J 0014/94 (Vertrauensschutz) 15-12-1994
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1. Wenn das EPA die Beteiligten und die Öffentlichkeit durch sein Verhalten über längere Zeit hinweg in dem begründeten Glauben läßt, daß kein Rechtsverlust eingetreten ist, kann es sich später nicht auf einen mehrere Jahre zurückliegenden Rechtsverlust berufen, ohne gegen das Verbot des "venire contra factum proprium" und damit gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu verstoßen.
2. Unter diesen Umständen kann die verspätete Zahlung einer Jahresgebühr ausnahmsweise als rechtzeitig bewirkt angesehen werden, sofern das EPA den Anmelder nicht auf die noch ausstehende Zahlung hingewiesen, spätere Jahresgebühren anstandslos entgegengenommen und das Prüfungsverfahren mehrere Jahre lang (hier: bis zur Zustellung der Mitteilung nach Regel 51 (6) EPÜ) fortgesetzt hat.
Rechtsverlust
Verspätete Mitteilung nach Regel 69 (1) EPÜ
Fortsetzung des Prüfungsverfahrens nach Rechtsverlust
Vertrauensschutz
Venire contra factum proprium
I. Der Anmelder/Beschwerdeführer reichte die europäische Patentanmeldung Nr. 86 303 055.7 am 23. April 1986 ein. Die Jahresgebühr für das dritte Jahr wurde am 2. Mai 1988 fällig, aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht entrichtet. Im Gegensatz zu seiner sonst üblichen Praxis machte das Europäische Patentamt den Beschwerdeführer nicht auf die Nachfristregelung in Artikel 86 (2) EPÜ aufmerksam. Der Beschwerdeführer zahlte auch nicht die Jahresgebühr zusammen mit der Zuschlagsgebühr innerhalb der in diesem Artikel genannten Frist von sechs Monaten nach Fälligkeit.
II. Dennoch setzte das Europäische Patentamt das Prüfungsverfahren fort, ohne den Beschwerdeführer von einem Rechtsverlust in Kenntnis zu setzen. 1989 und 1990 nahm das Amt die Jahresgebühren für das vierte und das fünfte Jahr entgegen. Am 18. April 1990 erging eine Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ, worauf der Beschwerdeführer sein Einverständnis mit der mitgeteilten Fassung erklärte. Auf die Mitteilung des Amts gemäß Regel 51 (6) EPÜ vom 12. Juni 1990 hin entrichtete der Beschwerdeführer schließlich auch noch die Erteilungs- und die Druckkostengebühr und reichte eine Übersetzung der Ansprüche ein.
III. Am 15. Januar 1991 erkundigte sich der zugelassene Vertreter beim Europäischen Patentamt, wann mit dem Erteilungsbeschluß gerechnet werden könne. Auf diese Anfrage hin erließ das Europäische Patentamt am 18. Februar 1991 eine Mitteilung nach Regel 69 (1) EPÜ, in der es feststellte, daß die Anmeldung als zurückgenommen gelte, weil die Jahresgebühr für das dritte Jahr nicht entrichtet worden sei. Der Beschwerdeführer wurde auch davon in Kenntnis gesetzt, daß die Frist von einem Jahr für die Stellung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Artikel 122 EPÜ zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen sei.
IV. Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin eine Entscheidung nach Regel 69 (2) EPÜ und entrichtete die Jahresgebühr für das dritte Jahr sowie die Zuschlagsgebühr. In seiner Entscheidung vom 21. August 1991 erklärte das Europäische Patentamt, ein bereits eingetretener Rechtsverlust könne nicht dadurch rückgängig gemacht werden, daß der Beschwerdeführer nicht frühzeitig nach Regel 69 (1) EPÜ auf ihn hingewiesen worden sei. Demzufolge galt die Anmeldung mit Wirkung vom 3. November 1988 als zurückgenommen, und es wurde die Rückzahlung aller Gebühren angeordnet, die der Beschwerdeführer nach diesem Stichtag entrichtet hatte.
V. Am 12. Oktober 1991 legte der Beschwerdeführer gegen diese Entscheidung Beschwerde ein, nachdem er bereits am 11. Oktober 1991 die entsprechende Gebühr entrichtet hatte. Die schriftliche Beschwerdebegründung ging am 30. Dezember 1991 ein.
Der Beschwerdeführer beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die dritte Jahresgebühr als rechtzeitig entrichtet zu betrachten.
Er brachte sinngemäß folgende Argumente vor:
a) Die erste Instanz habe Artikel 86 (3) EPÜ fälschlich dahingehend ausgelegt, daß ein Rechtsverlust (Rücknahmefiktion) automatisch von Rechts wegen eintrete, sobald die Frist für die Zahlung einer Jahresgebühr verstrichen sei. Insbesondere aus dem zweiten Satz dieses Artikels gehe klar hervor, daß das EPA irgendeine Entscheidung getroffen haben müsse, bevor überhaupt ein Rechtsverlust eintreten könne. Es sei daher nicht richtig, wenn sich das Amt auf einen "bereits eingetretenen" Rechtsverlust berufe.
b) Es ergebe sich aus der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, insbesondere aus der Entscheidung J ../87 (ABl. EPA 1988, 323), daß das Europäische Patentamt unter bestimmten Umständen nach eigenem Ermessen beschließen könne, daß eine Gebühr, also auch eine Jahresgebühr, als rechtzeitig entrichtet "gelte", auch wenn sie in Wirklichkeit nicht fristgerecht entrichtet worden sei oder wenn sich die Zahlung in den Unterlagen des EPA nicht nachweisen lasse.
c) Daß dem Anmelder der offensichtliche Rechtsverlust nicht nach Artikel 69 (1) EPÜ mitgeteilt worden sei, bevor die in Artikel 122 (2) EPÜ genannte Frist von einem Jahr für die Stellung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelaufen sei, habe den Beschwerdeführer der Möglichkeit beraubt, von dem in diesem Artikel vorgesehenen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen. Die Tatsache, daß die Mitteilung erst mehr als zwei Jahre später, nach Unterrichtung des Beschwerdeführers von der beabsichtigten Patenterteilung ergangen sei, stelle einen gravierenden Verfahrensmangel dar.
d) Folglich solle das Europäische Patentamt nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes vorgehen, der das Verhältnis zwischen dem Amt und den Benutzern des europäischen Patentsystems beherrsche, denn dies wäre in Anbetracht der Sachlage nur recht und billig und würde den Interessen der Öffentlichkeit nicht schaden.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und den Regeln 1 (1) und 64 b) EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Die Entscheidung der ersten Instanz wurde im wesentlichen damit begründet, daß ein bereits eingetretener Rechtsverlust nicht dadurch rückgängig gemacht werden könne, daß das Amt nicht frühzeitig eine Mitteilung nach Regel 69 (1) EPÜ erlassen habe (vgl. Nr. 4 der Entscheidung).
3. Stellt das Europäische Patentamt fest, daß ein Rechtsverlust aufgrund des Übereinkommens eingetreten ist, so teilt es dies nach Regel 69 (1) EPÜ dem Betroffenen mit. Ist der Betroffene der Auffassung, daß die Feststellung des EPA nicht zutrifft, so kann er eine Entscheidung des EPA beantragen (R. 69 (2) EPÜ) oder einen Antrag auf Weiterbehandlung bzw. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellen.
Eine frühzeitige Zustellung der Mitteilung nach Regel 69 (1) EPÜ wäre nach Auffassung der Kammer natürlich wünschenswert, aber das Übereinkommen enthält keine Bestimmung, die das Europäische Patentamt verpflichtet, eine solche Mitteilung innerhalb einer bestimmten Frist nach Eintritt oder Feststellung eines Rechtsverlusts zu erlassen. Ebensowenig gibt es eine Bestimmung, der zufolge ein von Rechts wegen eingetretener Rechtsverlust mit der Begründung rückgängig gemacht werden kann, die besagte Mitteilung sei verspätet ergangen. Deshalb kann nach Auffassung der Kammer die bloße Tatsache, daß eine Mitteilung nach Regel 69 (1) EPÜ verspätet ergeht, einen Rechtsverlust nicht rückgängig machen.
4. Im vorliegenden Fall hat es das Europäische Patentamt jedoch nicht nur versäumt, frühzeitig eine Mitteilung nach Regel 69 (1) EPÜ zu erlassen; es hat vielmehr ab dem entscheidenden Datum mehr als zwei Jahre lang (von November 1988 bis Februar 1991) aktiv an der Fortsetzung des Prüfungsverfahrens teilgenommen.
Während dieses Zeitraums nahm das Amt alle vom Anmelder entrichteten Gebühren (die Jahresgebühren für das vierte und das fünfte Jahr sowie die Erteilungs- und die Druckkostengebühr) entgegen. Im Verlauf der Sachprüfung forderte es den Beschwerdeführer in mehreren Bescheiden auf, Verfahrenshandlungen vorzunehmen, die für eine spätere Patenterteilung erforderlich gewesen wären.
Nach dem entscheidenden Datum gab das Europäische Patentamt somit mehr als zwei Jahre lang durch sein Verhalten zu verstehen, daß die Anmeldung immer noch anhängig sei, was implizit bedeutet, daß die Frist für die Zahlung der Jahresgebühr für das dritte Jahr als eingehalten galt.
5. Der Beschwerdeführer, der nicht wußte, daß er die vorstehend genannte Frist versäumt hatte, schloß aus dem Verhalten des Amts, daß die Patentanmeldung während der Sachprüfung in den Jahren 1989 und 1990 immer noch anhängig war. Da das Europäische Patentamt darüber hinaus die Jahresgebühren für das vierte und das fünfte Jahr entgegengenommen hatte, mußte der Beschwerdeführer annehmen, daß die Frist für die Zahlung der Jahresgebühr für das dritte Jahr eingehalten worden war. Folglich wandte er im Vertrauen darauf, daß die Anmeldung immer noch anhängig war, Zeit und Mühe für das Prüfungsverfahren auf, das vom Europäischen Patentamt so lange fortgesetzt wurde, bis die Anmeldung erteilungsreif war.
6. Auch Dritte, die sich über den Stand der in Frage stehenden Patentanmeldung unterrichten wollten, hätten keinen Grund zu der Annahme gehabt, daß ein Rechtsverlust eingetreten sei. Bei einer Einsichtnahme in das europäische Patentregister (Art. 127, R. 92 EPÜ) hätte sich noch Ende 1990 kein Eintrag gefunden, wonach die Anmeldung als zurückgenommen galt (vgl. R. 92 (1) n) EPÜ). Eine Akteneinsicht (Art. 128, R. 94 EPÜ) hätte bestätigt, daß das Prüfungsverfahren ordnungsgemäß weiterging, bis die Anmeldung erteilungsreif war.
7. Faßt man die vorstehenden Überlegungen zusammen, so scheinen die folgenden Faktoren, die von der ersten Instanz nicht hinreichend berücksichtigt wurden, im vorliegenden Fall entscheidungserheblich zu sein:
- Das Amt ließ durch sein Verhalten den Beschwerdeführer und Dritte in dem Glauben, die Anmeldung sei 1989 und 1990 immer noch anhängig.
- Aufgrund dieser Annahme setzte der Beschwerdeführer in gutem Glauben das Prüfungsverfahren unter aktiver Mitwirkung des Europäischen Patentamts mehr als zwei Jahre lang fort.
- Der Beschwerdeführer konnte nicht damit rechnen, daß ihm das Amt erst am Ende des Prüfungsverfahrens unerwartet einen Rechtsverlust mitteilen würde, der in einer frühen Verfahrensphase eingetreten war.
- Dritte hatten nie Grund zu der Annahme, in irgendeiner Verfahrensphase sei ein Rechtsverlust eingetreten.
8. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern erfordert der Vertrauensschutz, der das Verhältnis zwischen EPA und Anmelder beherrscht, daß Bescheide für den Anmelder klar und unmißverständlich sind. Vertraut ein Anmelder einem mißverständlichen Bescheid, so darf ihm daraus kein Nachteil erwachsen (vgl. J 3/87, ABl. EPA 1989, 3; J 1/89, ABl. EPA 1992, 17, Nrn. 6 und 7 der Entscheidungsgründe).
Im vorliegenden Fall erließ das EPA zwar nie eine Mitteilung, in der ausdrücklich festgestellt wurde, es sei kein Rechtsverlust eingetreten. Es ließ die Beteiligten und die Öffentlichkeit aber durch sein Verhalten über längere Zeit hinweg in dem begründeten Glauben, daß kein Rechtsverlust eingetreten sei. Ein solches Verhalten entsprach praktisch einem mißverständlichen Bescheid des EPA, dem der Anmelder vertrauen durfte. Daß sich das EPA viel später auf einen mehrere Jahre zurückliegenden Rechtsverlust berief, stand eindeutig im Widerspruch zu seinem früheren Verhalten und verstieß damit gegen das allgemein anerkannte Verbot des "venire contra factum proprium" (Dig. 1, 7, 25 pr.) und damit gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, der das Verhältnis zwischen EPA und Anmelder beherrscht.
9. Da das EPA den Anmelder nicht auf die noch ausstehende Zahlung hingewiesen, spätere Jahresgebühren aber anstandslos entgegengenommen und das Prüfungsverfahren mehrere Jahre lang fortgesetzt hat, kann die verspätete Zahlung einer Jahresgebühr unter diesen Umständen ausnahmsweise als rechtzeitig bewirkt gelten.
10. In Anbetracht der Tatsache, daß der Beschwerdeführer selbst die Nichtzahlungder Gebühr zu vertreten hatte, und das Amt damit über den Stand der Anmeldung irregeführt hat, entspricht eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ nicht der Billigkeit.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, auf der Grundlage der gebilligten Fassung ein Patent zu erteilen.