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T 2537/19 20-12-2023
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Elektromagnetisch betätigbares Hochdruckgasventil
Zulassung Hauptantrag - ja
Erfinderische Tätigkeit - ja
I. Die Anmelderin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, mit welcher die Europäische Patentanmeldung Nr. 15 166 672.4 zurückgewiesen wurde.
II. Von den im Prüfungsverfahren genannten Dokumenten sind die folgenden für diese Entscheidung relevant:
D1 WO 96/15926 A1;
D2 DE 1 168 725 B;
D3 US 3 405 906 A.
III. Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand des mit dem Schriftsatz vom 6. Februar 2019 eingereichten Anspruchs 1 ausgehend von Dokument D1 oder Dokument D2 in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen oder in Verbindung mit dem Dokument D3 nicht erfinderisch sei.
IV. Mit ihrer Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin einen Anspruchssatz als ihren Hauptantrag ein, entsprechend den Patentansprüchen vom 6. Februar 2019.
V. Am 17. März 2023 wurde die Beschwerdeführerin zu einer mündlichen Verhandlung geladen.
VI. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 vom 9. Mai 2023 teilte die Kammer der Beschwerdeführerin mit, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 ausgehend von einem der Dokumente D1 oder D2 entweder allein oder in Kombination mit der Lehre des Dokuments D3 auf einer erfinderischen Tätigkeit zu beruhen scheint, und führte weiter aus, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber der Lehre des Dokuments D3 alleine nicht erfinderisch zu sein scheint.
VII. Mit Schreiben vom 14. Juni 2023 teilte die Beschwerdeführerin mit, dass sie nicht an der für den 15. Juni 2023 anberaumten Verhandlung teilnehmen werde und reichte einen Anspruchssatz als ersten Hilfsantrag ein.
VIII. Am 15. Juni 2023 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer in Abwesenheit der ordnungsgemäß geladenen Beschwerdeführerin statt. In der mündlichen Verhandlung wurde die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags diskutiert. Die Kammer revidierte in der Beratung diesbezüglich ihre vorläufige Meinung und beschloss, das Verfahren schriftlich fortzusetzen, um einen neu erhobenen Einwand der mangelnden Klarheit im abhängigen Anspruch 5 zu klären.
IX. In einer Mitteilung gemäß Regel 100 (2) EPÜ vom 23. Juni 2023 informierte die Kammer die Beschwerdeführerin, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags auf einer erfinderischen Tätigkeit zu beruhen scheint und erhob einen neuen Einwand mangelnder Klarheit in Bezug auf die Merkmale des abhängigen Anspruchs 5. Der Beschwerdeführerin wurde die Möglichkeit gegeben, dazu Stellung zu nehmen.
X. Die Beschwerdeführerin reichte mit Schreiben vom 12. Juli 2023, eingegangen am 14. Juli 2023, als Ersatz für den bisherigen Hauptantrag einen geänderten Hauptantrag ein mit den Ansprüchen 1 bis 13 und einer angepassten Beschreibung umfassend die Seiten 1 bis 20.
XI. Die Beschwerdeführerin beantragt, die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 25. März 2019 aufzuheben und ein Patent im Umfang des am 14. Juli 2023 eingereichten Hauptantrags zu erteilen.
XII. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt (Merkmalsbezeichnungen in eckigen Klammern gemäß der Anmelderin):
"1. [M1] Elektromagnetisch betätigbares Hochdruckgasventil (1), das als Vorsteuerventil mit einem Vorsteuersitz (3) und einer Vorsteueröffnung (5) und einem Hauptsitz (7) und einer Hauptöffnung (9) ausgestaltet ist, wobei
- [M2] die Vorsteueröffnung (5) eine Hochdruckseite (H) mit einer Niederdruckseite (N) des Ventils (1) verbindet und durch ein Vorsteuerdichtelement (6) verschließbar ist,
- [M3] die Hauptöffnung (9) die Hochdruckseite (H) mit der Niederdruckseite (N) des Ventils (1) verbindet und durch ein Hauptdichtelement (10) verschließbar ist,
und
- [M4] das Ventil (1) einen Vorsteueranker (4), der auf das Vorsteuerdichtelement (6) wirkt und der über eine erste Druckfeder (24) in Schließrichtung (S) vorgespannt ist, und
- [M5] einen Hauptanker (8), der auf das Hauptdichtelement (10) wirkt, aufweist, wobei der Hauptanker (8) in Schließrichtung (S) federbelastet ist,
- [M6] wobei das Ventil (1) eine bestrombare Spule (12) aufweist, die geeignet ausgebildet und angeordnet ist, auf den Vorsteueranker (4) und den Hauptanker (8) derart zu wirken, dass ein Vorsteuerhub, bei dem alleine der Vorsteueranker (4) bewegt wird und ein Haupthub, bei dem zumindest der Hauptanker (8) bewegt wird, voneinander unabhängig sind, und
- [M7] wobei der Vorsteueranker (4) wenigstens teilweise innerhalb und konzentrisch zu dem Hauptanker (8) angeordnet ist,
dadurch gekennzeichnet, dass [M8] eine zweite Druckfeder (26) vorgesehen ist, die in Schließrichtung (S) auf den Hauptanker (8) oder ein damit verbundenes Bauteil wirkt."
XIII. Das für diese Entscheidung relevante Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Erfinderische Tätigkeit ausgehend vom Dokument D1 oder Dokument D2 allein bzw. mit dem allgemeinen Fachwissen
Wie von der Prüfungsabteilung richtig festgestellt worden sei, werde das Merkmal M8 weder vom Dokument D1 noch vom Dokument D2 vorweggenommen. Sowohl Dokument D1 als auch Dokument D2 zeigten nur eine Druckfeder, die jeweils auf den Vorsteueranker der Ventile wirke. Im Ausführungsbeispiel der Figur 3 des Dokuments D1 gebe es zwei Druckfedern, wobei die zweite Druckfeder entgegen der Schließrichtung wirke.
Weiterhin seien der Vorsteueranker 18 des Dokuments D1 und der Vorsteueranker 7 des Dokuments D2 jeweils einteilig ausgeführt, so dass das Merkmal M4, wonach der Vorsteueranker auf ein Vorsteuerdichtelement wirke, weder aus Dokument D1 noch aus Dokument D2 bekannt sei.
Demgegenüber weise das erfindungsgemäße Ventil eine erste Druckfeder 24, die auf den Vorsteueranker 4 wirke, und eine zweite Druckfeder 26, die auf den Hauptanker wirke, auf. Die beiden Druckfedern wirkten unabhängig voneinander. In Figur 1a der Anmeldung bestehe zwischen dem Vorsteueranker 4 und dem Kern 2 ein Luftspalt 14 und zwischen dem Hauptsteueranker 8 und dem Kern 2 ein Luftspalt 15. Zunächst werde der Vorsteueranker 4 (Anmeldung: Figur 1b) und danach der Hauptsteueranker 8 (Anmeldung: Figur 1c) zum Kern hingezogen.
Das unterscheidende Merkmal M8 habe folgenden technischen Effekt: Bei Hochdruckgasventilen könnten zwischen dem Eingangsdruck und dem Ausgangsdruck Druckdifferenzen von bis zu 700 bar vorliegen. Die Druckdifferenz drücke sowohl den Vorsteueranker als auch den Hauptanker in ihre jeweiligen Ventilsitze, was bei den in den Dokumenten D1 und D2 gezeigten Ventilen ebenfalls der Fall sei. Es gebe aber auch Betriebszustände, bei denen nur eine geringe oder keine Druckdifferenz vorliege, und das Ventil dennoch dicht sein müsse. In diesen Betriebszuständen könne in den Dokumenten D1 und D2 nur die auf beide Anker wirkende Druckfeder die zum Dichten benötigte Kraft aufbringen, weshalb diese Feder entsprechend "hart" ausgelegt werden müsse. Dies habe den Nachteil, dass zum Öffnen sowohl des Vorsteuersitzes als auch des Hauptsteuersitzes gegen die Kraft der einzigen Druckfeder und je nach Betriebszustand auch gegen die von der Druckdifferenz auf den Vorsteueranker aufgebrachte Kraft gearbeitet werden müsse. Diese Öffnungskraft werde vom Magnetfeld der Spule aufgebracht, die bei den in den Dokumenten D1 und D2 gezeigten Ventilen daher entsprechend groß gewählt werden müsse.
Durch die erfindungsgemäße Auftrennung der aus den Dokumenten D1 und D2 bekannten Druckfeder in zwei einzelne Druckfedern müsse beim Öffnen des Vorsteuerankers lediglich gegen die erste Druckfeder gearbeitet werden. Das erfindungsgemäße Ventil weise somit bei gleicher Dimensionierung der Magnetspule und des Magnetkreises wie in den Dokumenten D1 und D2 eine höhere schließend wirkende Gesamtfederkraft auf, woraus eine höhere dichtende Kraft verbunden mit einer höheren Dichtigkeit bei geringen oder keinen Druckdifferenzen resultiert. Dies bedeute, dass das erfindungsgemäße Ventil auf Grund der entsprechend kleiner ausgelegten Spule kompakter ausgebildet werden könne. Da die auf den Vorsteueranker wirkende erste Druckfeder "weicher" ausgestaltet sei, könne der Vorsteuersitz mit einer geringeren Kraft geöffnet werden als der Hauptsteuersitz. Sobald das Vorsteuerventil geöffnet sei, finde ein Druckausgleich statt, so dass zum Öffnen des Hauptventilsitzes der Hauptanker nur noch gegen die zweite Druckfeder arbeiten müsse. Diese Effekte seien auf Seite 6, Zeilen 19 ff. und auf Seite 14, Zeilen 6 ff. der ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen beschrieben.
Die objektive technische Aufgabe liege somit darin, ein Hochdruckgasventil anzugeben, welches eine ausreichend hohe Schließkraft in allen Betriebszuständen bereitstelle und gleichzeitig mit einer im Vergleich zu bekannten Ventilen kleiner dimensionierten Spule betrieben und mit einem kompakteren Aufbau versehen werden könne oder bei gleicher Dimensionierung höhere Schließkräfte bereitstelle.
Keines der beiden Dokumente D1 und D2 enthalte einen Hinweis, der den Fachmann dazu veranlassen würde, zwei in Schließrichtung wirkende Druckfedern vorzusehen.
Das in Figur 3 des Dokuments D1 dargestellte Ausführungsbeispiel zeige zwar zwei Druckfedern, wobei die zweite Druckfeder 38 entgegen der Schließrichtung wirke und somit die Schließkraft vermindere. Auch sei aus dem Dokument D1 kein kompakterer Ventilaufbau zu entnehmen.
Daher handle es sich bei der Verwendung von zwei Druckfedern im Gegensatz zur Auffassung der Prüfungsabteilung nicht um eine von mehreren naheliegenden Möglichkeiten, die der Fachmann ohne erfinderisches Zutun auswählen würde.
Erfinderische Tätigkeit ausgehend vom Dokument D1 oder Dokument D2 in Kombination mit dem Dokument D3
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei auch erfinderisch ausgehend von einem der Dokumente D1 oder D2 in Kombination mit dem Dokument D3.
Das Dokument D3 zeige zwei Druckfedern 50 und 52, von denen die Feder 52 zumindest indirekt auf den Vorsteueranker 54 und die Feder 50 auf das Bauteil 48 wirke. Der Vorsteueranker 54 werde beim Bestromen der Spule 42 zum Bauteil 48 hingezogen. Das Bauteil 48 werde dabei nicht bewegt. Das Bauteil 48 fungiere dabei als Kern und nicht als Hauptanker. Unter einem Anker sei ein Bauteil zu verstehen, welches sich innerhalb eines Magnetfelds im Bestreben, den magnetischen Flusswiderstand zu minimieren, bewege.
Deshalb sei die Wirkungsweise des in Dokument D3 offenbarten Ventils eine ganz andere als die des erfindungsgemäßen Ventils. Während beim erfindungsgemäßen Ventil der Vorsteueranker und der Hauptsteueranker auf Grund der von der Spule bereitgestellten Magnetkraft bewegt werde, werde im Dokument D3 nur der Vorsteueranker mittels Magnetkraft bewegt. Sobald der Vorsteuersitz öffne, werde das Hauptdichtelement 18 auf Grund der sich dann einstellenden Druckverhältnisse und der dann auf die Schulter 18a wirkenden Kraft vom Hauptsitz weg bewegt, was aus Spalte 2, Zeilen 10 bis 13 des Dokuments D3 ("The valve is also constructed such that line pressure will open the main valve once the pilot chamber has been bled to the valve outlet."), ebenso aus Spalte 2, Zeilen 30 bis 33 des Dokuments D3 ("This action permits the fluid pressure existing in the pilot chamber to be bled to the outlet so that fluid pressure in the inlet opens the main valve, and thus moves the main armature into a valve open position.") und aus Anspruch 1 des Dokuments D3 hervorgehe ("whereby fluid pressure existing in said inlet opens said main valve and thus moves said main armature into said valve open position" und "when said main valve is moved to its open position by fluid pressure").
Auf Grund der unterschiedlichen Wirkungsweisen der aus den Dokumenten D1 oder D2 und dem Dokument D3 bekannten Ventile würde der Fachmann, der die oben definierte Aufgaben lösen müsse, nicht die Lehre des Dokuments D3 heranziehen. Selbst wenn er es täte, könnte er das Merkmal M8 nicht aus dem Dokument D3 entnehmen, da das Bauteil 48 im Dokument D3 nicht als Anker betrieben werde.
Erfinderische Tätigkeit ausgehend vom Dokument D3
Wie oben festgestellt sei, handle es sich bei dem Bauteil 48 im Dokument D3 nicht um einen Hauptanker. Folglich seien die Merkmale M5 bis M8 im Dokument D3 nicht offenbart.
Um ausgehend vom Dokument D3 zu der erfindungsgemäßen Lehre zu gelangen, hätte der Fachmann umfassende Überlegungen anstrengen müssen, die erhebliche strukturelle Änderungen erforderlich gemacht hätten und nicht in Griffweite des Fachmannes gelegen hätten. Auf Grund dieser strukturellen und funktionellen Unterschiede zwischen dem Anmeldegegenstand und dem Dokument D3 würde der Fachmann dem Dokument D3 auch keine Anregung entnehmen, mit der er zum Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags gelangt wäre.
Einer Kombination der Lehren des Dokuments D3 mit einem der Dokumente D1 oder D2 stünden nach wie vor die unterschiedlichen Funktionsweisen der dort gelehrten Hochdruckgasventile entgegen.
Infolgedessen beruhe der Gegenstand des Anspruch 1 des Hauptantrags auf einer erfinderischen Tätigkeit.
1. Zulassung des Hauptantrags
1.1 Die Beschwerdeführerin reichte den dieser Entscheidung zugrundeliegenden Hauptantrag erstmals mit Schreiben vom 12. Juli 2023, eingegangen am 14. Juli 2023, ein und somit nach ihrer Beschwerdebegründung, aber innerhalb der von der Kammer in ihrer Mitteilung nach Regel 100 (2) EPÜ genannten Frist.
1.2 Gemäß Artikel 13 (1) VOBK 2020, der vorliegend anzuwenden ist, bedürfen Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung rechtfertigender Gründe seitens des Beteiligten und ihre Zulassung steht im Ermessen der Kammer. Bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtigt die Kammer unter anderem, ob der Beteiligte aufgezeigt hat, dass die Änderung prima facie die von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumt und keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt.
1.3 Der dieser Entscheidung zugrundeliegende Hauptantrag unterscheidet sich von dem früheren, mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrag dadurch, dass der abhängige Anspruch 5 des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrags auf Grund von in der Mitteilung nach Regel 100 (2) EPÜ durch die Kammer erhobenen Klarheitseinwänden gestrichen worden ist. Die von der Kammer erhobenen Klarheitseinwände werden damit ausgeräumt.
1.4 In Anbetracht dessen hat die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 beschlossen, den mit Schreiben vom 12. Juli 2023 eingereichten Hauptantrag in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
2. Erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hauptantrags ausgehend von den Dokumenten D1 oder D2 (Artikel 56 EPÜ)
2.1 Nächstliegender Stand der Technik
Die Prüfungsabteilung hat das Dokument D1 oder das Dokument D2 als nächstliegenden Stand der Technik angesehen. Die Kammer betrachtet die Dokumente D1 oder D2 als geeignete Ausgangspunkte für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit.
2.2 Unterscheidende Merkmale
Die Dokumente D1 und D2 offenbaren jeweils ein elektromagnetisch betätigbares Hochdruckgasventil (siehe Dokumente D1, D2: Figur 1). Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich unbestritten von den aus den Dokumenten D1 und D2 bekannten Hochdruckgasventilen darin, dass eine zweite Druckfeder vorgesehen ist, die in Schließrichtung auf den Hauptanker oder ein damit verbundenes Bauteil wirkt (Merkmal M8). Des Weiteren sind der Vorsteueranker/das Vorsteuerdichtelement 18 des Dokuments D1 und der Vorsteueranker/das Vorsteuerdichtelement 7 des Dokuments D2 einteilig, so dass das Merkmal M4, wonach der Vorsteueranker auf ein Vorsteuerdichtelement wirkt, ebenfalls nicht vorweggenommen wird.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Figur 1 des Dokuments D1 mit Vorsteueranker/Vorsteuerdichtelement 18, Hauptanker 17, Druckfeder 11 und bestrombarer Spule 13
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Figur 1 des Dokuments D2 mit Vorsteueranker/Vorsteuerdichtelement 7, Hauptanker 5, Druckfeder 11 und bestrombarer Magnetwicklung 6
Figur 3 des Dokuments D1 zeigt ein Ausführungsbeispiel mit zwei Druckfedern, wobei die erste Feder 11a in Schließrichtung auf den Vorsteueranker wirkt, und die zweite Feder, die Öffnungsfeder 38, entgegen der Schließrichtung (siehe Dokument D1; Seite 10, zweiter Absatz, insbesondere Zeilen 19 bis 26). Daher wird das Merkmal M8 auch nicht durch das in Figur 3 des Dokuments D1 gezeigte Ausführungsbeispiel vorweggenommen.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Figur 3 des Dokuments D1 mit auf den Vorsteueranker wirkender Feder 11a und Öffnungsfeder 38
2.3 Technischer Effekt
Der technische Effekt der zweiten Druckfeder, die in Schließrichtung auf den Hauptanker oder ein damit verbundenes Bauteil wirkt (Merkmal M8), ist auf Seite 6, Zeilen 24 bis 29 der ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen beschrieben. Beim Vorhandensein zweier einzelner Druckfedern, die jeweils auf den Vorsteueranker und den Hauptsteueranker wirken, "können bei im Vergleich zum Stand der Technik gleich dimensionierter Spule und damit gleichem Bauraum und Energiebedarf höhere Kräfte zum Öffnen des Ventils erreicht werden." Des Weiteren bedeutet dies, dass "insgesamt höhere Schließkräfte überwunden werden [können], was einerseits höhere Druckdifferenzen zwischen der Hochdruckseite und der Niederdruckseite ermöglicht, oder andererseits eine robustere Auslegung des Hochdruckgasventils (1) mit stärker dimensionierten Druckfedern 24, 26 erlaubt" (siehe ursprünglich eingereichte Anmeldung, Seite 14, Zeilen 6 bis 14).
2.4 Objektive technische Aufgabe
Daraus ergibt sich nach Auffassung der Kammer die von der Beschwerdeführerin formulierte objektive technische Aufgabe, ein Hochdruckgasventil zu finden, welches eine ausreichend hohe Schließkraft in allen Betriebszuständen bereitstellt und gleichzeitig mit einer im Vergleich zu bekannten Ventilen kleiner dimensionierten Spule betrieben und mit einem kompakteren Aufbau versehen werden kann oder bei gleicher Dimensionierung höhere Schließkräfte bereitstellt.
Die Prüfungsabteilung hat die mit der vorliegenden Erfindung zu lösende Aufgabe darin gesehen, eine höhere Schließkraft auf den Hauptanker eines Hochdruckgasventils auszuüben (siehe angefochtene Entscheidung, Gründe, Punkt 5). Dies stellt aber nur einen Teil der Aufgabe dar und wird dem technischen Effekt des Merkmals M8 nicht ausreichend gerecht.
2.5 Naheliegen der Lösung
2.5.1 Erfindungsgemäße Lösung
Das erfindungsgemäße Ventil weist eine erste Druckfeder 24, die auf den Vorsteueranker 4 wirkt, und eine zweite Druckfeder 26, die auf den Hauptanker 8 wirkt, auf. Die beiden Druckfedern wirken unabhängig voneinander. In Figur 1a der Anmeldung besteht zwischen dem Vorsteueranker 4 und dem Kern 2 ein Luftspalt 14 und zwischen dem Hauptsteueranker 8 und dem Kern 2 ein Luftspalt 15. Zunächst wird der Vorsteueranker 4 und danach der Hauptanker 8 zum Kern 2 hingezogen.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Figur 1a der ursprünglich eingereichten Anmeldung mit Vorsteueranker 4, Hauptanker 8, Spule 12, auf den Vorsteueranker wirkender Druckfeder 24 und auf den Hauptanker wirkender Druckfeder 26
2.5.2 Naheliegen der Lösung ausgehend von den Dokumenten D1 und D2 alleine bzw. mit dem allgemeinen Fachwissen
Die Kammer folgt der Argumentation der Beschwerdeführerin. Die Druckdifferenz zwischen dem Eingangs- und Ausgangsdruck drückt sowohl den Vorsteueranker als auch den Hauptanker in ihre jeweiligen Ventilsitze. Dies ist in der vorliegenden Anmeldung genauso der Fall wie bei den in den Dokumenten D1 und D2 gezeigten Ventilen. In Betriebszuständen, bei denen nur eine geringe oder keine Druckdifferenz vorliegt und das Ventil dennoch dicht sein muss, zeigt sich der Vorteil der vorliegenden Anmeldung gegenüber der aus den Dokumenten D1 und D2 bekannten Lösung. In diesen Betriebszuständen kann in den Dokumenten D1 und D2 nur die auf beide Anker wirkende Druckfeder die zum Dichten benötigte Kraft aufbringen, weshalb diese Feder entsprechend "hart" ausgelegt werden muss. Dies hat den Nachteil, dass zum Öffnen sowohl des Vorsteuersitzes als auch des Hauptsteuersitzes gegen die Kraft der einzigen Druckfeder und je nach Betriebszustand auch gegen die von der Druckdifferenz auf den Vorsteueranker aufgebrachte Kraft gearbeitet werden muss. Die Öffnungskraft wird vom Magnetfeld der Spule aufgebracht, die bei den in den Dokumenten D1 und D2 gezeigten Ventilen daher entsprechend groß gewählt werden muss. Im Gegensatz dazu muss bei dem Hochdruckgasventil der vorliegenden Anmeldung nur gegen die erste Druckfeder gearbeitet werden. Sobald das Vorsteuerventil geöffnet ist, findet ein Druckausgleich statt, so dass zum Öffnen des Hauptventilsitzes der Hauptanker nur noch gegen die zweite Druckfeder arbeiten muss.
Keines der Dokumente D1 und D2 zeigt diese Auftrennung der Druckfeder. Entgegen der Auffassung der Prüfungsabteilung (siehe angefochtene Entscheidung, Gründe, Punkte 6 und 7) handelt es sich dabei nicht um eine übliche Vorgehensweise, die der Fachmann auswählen würde, um eine höhere Schließkraft auf den Hauptanker zu erreichen. Um dies zu erreichen, könnte der Fachmann auch die in den Dokumenten D1 und D2 gezeigte Druckfeder anders dimensionieren. Weder aus Dokument D1 noch aus Dokument D2 erhält der Fachmann eine Veranlassung eine zweite in Schließrichtung und nur auf den Hauptanker wirkende Druckfeder vorzusehen. Damit kann keines dieser Dokumente für sich genommen den Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags nahelegen.
2.5.3 Naheliegen der Lösung ausgehend von den Dokument D1 oder D2 in Zusammenschau mit dem Dokument D3
Es ist unbestritten, dass das Merkmal M8 aus dem Dokument D3 bekannt ist. Wie die Prüfungsabteilung feststellte, wirkt in Dokument D3 eine zweite Druckfeder (Dokument D3, Figur 1: 50) auf den Hauptanker (Dokument D3, Figur 1: 48) in Schließrichtung.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Figur 1 des Dokuments D3 mit Vorsteueranker 54, Hauptsteueranker 48, Druckfedern 50 und 52
Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass der Fachmann das Dokument D3 auf Grund der im Vergleich zu den Dokumenten D1 und D2 unterschiedlichen Wirkungsweise nicht herangezogen hätte, da das Bauteil 48 im Dokument D3 nicht als Anker, sondern als Kern zu betrachten sei.
Dem stimmt die Kammer nur teilweise zu. Es ist richtig, dass der Hauptsteueranker 48 im Dokument D3 mittels der Druckdifferenz in die geöffnete Position bewegt wird (siehe Dokument D3, Spalte 4, Zeilen 25 bis 28). Allerdings wird das Bauteil 48 im Dokument D3 nicht nur als Anker bezeichnet ("main armature 48"; siehe Dokument D3, Spalte 3, Zeile 44), sondern es wirkt auch so, wenn das Bauteil 48, der Hauptsteueranker, in der geöffneten Position gehalten wird (siehe Dokument D3, Spalte 4, Zeilen 36 bis 38).
Die Kammer ist daher der Meinung, dass der Fachmann das Dokument D3 konsultieren würde, insbesondere da das Dokument D3 das Ziel verfolgt, das Ventil mit einer im Vergleich zu bekannten Ventilen geringeren Kraft zu öffnen (siehe Dokument D3, Spalte 1, Zeilen 51 bis 56). Dies entspricht der oben formulierten objektiven technischen Aufgabe, bei gleicher Dimensionierung (der Spule) höhere Schließkräfte bereitzustellen.
Allerdings kann die Kammer der Prüfungsabteilung nicht folgen, dass es für den Fachmann naheliegend gewesen wäre, dieses Merkmal M8 mit entsprechender Wirkung auf ein Ventil gemäß einem der Dokumente D1 oder D2 anzuwenden und so zu einem Ventil gemäß Anspruch 1 zu gelangen (siehe angefochtene Entscheidung, Gründe, Punkt 8). Gemäß dem Dokument D3 liegt ein wesentlicher Beitrag zur Lösung darin, dass der Vorsteueranker und der Hauptsteueranker in Reihe angeordnet sind, und dass beim Öffnen des Vorsteuerventilsitzes der Vorsteueranker durch das durch das Bestromen der Spule erzeugte Magnetfeld gegen den Hauptsteueranker bewegt wird. Der Fachmann hätte daher keine Veranlassung gehabt, von dieser Anordnung des Vorsteuer- und Hauptankers abzuweichen und das Merkmal einer zweiten, auf den Hauptanker wirkenden Schließfeder selektiv herauszugreifen.
Die Kammer ist daher der Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags gegenüber einer Kombination der Dokumente D1 oder D2 mit dem Dokument D3 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
3. Erfinderische Tätigkeit ausgehend vom Dokument D3
3.1 Möglicher Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit und unterscheidende Merkmale
Auch das Dokument D3 stellt einen möglichen Ausgangspunkt für die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit nach dem Aufgabe-Lösungsansatz dar. Es offenbart ebenso wie die vorliegende Anmeldung ein elektromagnetisch betätigbares Hochdruckventil mit einer Druckfeder, die auf den Vorsteueranker wirkt, und einer weiteren Druckfeder, die auf den Hauptsteueranker wirkt. Damit kann die auf den Vorsteueranker wirkende erste Druckfeder weicher als die zweite Druckfeder gestaltet werden. Wie von der Prüfungsabteilung unter Punkt 8 der Gründe der angefochtenen Entscheidung dargestellt, kann dadurch die Kraft, um den Vorsteueranker zu bewegen, kleiner sein. Dies ist auch der Kern der vorliegenden Anmeldung.
3.2 Unterscheidende Merkmale
Gemäß der Beschwerdeführerin unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 von dem Dokument D3 in den Merkmalen M5 bis M8, insbesondere deshalb, da das Dokument D3 keinen Hauptanker im eigentlichen Sinne zeige. Das beurteilt die Kammer anders (siehe Punkt 2.5.3 oben).
Dies hat zur Folge, dass sich der Gegenstand des Anspruchs 1 von Dokument D3 lediglich in einem Teil des Merkmals M6 (unterstrichener Teil: "bestrombare Spule (12) aufweist, die geeignet ausgebildet und angeordnet ist, auf den Vorsteueranker (4) und den Hauptanker (8) derart zu wirken, dass ein Vorsteuerhub, bei dem alleine der Vorsteueranker (4) bewegt wird und ein Haupthub, bei dem zumindest der Hauptanker (8) bewegt wird, voneinander unabhängig sind,") und im Merkmal M7 unterscheidet. Die Merkmale M5 und M8 sind vom Dokument D3 vorweggenommen, da die Druckfeder 50 auf den Hauptanker 48 in Schließrichtung wirkt.
3.3 Technischer Effekt
Bei dem Merkmal M7 ("wobei der Vorsteueranker wenigstens teilweise innerhalb und konzentrisch zu dem Hauptanker angeordnet ist") handelt es sich um eine konstruktive Alternative zu der Anordnung in Reihe gemäß Dokument D3. Der Vorteil einer derartigen Anordnung liegt in der Platzersparnis und damit einer kompakteren Bauform des Ventils (siehe ursprünglich eingereichte Anmeldung, Seite 6, Zeilen 31 bis 33).
Das Merkmal M6 hat den technischen Effekt, dass die Bewegungen des Vorsteuerankers und des Hauptankers über die bestrombare Spule unabhängig voneinander erfolgen sollen, so dass eine ausreichend hohe Schließkraft in allen Betriebszuständen bereitgestellt wird.
3.4 Objektive technische Aufgabe
Diese beiden Merkmale M6 und M7 haben keine synergistische Wirkung und lösen daher unabhängige Teilaufgaben.
Die erste objektive technische Teilaufgabe liegt darin, eine alternative, kompaktere Ventilbauweise zu finden (siehe ursprünglich eingereichte Anmeldung, Seite 6, Zeilen 31 bis 33).
Die zweite objektive technische Teilaufgabe besteht darin, bei einer ausreichend hohen Schließkraft die Kraft, um den Anker zu bewegen, zu reduzieren (siehe ursprünglich eingereichte Anmeldung, Seite 6, dritter Absatz).
3.5 Naheliegen der Lösung der ersten objektiven technischen Teilaufgabe
Im Dokument D3 sind der Vorsteueranker und der Hauptanker in Reihe angeordnet. Eine relativ kompakte Bauweise des Ventils wird dort dadurch erzielt, dass die Spule kleiner dimensioniert werden kann (siehe Dokument D3; Spalte 1, Zeilen 55 bis 56 "low power solenoid valve"). Dies wiederum wird dadurch realisiert, dass der Vorsteueranker durch die durch die Bestromung der Spule induzierte Magnetkraft gegen den Hauptsteueranker gezogen wird. Daher würde der Fachmann von der im Dokument D3 offenbarten seriellen Anordnung des Vorsteuer- und Hauptsteuerankers nicht abweichen. Das Merkmal M7 ist daher ausgehend von Dokument D3 alleine nicht nahegelegt. Auch die Kombination mit den Dokumenten D1 oder D2, die zwar das Merkmal M7 vorwegnehmen (siehe Figur 1 der Dokumente D1, D2; Punkt 2.2 oben), führt nicht in naheliegender Weise zu der beanspruchten Lösung, da in den Dokumenten D1 und D2 der Vorsteueranker direkt zum Kern bewegt wird, was im Widerspruch zu der im Dokument D3 offenbarten Lösung steht.
3.6 Naheliegen der Lösung der zweiten objektiven technischen Teilaufgabe
Da bereits das Merkmal M7 das Vorliegen einer erfinderischer Tätigkeit begründet, kann das Naheliegen der Lösung der zweiten objektiven technischen Teilaufgabe dahingestellt bleiben.
4. Schlussfolgerung
Der der Kammer vorliegende Stand der Technik stellt die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags im Sinne von Artikel 56 EPÜ somit nicht in Frage.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent auf Grundlage der folgenden Unterlagen zu erteilen:
Patentansprüche: 1 bis 13, eingegangen am 14. Juli 2023 als Hauptantrag;
Beschreibung: Seiten 1 bis 20, eingegangen am 14. Juli 2023;
Zeichnungen: Blätter 1 bis 4 wie ursprünglich eingereicht