummer 22 der Entscheidungsgründe geht hervor, dass die zusätzliche Frage nach dem Status technischer Informationen aus schriftlichen Nachweisen über ein nicht reproduzierbares Erzeugnis aus Sicht der vorlegenden Kammer möglicherweise mit der Einstufung dieser Erzeugnisse als Stand der Technik in Zusammenhang steht. Die Frage hängt insofern von der Antwort auf Frage 1 ab, als sie nur dann zu beantworteten ist, wenn die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss kommt, dass nicht reproduzierbare Erzeugnisse als solche zum Stand der Technik gehören. Andernfalls ist nicht ersichtlich, warum die Beantwortung dieser Frage andere Überlegungen erfordern sollte als die Beantwortung von Frage 1.
42. Frage 3 wäre nur dann relevant, wenn die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss käme, dass es sich bei dem Erfordernis der Nacharbeitbarkeit tatsächlich um ein gültiges Erfordernis handelt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedarf sie keiner weiteren Beachtung.
2.4. Die Auswirkungen des Erfordernisses der Reproduzierbarkeit
43. Der Vorlageentscheidung zufolge sind mindestens zwei unterschiedliche Auslegungen von G 1/92 möglich (Nrn. 11 i), 12 der Entscheidungsgründe): Wenn die Zusammensetzung (und damit das Erzeugnis) nicht reproduziert werden kann, gehört (1) das Erzeugnis selbst (und damit unweigerlich seine Zusammensetzung) in seiner Gesamtheit nicht zum Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ oder (2) nur die Zusammensetzung des Erzeugnisses nicht zum Stand der Technik, während das Erzeugnis selbst und seine reproduzierbaren Eigenschaften zum Stand der Technik gehören. Es werden mehrere Entscheidungen angeführt, die beide Auslegungen stützen. Wie gezeigt wird, genügt die Entscheidung dieses Punkts allein, um alle Vorlagefragen zu beantworten, und scheint auch für die vorlegende Kammer ausreichend zu sein, um über den vorliegenden Fall zu entscheiden.
2.4.1. Erste Auslegung: Das auf den Markt gebrachte Erzeugnis gehört in seiner Gesamtheit nicht zum Stand der Technik
44. Zunächst wird die Praktikabilität der ersten Auslegung geprüft. Nach dieser Auslegung gehört das Erzeugnis als solches, d. h. in seiner Gesamtheit, nicht zum Stand der Technik. Dies läuft auf die Annahme hinaus, dass das nicht reproduzierbare Erzeugnis vollständig außer Acht zu lassen ist, da die fiktive Durchschnittsfachperson nichts von seiner Existenz weiß. Das nicht reproduzierbare Erzeugnis ist für die Fachperson schlichtweg nicht existent.
2.4.1.1. Das Erfordernis der Reproduzierbarkeit schafft eine rechtliche Fiktion
45. Vor jeder weiteren Analyse der Frage im Rechtsrahmen des EPÜ dürfte bereits klar sein, dass eine solche Annahme in direktem Widerspruch zur Alltagserfahrung steht und offensichtlich nicht für jede beliebige Fachperson gelten kann. Das Polymer ENGAGE® 8400 bietet sich als aufschlussreiches Beispiel an: Dieses Erzeugnis wurde gezielt als Mehrzweckpolymer auf den Markt gebracht, das für verschiedene Anwendungen infrage kommt. Der Hersteller bemühte sich, das Erzeugnis zu bewerben und es allen potenziellen Kunden bekannt zu machen, wie beispielsweise aus den aktenkundigen Dokumenten D5a und D5 eindeutig hervorgeht. Von den Kunden war zu erwarten, dass sie das Erzeugnis mit der klaren Absicht kaufen, es für einen bestimmten technischen Zweck zu verwenden – zumindest in der vom Hersteller gelieferten Form. Bei diesen Kunden des Herstellers handelte es sich zweifellos um Fachpersonen auf ihrem Gebiet.
46. Dass der Hersteller zu derselben Zeit alle Anstrengungen unternommen hat, um die Produktionsgeheimnisse, einschließlich der Herstellungsschritte und der genauen Zusammensetzung des Materials, vor seinen Konkurrenten zu verbergen, ist eine andere Sache. Es bedarf jedoch einer Unterscheidung zwischen technischen Lehren, die sich aus dem physischen Erzeugnis selbst ableiten lassen, und der technischen Lehre, die zur Herstellung des Erzeugnisses benötigt wird.
47. Eine solche Unterscheidung zwischen verschiedenen Lehren des Stands der Technik ist im Patentrecht nach dem EPÜ nicht unüblich. Bei Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes kann es durchaus ein plausibles Argument sein, dass nicht vorausgesetzt werden kann, dass die Fachperson, die mit der objektiven technischen Aufgabe konfrontiert ist, ein Erzeugnis mit ähnlichen Eigenschaften herzustellen, von dem Erzeugnis ENGAGE® 8400 ausgehen würde, da dessen Herstellungsverfahren nicht allgemein zugänglich ist. Es kann argumentiert werden, dass sich die Fachperson einem anderen Ausgangspunkt zuwenden würde, rein unter dem Aspekt der Identifizierung des theoretischen "nächstliegenden Stands der Technik", vgl. RBK I.D.3 mit Unterpunkten, insbesondere I.D.3.5.1 bis I.D.3.5.3. Für diese Annahme ist es nicht erforderlich, so weit zu gehen, zu behaupten, dass das Polymer überhaupt nicht existiert. Es genügt festzustellen, dass das Verfahren zu dessen Herstellung nicht bekannt ist.
48. Allerdings wird sich selbst diese etwas künstliche Annahme des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes in keiner realen Situation wiederfinden. Im Gegenteil: Die Konkurrenten des Herstellers von ENGAGE® 8400 werden das Polymer ebenfalls genau untersuchen und versuchen, es unter allen möglichen Aspekten zu analysieren. Die Behauptung, dass das Erzeugnis als solches für die Fachperson im Sinne einer jeglichen Fachperson nicht existiert – und folglich auch für eine jegliche technische Lösung unerheblich ist –, ist eindeutig abwegig, völlig unplausibel und widerspricht offenkundig notorisch bekannten Tatsachen. Somit kann das rechtlich nicht existierende, aber ansonsten im Handel erhältliche Erzeugnis, das Fachpersonen sogar gezielt zur Kenntnis gebracht wird, nur als rechtliche Fiktion angesehen werden. Rechtliche Fiktionen, die an die Stelle von Fakten treten, existieren im Recht und so auch im Patentrecht, sie sollten jedoch in der Regel ausdrücklich im Gesetz erwähnt werden. Schon aus diesen Gründen ist die Fiktion des Ausschlusses des Erzeugnisses vom Stand der Technik unter großem Vorbehalt zu betrachten.
2.4.2. Die Fachperson benötigt ohne Weiteres zugängliche Materialien, auch wenn diese nicht reproduzierbar sind
49. Wie bereits dargelegt (siehe Nr. 33 oben), bedeutet Reproduzierbarkeit im Sinne der Vorlagefragen, dass die Reproduktion auf einem anderen Weg erfolgt, was bedeutet, dass die Fachperson versuchen muss, das Erzeugnis aus geeigneten Ausgangsstoffen zu reproduzieren. Als einfaches illustratives Beispiel könnte es sich bei der zu reproduzierenden technischen Lehre um die Zusammensetzung und entsprechende Herstellung einer relativ einfachen chemischen Verbindung handeln, bei der zu erwarten ist, dass die Herstellung nur wenige und einfache Verfahrensschritte erfordert.
50. Es scheint unstreitig, dass die Fachperson für die Reproduktion der betreffenden technischen Lehre nicht mehr als das allgemeine Fachwissen benötigen sollte. Dies ergibt sich auch aus der in T 206/83 formulierten Prämisse, dass die Schwelle der reproduzierbaren Offenbarung durch den Stand der Technik die des Artikels 83 EPÜ ist, nämlich die (des Fachwissens) der Fachperson.
51. Ebenfalls unstreitig scheint, dass das allgemeine Fachwissen nur auf dem Stand der Technik basieren kann. Beide werden als der Öffentlichkeit zugängliche technische Informationen verstanden. Der Stand der Technik wird mit den Augen der Fachperson gesehen. Das Fachwissen, an dem der Beitrag einer Erfindung gemessen wird, ist die technische Lehre, die die Fachperson dem Stand der Technik entnehmen würde. Die Fachperson hat keine andere Quelle als den Stand der Technik, aus dem sie ihr allgemeines Fachwissen schöpfen kann. Folglich kann eine Lehre, die nicht zum Stand der Technik gehört, auch nicht zum allgemeinen Fachwissen der Fachperson gehören. Auch nach gefestigter Rechtsprechung gehört das allgemeine Fachwissen zum Stand der Technik, vgl. RBK, Kapitel I.C.2.8.
52. Am Rande sei bemerkt, dass sich der öffentlich zugängliche Charakter des allgemeinen Fachwissens nicht aus dem Begriff "allgemein" ergibt. Der Begriff "allgemeines Fachwissen" ist nicht als "allgemeines Wissen, das jedermann gehört und sich im Gemeinbesitz befindet," auszulegen. Vielmehr handelt es sich um "grundlegendes oder allgemeines Wissen, das jeder Fachperson auf dem betreffenden Gebiet bekannt ist," im Sinne von Wissen, das weder hoch spezialisiert ist noch dem neuesten Stand der Technik entspricht, siehe RBK, Kapitel I.C.2.8.2 und I.C.2.8.3. Dies entspricht den anerkannten englischen und französischen Versionen des Begriffs: common general knowledge, connaissances générales de base.
53. Ebenso gilt es als unstreitig, dass das "allgemeine Fachwissen" per definitionem das Wissen einer größeren Gruppe von Fachpersonen auf einem bestimmten Gebiet ist. Typische Wissensquellen und damit hervorragende Beispiele für öffentlich verfügbare Dokumente sind Lehrbücher, Handbücher, Nachschlagewerke und Unterrichtsmaterialien von Universitäten. Gibt es keine schriftlichen Quellen, so wird das Wissen der Fachperson aus der Tatsache abgeleitet, dass eine bestimmte technische Lehre von einer großen Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet tätiger Fachpersonen als bekannt angesehen wird, wobei alle von ihnen die jeweiligen technischen Informationen als so bekannt ansehen, dass ihre öffentliche Zugänglichkeit – in dem Sinne, dass sie nicht vertraulich und nur einer beschränkten Gruppe bekannt sind – über jeden Zweifel erhaben ist.
54. Es mag diskutiert werden, warum und inwieweit der Stand der Technik weiter gefasst sein kann als das allgemeine Fachwissen, wie etwa in der Rechtsprechung festgestellt (u. a. in T 206/83, vgl. Nrn. 4 bis 6 der Entscheidungsgründe); im gegenwärtigen Zusammenhang ist dies jedoch nicht relevant. Entscheidend ist, dass das allgemeine Fachwissen nicht über den Stand der Technik hinausgehen kann.
55. Die erste Auslegung (vgl. Nr. 44 oben) postuliert, dass nicht reproduzierbare, aber dennoch vorhandene und im Handel erhältliche Erzeugnisse nicht zum Stand der Technik gehören. Dies wurde tatsächlich in mehreren Entscheidungen festgestellt (so auch in den neueren Entscheidungen T 1833/14 und T 23/11). Auch die Patentinhaberin verfolgt diese Argumentationslinie.
56. Die Große Beschwerdekammer vertritt die Auffassung, dass die erste Auslegung zu einem absurden Ergebnis führt und daher nicht zutreffen kann. Dies wird im Folgenden erläutert.
57. Sähe man arguendo die erste Auslegung als richtig an, so würde daraus unmittelbar folgen, dass nicht reproduzierbare Erzeugnisse, die vom Stand der Technik ausgeschlossen sind, auch nicht zum allgemeinen Fachwissen gehören können. Andererseits kann sich die Fachperson bei dem Versuch, eine schriftliche oder anderweitige Offenbarung im Sinne einer echten physischen Reproduktion der jeweiligen technische Lehre nachzuarbeiten, sei es ein Erzeugnis oder ein Verfahren, nur auf das allgemeine Fachwissen stützen. Das bedeutet, dass die Fachperson nur Ausgangsstoffe verwenden kann, die ihrerseits zum Stand der Technik gehören; dies folgt aus der Prämisse, dass das allgemeine Fachwissen nicht über den Stand der Technik hinausgehen kann. Wenn nicht reproduzierbare Erzeugnisse für die Fachperson nicht existieren, können sie auch nicht als Ausgangsstoff verwendet werden.
58. Daraus folgt, dass für die Fachperson nur solche Ausgangsstoffe infrage kommen, die auf andere Weise reproduzierbar sind als durch bloße Beschaffung auf dem Markt oder aus der Natur. In der Praxis kann die Fachperson möglicherweise auf jeden verfügbaren "Ausgangsstoff", also auch auf jedes im Handel erhältliche oder natürlich vorkommende Material, zurückgreifen, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie sicher ist, ihre Ausgangsstoffe theoretisch reproduzieren zu können.
59. Um das Verfahren zu veranschaulichen, wird die Fachperson in der nächsten Runde auf "Vorläuferstoffe" zurückgreifen müssen, um ihren "Ausgangsstoff" zu reproduzieren (ein anderer Begriff wird nur zur besseren Unterscheidung von den vorherigen "Ausgangsstoffen" verwendet). Mit derselben Logik müssen auch die Vorläuferstoffe, die im obigen Beispiel zu den Ausgangsstoffen führen, reproduzierbar sein. Aber auch hier gilt nach der Ausgangsprämisse, dass nicht reproduzierbare und nur "zugängliche" Materialien ausgeschlossen sind. Da sie selbst nicht reproduzierbar sind, können sie keine Reproduzierbarkeit ermöglichen.
60. Es gibt allerdings kein Erzeugnis auf der Welt, das letztlich nicht auf Stoffen basiert, die selbst nicht reproduzierbar sind. Letzten Endes erfordert jeder Stoff einen Ausgangsstoff, der nicht reproduzierbar, sondern einfach verfügbar ist. So bestehen auch die einfachsten Verbindungen aus einigen wenigen chemischen Elementen, die sich nicht reproduzieren lassen, d. h. nicht aus anderen (ihrerseits wiederum "reproduzierbaren") Stoffen ausgebildet (oder reduziert) werden können. Atome frei zu erzeugen, übersteigt die Möglichkeiten des aktuellen Stands der Technik und damit die der Fachperson.
61. Unabhängig von der Frage, ob die Übernahme von Elementen direkt aus der Natur für eine reale Fachperson eine wirtschaftlich sinnvolle Option wäre, ließe sich auch annehmen, dass die fiktive Fachperson ohne Weiteres chemische Elemente in der Natur finden könnte, sodass sie diese nicht von einem Marktteilnehmer beziehen müsste. Das ändert jedoch nichts an der Nicht-Reproduzierbarkeit dieser Stoffe im Sinne der Ausgangsprämisse. Der Verweis der Patentinhaberin auf Rohöl ist ein besonders gutes Beispiel: Rohöl ist die Grundlage für viele Standarderzeugnisse, allerdings ist die Reproduktion von natürlich vorkommendem Rohöl (mit allen seinen Bestandteilen) alles andere als trivial, falls überhaupt möglich. Gleichzeitig ist es zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Dokuments allgemein bekannt, dass die weltweiten Erdölressourcen endlich sind und nicht ewig reichen werden.
62. Die Patentinhaberin argumentierte, dass natürlich vorkommende Stoffe, wie niedermolekulare Standardverbindungen, die aus einer natürlichen Quelle stammen, für die Fachperson offensichtlich reproduzierbar seien. Das Argument scheint darin zu bestehen, dass die Fachperson sehr einfache Moleküle oder Elemente erzeugen und aus diesen praktisch alles herstellen kann. Dass diese Elemente oder Moleküle im Wesentlichen der Natur entnommen sind, wird nicht als Problem angesehen. Solche Argumente erklären jedoch nicht, wie die Fachperson chemische Standardelemente – ob nun reine Elemente oder niedermolekulare Verbindungen – reproduzieren soll, ohne auf natürlich vorkommende Stoffe als Ausgangsstoffe zurückzugreifen. Auch die Tatsache, dass verschiedene Hersteller ununterscheidbare Erzeugnisse herstellen können, ändert nichts daran, dass jedes Verfahren unweigerlich auf einen Ausgangsstoff zurückgreifen muss, der dann direkt in der Form verwendet wird, in der er der Fachperson ohne Weiteres zugänglich ist.
63. In jedem Fall bleibt es dabei, dass das Erfordernis der Reproduzierbarkeit des Stands der Technik, das die bloße Beschaffung des Erzeugnisses auf dem Markt oder die Übernahme aus der Natur ausschließt, zu dem Ergebnis führt, dass kein Stoff in der physischen Welt zum Stand der Technik gehören würde.
64. Es sei darauf hingewiesen, dass in diesem Beispiel davon ausgegangen wird, dass die Fachperson mit der gesamten vertikalen Produktionskette vertraut ist. In der Praxis müsste eine chemische Fachperson schon viel früher auf ohne Weiteres verfügbare Erzeugnisse zurückgreifen, noch bevor sie die unterste Stufe der Rohstoffe erreicht.
65. Von hier bedarf es nur noch eines kleinen Schrittes, um zu erkennen, dass die erste Auslegung unweigerlich dazu führen würde, dass nicht nur die Lehren, die auf die Synthese einer einfachen oder komplizierten Verbindung gerichtet sind, sondern alle schriftlichen und mündlichen Offenbarungen vom Stand der Technik ausgeschlossen werden. In Ermangelung jeglicher "legal" verfügbaren Stoffe für Versuche, eine schriftliche oder mündliche technische Lehre physisch umzusetzen, wäre keine einzige technische Lehre reproduzierbar. So schließt das Erfordernis der Nacharbeitbarkeit, das physisch verfügbare, aber "nicht reproduzierbare" Erzeugnisse ausschließt, praktisch alles vom Stand der Technik aus. Mathematisch ausgedrückt ist der Stand der Technik damit eine leere Menge.
66. Würde umgekehrt davon ausgegangen, dass die Fachperson auf Standardausgangsstoffe zurückgreift, die als ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis verfügbar sind – gemäß dem natürlichen und de facto nur technisch praktikablen Ansatz – so wäre der Ausschluss des ursprünglichen und vermeintlich nicht reproduzierbaren Erzeugnisses vom Stand der Technik auch nicht mehr zu rechtfertigen.
67. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die von der vorlegenden Kammer vertretene erste Auslegung (siehe Nr. 43 oben) nicht haltbar ist. Die Annahme, dass die Fachperson nicht reproduzierbare Erzeugnisse ignorieren würde, kann nicht zutreffen. Das Gegenteil ist der Fall: Ohne nicht reproduzierbare, ansonsten jedoch zugängliche Erzeugnisse kann die Fachperson gar nichts erreichen. Entgegen der Argumentation der Patentinhaberin ist der Rückgriff auf ohne Weiteres verfügbare Erzeugnisse nicht nur eine Frage der Bequemlichkeit. Vielmehr kann die Fachperson ohne sie nicht existieren. Dies ist eine Frage der technischen Realität. Ohne Weiteres zugängliche Erzeugnisse können nicht vom allgemeinen Fachwissen der Fachperson und damit auch nicht vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ ausgeschlossen werden.
68. Die Patentinhaberin selbst äußerte während des Verfahrens die naheliegende Annahme, dass sich eine Fachperson selbstverständlich an verschiedene Anbieter chemischer Verbindungen wenden würde, wobei sie offensichtlich übersah, dass es sich bei den "niedermolekularen Chemikalien" ebenfalls um "auf den Markt gebrachte Erzeugnisse" handelte. Diese sind ebenso wenig reproduzierbar wie das Polymer ENGAGE® 8400 und können nur aus einer natürlichen Quelle gewonnen werden. Eine solche natürliche Quelle mag zuverlässiger erscheinen als der Hersteller von ENGAGE® 8400, es ist jedoch schwierig, im Hinblick auf ihre Einstufung als Stand der Technik einen rechtlich relevanten Unterschied zwischen beiden auszumachen.
2.4.3. Zweite Auslegung: Nur die Zusammensetzung ist vom Stand der Technik ausgeschlossen
69. Der Vorlageentscheidung zufolge ist dies die andere Auslegung des Erfordernisses der Nacharbeitbarkeit in der Rechtsprechung, vgl. Nummer 11 i) der Entscheidungsgründe und Nummer 14 oben. Folgt man dieser Auslegung, kann es schwierig sein festzustellen, dass eine bestimmte Eigenschaft eines physisch und rechtlich existierenden Objekts als solche nicht existiert. Die Probleme im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Nacharbeitbarkeit sind nicht auf rein theoretische Eigenschaften zurückzuführen, die ein auf dem Markt gebrachtes Erzeugnis haben oder auch nicht haben kann und die mangels analytischer Möglichkeiten nicht bestimmt werden können. Das Problem besteht in der Eigenschaft, deren Existenz bekannt ist und deren Parameter ebenfalls bekannt sind, da sie analysiert werden können. Es gibt Eigenschaften, wie beispielsweise die physikalischen Standardeigenschaften eines jeden Stoffs, deren Existenz auch ohne Analyse bekannt ist, selbst wenn ihr exakter Wert möglicherweise nie veröffentlicht wurde. Ebenso weist jeder Stoff eine chemische Zusammensetzung auf, deren Existenz bekannt ist, selbst wenn sie noch nicht analysiert und folglich nicht bestimmt wurde. Die Annahme, dass ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis keine Zusammensetzung aufweist, insbesondere vor dem Hintergrund, dass diese durchaus festgestellt werden könnte, ist offenkundig eine absurde Behauptung. Bei der zweiten Auslegung wird die nicht existierende Zusammensetzung des Stands der Technik natürlicherweise so verstanden, dass die Fachperson die Zusammensetzung kennt, sie aber außer Acht lässt, scheinbar, weil sie nicht in der Lage ist, sie zu reproduzieren. Diese Annahme mag nicht sofort absurd oder unplausibel erscheinen. Die Fachperson kann bei dem Versuch, ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis zu reproduzieren, bestimmte Eigenschaften dieses Erzeugnisses beibehalten. So kann die Fachperson beispielsweise eine Kopie einer mechanischen Vorrichtung aus einem geschützten Stoff, wie dem Polymer ENGAGE® 8400, herstellen, jedoch anstelle des geschützten Materials ein gängiges und allgemein bekanntes Standardmaterial verwenden und dabei die mechanischen Strukturen beibehalten.
70. Doch auch bei diesem Ansatz wird die Fachperson nicht umhin kommen, irgendwann auf ein nicht reproduzierbares, aber verfügbares Erzeugnis zurückzugreifen. Wie in Bezug auf die erste Auslegung erläutert, wird die Fachperson früher oder später auf einen Stoff zurückgreifen müssen, den sie nicht auf einem anderen Weg reproduzieren kann, was bedeutet, dass die Fachperson auch mit der nicht reproduzierbaren Zusammensetzung arbeiten muss. Letzten Endes müssen alle von der Fachperson verwendeten Ausgangsstoffe anhand ihrer gewünschten Eigenschaften ausgewählt werden, die wiederum durch die Zusammensetzung der Stoffe bestimmt werden. Auch muss der allererste Rohstoff in der Produktionskette zwangsläufig aus einer natürlichen Quelle stammen. Seine Zusammensetzung muss der Fachperson bekannt sein und bewusst von ihr genutzt werden, und zwar selbst dann, wenn sie nicht in der Lage wäre, die Zusammensetzung auf einem anderen Weg zu reproduzieren. Die nicht reproduzierbare Eigenschaft, nämlich die Zusammensetzung, darf nicht ignoriert oder außer Acht gelassen werden, sonst bleibt für die Fachperson kein Material übrig, mit dem sie arbeiten kann. Daraus folgt, dass die zweite Auslegung von G 1/92 ebenfalls zurückzuweisen ist.
71. Diese Feststellung scheint auch dem Verhalten der Fachperson in der realen Welt zu entsprechen. Wenn eine bestimmte Lösung, z. B. ein Stoff mit bestimmten Eigenschaften, benötigt wird, jedoch die Kenntnisse oder Ressourcen der Fachperson für die Herstellung dieses Stoffs nicht ausreichen, ist es nur natürlich, dass sie auf dem Markt nach Lösungen sucht. Diesen Schritt würde sie wahrscheinlich zuerst unternehmen, bevor sie versucht, den Stoff selbst herzustellen, da er einen schnelleren Zugang zu dem gewünschten Stoff verspricht. Nicht nur der Markt, sondern auch die Natur stellt eine solche Quelle dar.
72. Somit kann weder die erste noch die zweite von der vorlegenden Kammer vorgeschlagene Auslegung mit dem Übereinkommen in Einklang gebracht werden, da sie beide zu einem offensichtlich absurden Ergebnis führen.
2.5. Korrekte Auslegung der Antwort von G 1/92
73. Die Widersprüche des in G 1/92 formulierten Erfordernisses der Nacharbeitbarkeit verschwinden, wenn die Bedingung der Reproduzierbarkeit in der Antwort von G 1/92 dahingehend ausgelegt werden kann, dass sie die Beschaffung des Erzeugnisses in seiner ohne Weiteres zugänglichen Form auf dem Markt einschließt. Anders ausgedrückt muss die geforderte Reproduzierbarkeit des Erzeugnisses in einem weiteren Sinne verstanden werden, nämlich als die Fähigkeit der Fachperson, das physische Erzeugnis zu beschaffen und zu besitzen. Dies würde bedeuten, dass das Erfordernis grundsätzlich durch ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis erfüllt ist, wie vom Amtspräsidenten vorgeschlagen. Dies führt wiederum zu dem Schluss, dass die Bedingung faktisch redundant ist. Die korrekte Auslegung der Antwort von G 1/92 lautet: Die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses gehört zum Stand der Technik, wenn das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist und von der Fachperson analysiert werden kann, und zwar unabhängig davon, ob es besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren.
74. Dies bedeutet, dass die Antwort der Stellungnahme G 1/92 nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden kann. Außerdem folgt aus der korrekten Auslegung von G 1/92, dass alle analysierbaren Eigenschaften des auf den Markt gebrachten Erzeugnisses zum Stand der Technik gehören, also technische Informationen darstellen, die der Fachperson bekannt sind und von ihr bei der Suche nach technischen Lösungen herangezogen werden.
75. Diese Überlegungen liefern auch eine einfache Antwort auf die viel diskutierte Frage der nachträglichen Patentierung eines bereits auf den Markt gebrachten Erzeugnisses, das nicht auf einem anderen Weg reproduziert werden kann. Gehört ein solches Erzeugnis zum Stand der Technik, kann zwangsläufig ein späteres Erzeugnis nicht für neu befunden werden, wenn alle beanspruchten Merkmale durch das früher verfügbare Erzeugnis offenbart wurden.
2.5.1. Analyse ohne unzumutbaren Aufwand
76. Da keine Reproduzierbarkeit gefordert wird, bedarf auch der "unzumutbare Aufwand" der Reproduzierbarkeit keiner weiteren Beachtung. Offen bleiben könnte allein die Frage, ob es rechtliche Grenzen für die Analyse des auf den Markt gebrachten Erzeugnisses gibt, d. h. ob das Erfordernis der "Analyse ohne unzumutbaren Aufwand" von der Großen Beschwerdekammer geprüft werden muss.
77. Diese Frage kann sich sowohl auf reale Analysen als auch auf hypothetische Analysen beziehen, d. h. auf Analysen, die tatsächlich durchgeführt wurden, wie z. B. Versuchsergebnisse, die in einem Verfahren als Beweismittel vorgelegt wurden, oder die theoretisch hätten durchgeführt werden können, und die relevante Eigenschaften des Erzeugnisses ergeben haben oder hätten ergeben können. Die Frage ist, ob nur diejenigen Eigenschaften des Erzeugnisses zum Stand der Technik gehören, die sich ohne unangemessenen, d. h. unzumutbaren Aufwand etwa mit herkömmlichen Analyseverfahren aus dem Werkzeugkasten der Fachperson ermitteln lassen, oder auch diejenigen Eigenschaften, die sich nur durch eine technisch und/oder finanziell übermäßige, technisch jedoch mögliche Analyse ermitteln lassen.
78. Die Große Beschwerdekammer braucht nicht darüber zu entscheiden, ab welchem Punkt die Bemühungen der Fachperson zur Analyse des vermarkteten Erzeugnisses die Schwelle des "unzumutbaren Aufwands" erreichen oder ob dies überhaupt eine wirksame Bedingung ist. Die Vorlagefragen können auch ohne Beantwortung dieser Frage entschieden werden, da sie auf der kombinierten Bedingung der Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit beruhen (vgl. Nrn. 23 bis 25 oben). Auch ist nicht ersichtlich, dass diese Frage für die Entscheidung der vorlegenden Kammer von Belang wäre, da nicht erkennbar ist, dass die Eigenschaften von ENGAGE® 8400, die die Kammer berücksichtigen wollte, nur anhand einer Analyse hätten ermittelt werden können, die einen unzumutbaren Aufwand erfordert hätte (vgl. Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe der Vorlageentscheidung).
79. Aus diesem Grund wird das Erfordernis des "unzumutbaren Aufwands" aus den Antworten der Großen Beschwerdekammer weggelassen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Frage der "Analyse ohne unzumutbaren Aufwand" niemals stellen kann.
2.5.2. Beantwortung von Frage 1
80. Die Große Beschwerdekammer kann die Vorlagefragen auch ohne eine detaillierte Analyse dessen beantworten, ob es eine Rechtsgrundlage für das Erfordernis der Nacharbeitbarkeit von G 1/92 gibt oder dieses aus Billigkeitserwägungen abgeleitet werden kann. Reproduzierbarkeit im Sinne der Vorlagefragen kann keine Voraussetzung dafür sein, dass das Erzeugnis Bestandteil des Stands der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ wird. Frage 1 ist mit Nein zu beantworten: Ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis kann nicht allein deshalb vom Stand der Technik ausgeschlossen werden, weil seine Zusammensetzung oder innere Struktur von der Fachperson nicht analysiert und reproduziert werden konnte. In diesem Zusammenhang umfasst der Begriff "reproduzieren" nicht die Beschaffung des Erzeugnisses in der Form, in der es auf den Markt gebracht wurde, sondern meint allein die Reproduktion im engeren Sinne gemäß der Auslegung der Vorlagefragen, vgl. Nummer 38 oben.
81. Es ist zu betonen, dass die Große Beschwerdekammer keinen Grund sieht, die andere in G 1/92 behandelte Rechtsfrage, dass die Fachperson keine besonderen Gründe für die Analyse benötigt, zu hinterfragen.
2.6. Folgen der Einstufung des auf den Markt gebrachten Erzeugnisses als Stand der Technik
2.6.1. Mögliches Verschwinden des nicht reproduzierbaren Erzeugnisses
82. Die Patentinhaberin argumentierte ausführlich, dass nicht reproduzierbare künstlich hergestellte Erzeugnisse nicht als "der Öffentlichkeit zugänglich" anzusehen seien, weil sie vom Markt verschwinden oder sich verändern könnten. Für die Große Beschwerdekammer ist nicht ersichtlich, warum diese unbestrittene Tatsache ausschließen sollte, dass das Erzeugnis Bestandteil des Stands der Technik wird. Die Berücksichtigung einer ungewissen künftigen Verfügbarkeit eines auf den Markt gebrachten Erzeugnisses, beispielsweise eines künstlich hergestellten Erzeugnisses, würde bedeuten, dass der Begriff des "Stands der Technik" im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ um eine ganz neue Komponente erweitert würde. Die Einstufung einer Offenbarung als Stand der Technik müsste nicht nur auf der Grundlage von Tatsachen entschieden werden, die alle vor dem Anmeldetag eingetreten sind (wie es der Wortlaut von Artikel 54 (2) EPÜ vorsieht), sondern sollte auch ein Element der Vorhersage beinhalten. Anders ausgedrückt, sollte der Begriff "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht" nicht nur den möglicherweise nur einmaligen Zugang zu den Informationen in der Vergangenheit, sondern auch eine offensichtlich langfristige, wenn nicht gar dauerhafte und immerwährende Verfügbarkeit der Informationsquelle, hier des künstlich hergestellten oder natürlich vorkommenden Erzeugnisses, implizieren.
83. Das Verschwinden des nicht reproduzierbaren Erzeugnisses kann zwar Probleme verursachen, diese Probleme sind jedoch weder neu noch ungewöhnlich. Das Problem der Rekonstruktion der Eigenschaften des Erzeugnisses zum Zwecke der Feststellung, was durch das Erzeugnis offenbart wurde, darf nicht verwechselt werden mit der Aufgabe der fiktiven Fachperson, das Erzeugnis genau oder teilweise zu reproduzieren, damit es zum Stand der Technik gehört. Die zweitgenannte Aufgabe erscheint in der Vorlageentscheidung und der angeführten Rechtsprechung als Aufgabe der Fachperson, die als technische Aufgabe zu lösen ist. Von dem Ergebnis, d. h. davon, ob die technische Aufgabe der Reproduktion – in vielen Fällen ein rein hypothetischer geistiger Vorgang – ein bestimmtes technisches Niveau erreichen kann oder nicht, hängt wiederum der Rechtsstatus des Erzeugnisses als zum Stand der Technik gehörend ab.
84. Dieser Ansatz ist falsch, wie oben erläutert. Das Problem der Rekonstruktion der Eigenschaften des Erzeugnisses bleibt bestehen, sie ist jedoch eine praktische rechtliche Beweisaufgabe für den Juristen. Für einen Anwalt gelten keine Grenzen bezüglich der Anstrengungen, die er in einem Fall investieren möchte, und es gibt keinen "unzumutbaren Aufwand". Wie die Rechtsprechung korrekt widerspiegelt, handelt es sich hier insofern um ein Beweisproblem, als es unter Umständen schwierig sein kann, festzustellen, was genau Bestandteil des Stands der Technik geworden ist (und wann und wie), wenn die ursprünglichen Fakten verschwinden.
85. Der "Stand der Technik" ist der Informationsgehalt, also die abstrakte technische Lehre, der bzw. die rechtsgrundsätzlich nicht aus der Öffentlichkeit verschwindet, wenn die technische Lehre Bestandteil des Stands der Technik wird, d. h. an die Öffentlichkeit gelangt. Siehe beispielsweise T 1553/06, wo eine Internetveröffentlichung nur für sehr kurze Zeit verfügbar war und dennoch als zum Stand der Technik gehörend angesehen wurde, obwohl sie später verschwand. Der Fall eines früher vorhandenen und später verschwundenen Stands der Technik im Sinne des Verschwindens des ursprünglichen Trägers der technischen Informationen ist in Verfahren nach dem EPÜ keine Seltenheit, wie die in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, unter I.C.3.2.2. (Vorträge und mündliche Offenbarungen), I.C.3.2.3. (Internet-Offenbarungen) und I.C.3.2.4. (Offenkundige Vorbenutzung, mit Unterpunkten) angeführten Fälle belegen.
86. Unbestrittenermaßen kann es schwierig sein, den Inhalt der technischen Lehre zu einem späteren Zeitpunkt im Sinne eines Beweises festzustellen. Dies verdeutlicht die umfangreiche Rechtsprechung, die sich mit der Vorbenutzung befasst. Tatsächlich waren alle Beispiele, bei denen die Vorbenutzung im Wege einer komplizierten Beweiswürdigung festgestellt werden musste, so gelagert, dass die Offenbarung einer technischen Information der Öffentlichkeit nur für eine relativ kurze Zeit faktisch zugänglich war, was aber nicht verhindert hat, dass die Offenbarung als rechtliche Folge ihrer temporären Verfügbarkeit dauerhaft zu einem Bestandteil des Stands der Technik wurde. Wenn dagegen nur noch laufende Vorbenutzungen Bestandteil des Stands der Technik sein könnten, würden die Beweisprobleme nicht auftreten oder wären erheblich einfacher zu lösen – so ließen sich alle Fälle leicht durch eine Augenscheinseinnahme nach Artikel 117 (1) f) EPÜ klären.
87. Eine andere Sache ist, dass bei der Vorlage und Prüfung von Beweisen auch technische Überlegungen eine Rolle spielen können. Es bleibt dabei, dass der Erfolg oder Misserfolg des Nachweises einer Eigenschaft eines Erzeugnisses, einschließlich seiner exakten oder nur partiellen Zusammensetzung, keinen Einfluss auf den rechtlichen Charakter des Erzeugnisses als zum Stand der Technik gehörend hat (die unbestrittene öffentliche Zugänglichkeit des Erzeugnisses vorausgesetzt). Wiederum eine andere Frage ist, wie die festgestellten, d. h. nachgewiesenen Eigenschaften des Erzeugnisses berücksichtigt werden können oder ausgerechnet die unzureichenden Beweise für hypothetische Eigenschaften zu der Feststellung führen können, dass das Erzeugnis als Stand der Technik nicht relevant ist.
88. Die Patentinhaberin wies ferner darauf hin, dass ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis verändert werden könne. Dies ist durchaus natürlich und erwartbar, bedeutet jedoch lediglich, dass nicht nur die alte, sondern auch die neue Version des Erzeugnisses zu einer separaten und unabhängigen Offenbarung innerhalb des Stands der Technik wird. Auch hier können sich Beweisprobleme ergeben. So kann es beispielsweise schwierig sein, die frühere Version von der späteren zu unterscheiden, was jedoch weder die ältere noch die jüngere Version des Erzeugnisses vom Stand der Technik ausschließt.
2.6.2. Technische Lehre, die sich aus auf den Markt gebrachten Erzeugnissen ergibt
89. Der Stand der Technik muss mit der Erfindung verglichen werden. Dabei wird immer eine technische Lehre mit einer anderen technischen Lehre verglichen, nämlich mit der Lehre, die die zum Patent angemeldete Erfindung darstellt. Dieser Vergleich ist ein abstrakter und rein geistiger Vorgang, auch wenn die Lehre des auf den Markt gebrachten Erzeugnisses aus einer physikalischen Analyse des physisch verfügbaren Erzeugnisses abgeleitet wird. Selbst wenn also ein Erzeugnis vom Markt verschwindet, bleibt die aus diesem ableitbare abstrakte Lehre Bestandteil des Stands der Technik, und zwar allein aufgrund der Tatsache, dass sie der Fachperson zu einem bestimmten Zeitpunkt zugänglich war und die Fachperson eine jegliche aus dem Erzeugnis ableitbare abstrakte Lehre aufzeichnen konnte.
90. Dies wird in G 1/92 ausdrücklich festgestellt: "Die bloße Möglichkeit eines unmittelbaren, eindeutigen Zugangs zu bestimmten Informationen macht diese zugänglich, und zwar unabhängig davon, ob ein Grund besteht, nach ihnen zu suchen" (Nr. 2 der Entscheidungsgründe, letzter Satz). Aus Sicht der Großen Beschwerdekammer gibt es keinen Grund, dieser Feststellung zu widersprechen, und sie bleibt auch unbeeinflusst von der Klarstellung der Antwort von G 1/92, wie in Nummer 73 oben erläutert. Ähnlich wie bei einer Publikation in einer Bibliothek, die nie aus der Bibliothek entnommen wurde, ist es unerheblich, dass eine bestimmte analysierbare Eigenschaft des Erzeugnisses möglicherweise nie analysiert oder in einem öffentlichen Dokument aufgeführt wurde.
91. Alle analysierbaren Eigenschaften des auf den Markt gebrachten Erzeugnisses sind allein durch die Möglichkeit ihrer Analyse öffentlich geworden, da das Erzeugnis physisch zugänglich war. Wenn die Zusammensetzung analysiert werden konnte, wurde dies ebenfalls Bestandteil des Stands der Technik, auch wenn die Fachperson nicht in der Lage gewesen wäre, sie selbst zu reproduzieren.
92. Die Tatsache, dass die Fachperson möglicherweise erkennt, dass sie nicht in der Lage ist, eine wichtige Eigenschaft des Erzeugnisses zu reproduzieren, kann ebenfalls eine relevante technische Information darstellen. Sie kann bei der Beurteilung berücksichtigt werden, ob die Fachperson angesichts einer zu lösenden technischen Aufgabe ein Erzeugnis als relevanten Stand der Technik ansehen würde. Dies entspricht auch den üblichen Erwartungen an die Fachperson, die bei der Beurteilung, ob ein auf dem Markt erhältliches Erzeugnis für ihre Bedürfnisse geeignet ist, normalerweise verschiedene Aspekte und nicht unbedingt nur technische Aspekte in Betracht ziehen würde. Je nach Sachlage kann die Fachperson auch das potenzielle Verschwinden des Erzeugnisses oder die Tatsache, dass sie möglicherweise von einem einzigen Lieferanten abhängig werden kann, berücksichtigen. Dies ist jedoch weniger eine technische als eine geschäftliche oder wirtschaftliche Überlegung. Wirtschaftliche Faktoren können, sofern sie für die Fachperson von Bedeutung sind, höchstens als sekundäre Beweisanzeichen für das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit gelten und technische Erwägungen keinesfalls ersetzen, siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, I.D.10.1.
93. Dass ein Stand der Technik als nicht relevant angesehen wird, heißt nicht, dass er nicht existiert. Etwas, das zum bestehenden Stand der Technik gehört, braucht nicht zwangsläufig für eine Erfindung und für alle Bestimmungen des EPÜ, bei denen der Stand der Technik zu berücksichtigen ist, relevant zu sein. Dass ein nicht reproduzierbares Erzeugnis zum Stand der Technik gehört, bedeutet nicht zwangsläufig, dass das Erzeugnis oder seine Merkmale bei der Beurteilung der Neuheit oder der erfinderischen Tätigkeit gleichermaßen berücksichtigt werden müssen.
94. Für die Frage der Neuheit erfordert der Vergleich der Erfindung mit dem Stand der Technik keine besondere Motivation der Fachperson. Die Neuheitsprüfung wird zwar mit den Augen der Fachperson durchgeführt, allerdings wird der überprüfte Stand der Technik nicht bewusst durch die Fachperson, sondern durch das Organ (Prüfer, Richter) nach einer in Kenntnis der Erfindung durchgeführten Recherche ausgewählt. Die Fachperson mag einen mit der zu lösenden technischen Aufgabe nicht verwandten und entfernten Stand der Technik nicht berücksichtigt haben. Bei der Neuheitsprüfung darf dieser jedoch nicht außer Acht gelassen werden, wie der Begriff der zufälligen Vorwegnahme zeigt, siehe G 2/03, Leitsatz 2.1 und Nummer 2.2 der Entscheidungsgründe mit Unterpunkten.
95. Anders verhält es sich bei der erfinderischen Tätigkeit, wo die Fachperson gute Gründe haben kann, einen gewissen Stand der Technik außer Acht zu lassen, beispielsweise weil sein Informationsgehalt zu gering ist. Die für die Fachperson relevante technische Lehre muss stets nach Lage des Einzelfalls bestimmt werden. Je nach Sachlage kann auch ein nicht reproduzierbares Erzeugnis als nächstliegender Stand der Technik oder einfach als Quelle einer ergänzenden technischen Lehre angesehen werden, der bzw. die sich zur Kombination mit dem nächstliegenden Stand der Technik eignet. Die diesbezüglichen Feststellungen der Großen Beschwerdekammer in G 2/88 und G 6/88 behalten ihre Gültigkeit: "Unabhängig von dem Mittel, durch das die Information der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist (z. B. schriftliche oder mündliche Beschreibung, Benutzung, bildliche Darstellung in einem Film oder auf einer Fotografie oder auch eine Kombination dieser Mittel), ist also die Frage, was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, im Einzelfall eine Tatfrage. … In allen diesen Fällen muß jedoch genau unterschieden werden zwischen dem, was tatsächlich zugänglich gemacht worden ist, und dem, was verborgen geblieben oder sonstwie nicht zugänglich gemacht worden ist. In diesem Zusammenhang ist auch auf den Unterschied zwischen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit hinzuweisen: Eine Information, die in einer beanspruchten Erfindung besteht, kann "zugänglich gemacht worden" sein (dann ist sie nicht neu); sie kann auch nicht zugänglich gemacht worden, aber naheliegend sein (dann ist sie neu, aber nicht erfinderisch); sie kann ferner nicht zugänglich gemacht worden und auch nicht naheliegend sein (dann ist sie neu und erfinderisch). So kann insbesondere das, was verborgen geblieben ist, dennoch naheliegend sein." (Nrn. 10 und 8 der Entscheidungsgründe).
96. Daraus folgt, dass offenbarte, aber nicht reproduzierbare Merkmale eines Erzeugnisses in die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit einfließen können, aber nicht müssen. Einem Glas Coca-Cola etwas Zitronensaft hinzuzufügen, um einen weniger süßen Geschmack zu erhalten, kann nicht allein aus dem Grund erfinderisch sein, dass das Rezept für Coca-Cola geheim ist und der ursprüngliche Geschmack von Coca-Cola daher als unerreichbar gilt. Den ursprünglichen Geschmack von Coca-Cola ohne Zucker oder Koffein zu erreichen, ist dagegen eine zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Dokuments wahrscheinlich ungelöste Aufgabe. Es gibt keine formale und strenge Regel dafür, wie ein nicht reproduzierbares aber öffentlich zugängliches Erzeugnis bzw. eine seiner Eigenschaften bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden kann. Die relevante technische Lehre, die eine Fachperson einem solchen Erzeugnis entnehmen würde, ist immer fallspezifisch und hängt sowohl vom betreffenden Erzeugnis als auch von der zu prüfenden Erfindung ab.
2.7. Beantwortung von Fragen 2 und 3
97. Das Argument, dass alle technischen Informationen über das nicht reproduzierbare Erzeugnis auch vom Stand der Technik auszuschließen sind, scheint auf der Annahme zu beruhen, dass das Erzeugnis selbst nicht zum Stand der Technik gehört. Technische Informationen, die sich auf ein nicht existierendes Erzeugnis beziehen, vom Stand der Technik auszuschließen, scheint in der Tat die logische Folge des nicht existenten Erzeugnisses zu sein, selbst wenn diese Nichtexistenz nur fiktiv ist. Allerdings liefern weder die Vorlageentscheidung noch die Argumente der Beteiligten irgendeine Erklärung dafür, warum solche technischen Informationen nicht zum Stand der Technik gehören sollten, wenn das Erzeugnis selbst, unabhängig von seiner Reproduzierbarkeit, zum Stand der Technik gehört.
98. Es ist nicht die Aufgabe der Großen Beschwerdekammer, ein solches Argument zu suchen. Da vielmehr auch nicht reproduzierbare Erzeugnisse in den Stand der Technik aufzunehmen sind, müssen offensichtlich auch relevante technische Angaben über solche Erzeugnisse zum Stand der Technik gehören. Liegt das Erzeugnis zur Analyse vor, so stellt sich bei den Analyseergebnissen nicht einmal die Frage der Reproduzierbarkeit, zumindest solange die Analysemethodik selbst ebenfalls zum allgemeinen Fachwissen der Fachperson gehört oder wenigstens im Stand der Technik hinreichend offenbart ist. Frage 2 ist zu bejahen: Öffentlich zugängliche technische Informationen über ein solches Erzeugnis gehören zum Stand der Technik, und zwar unabhängig davon, ob die Fachperson das Erzeugnis und seine Zusammensetzung oder innere Struktur analysieren und reproduzieren konnte.
99. Ähnlich wie bei Frage 1 ist auch hier der Begriff "reproduzieren" in einem eingeschränkten Sinn zu verstehen, wie oben in Nummer 80 dargelegt.
100. In Anbetracht der Antworten auf Fragen 1 und 2 ist Frage 3 gegenstandslos.
3. ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Die Große Beschwerdekammer beantwortet die ihr vorgelegten Fragen wie folgt:
1. Ein Erzeugnis, das vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht wurde, kann nicht allein deshalb vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ ausgeschlossen werden, weil seine Zusammensetzung oder innere Struktur von der Fachperson vor diesem Tag nicht analysiert und reproduziert werden konnte.
2. Technische Informationen über ein solches Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden, gehören zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ, und zwar unabhängig davon, ob die Fachperson das Erzeugnis und seine Zusammensetzung oder innere Struktur vor diesem Tag analysieren und reproduzieren konnte.
3. In Anbetracht der Antworten auf Fragen 1 und 2 ist eine Beantwortung nicht erforderlich.