R 0005/11 22-08-2011
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Verfahren zur Herstellung einer Luftzerlegungsanlage
Praxair, Inc.
L'AIR LIQUIDE, S.A.
I. Der Antrag auf Überprüfung betrifft die Entscheidung T 1685/07, mit der die Beschwerdekammer 3.2.03 die Beschwerde der Patentinhaberin (Antragstellerin) gegen den Widerruf ihres europäischen Patents Nr. 1 311 790 zurückgewiesen hat. Das Patent bezieht sich auf ein Verfahren zur Herstellung einer Anlage zur Durchführung eines Tieftemperatur-Luftzerlegungsverfahrens. Dabei geht es im wesentlichen darum, Module der Anlage innerhalb einer thermischen Isolierung in Form von "Coldboxen" vordefinierter Größenklassen anzuordnen.
II. Der Antrag stützt sich auf Artikel 112a(2)c) EPÜ, d.h. auf einen schwerwiegenden Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ. Dieser wird damit begründet, dass die Nichtzulassung der Hilfsanträge 4 bis 6 der Beschwerdeführerin in der schriftlichen Entscheidung auf Gründe gestützt worden sei, zu denen sie sich nicht habe äußern können.
III. Das Beschwerdeverfahren lässt sich, soweit für den Überprüfungsantrag relevant, wie folgt zusammenfassen:
a) Mit ihrer Beschwerdebegründung vom 20. November 2007 reichte die Beschwerdeführerin (Antragstellerin) geänderte Patentansprüche als Haupt- bzw. Hilfsantrag ein: Der Hauptantrag betraf ein Verfahren zur Herstellung einer Anlage zur Tieftemperatur-Luftzerlegung mit mindestens einer "Coldbox" für mindestens ein Modul der Anlage. Der Hilfsantrag (Hilfsantrag 1) war auf ein spezielles Ausführungsbeispiel der Anlage mit drei "Coldboxen" gerichtet, in denen jeweils ein bestimmtes Modul der Anlage angeordnet wird.
b) Am 31. März 2009 reichte die Antragstellerin als Reaktion auf die Beschwerdeerwiderung zusätzliche Anspruchssätze als Hilfsanträge 2 und 3 ein: Hilfsantrag 2 war eine weitere Präzisierung von Hilfsantrag 1 und betraf somit auch das Ausführungsbeispiel mit drei "Coldboxen". Hilfsantrag 3 betraf dagegen nicht mehr das Ausführungsbeispiel mit drei "Coldboxen" gemäß den Hilfsanträgen 1 und 2, sondern richtete sich nun auf eine Anlage mit mindestens zwei "Coldboxen" in 3 bis 10 vordefinierten Größenklassen.
c) In einem Ladungsbescheid vom 5. Mai 2010 wies die Beschwerdekammer darauf hin, dass in der mündlichen Verhandlung gegebenenfalls die Zulässigkeit und der Gegenstand der Hilfsanträge diskutiert würden. Dazu führte sie unter anderem aus: "Die Hilfsanträge 2 und 3 scheinen in verschiedene Richtung[en] zu führen und werden ohne Begründung zur erfinderischen Tätigkeit eingereicht. Die Zulassung der Hilfsanträge 2 und 3 muss daher in Frage gestellt werden." Der Bescheid schloss mit dem Satz: "Es wird darauf hingewiesen, dass die Zulassung geänderten Vorbringens im Ermessen der Kammer steht (Art.13 VOBK)."
d) In Erwiderung darauf reichte die Antragstellerin mit Schreiben vom 30. Juni 2010 sechs geänderte Anspruchssätze als neue Hilfsanträge 1 bis 6 ein: Die neuen Hilfsanträge 2 und 3 richteten sich auf das Ausführungsbeispiel mit drei "Coldboxen" gemäß den früheren Hilfsanträgen 1 und 2. Die neuen Hilfsanträge 4 bis 6 beruhten auf dem früheren Hilfsantrag 3 und betrafen somit eine Anlage mit mindestens zwei "Coldboxen" in 3 bis 10 bzw. (gemäß Hilfsantrag 6) 4 bis 8 vordefinierten Größenklassen.
e) Die Hilfsanträge 4 bis 6 wurden in der Folge von der Beschwerdekammer nicht ins Verfahren zugelassen. Die Begründung dafür findet sich in den Ziffern 6 ff. der schriftlichen Entscheidung. Dort werden zuerst, ausgehend von Artikel 106(1) EPÜ und der Rechtsprechung, die Natur des Beschwerdeverfahrens und die Folgen für die Zulassung nachträglicher Änderungen der Anträge im allgemeinen abgehandelt. In Ziffer 6.5 geht die Kammer dann auf die Fallgruppe divergierender Anspruchsfassungen ein. Als Fazit dieser Ausführungen wird unter Verweisung auf die frühere Entscheidung T 565/07 festgestellt: "Neben dem Zeitpunkt der Antragstellung ist dabei gerade auch von Bedeutung, ob die jeweiligen Anspruchsfassungen "konvergieren" oder "divergieren", also den Gegenstand des unabhängigen Anspruchs eines Hauptantrags in eine Richtung ( ) zunehmend einschränkend weiterentwickeln oder etwa durch Aufnahme jeweils verschiedener Merkmale unterschiedliche Weiterentwicklungen verfolgen".
In den Ziffern 6.7 und 6.8 der Entscheidung geht die Beschwerdekammer schließlich auf den konkreten Sachverhalt ein, d.h. auf die nach der Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung mit Schriftsatz vom 30. Juni 2010 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 6. Dabei kommt die Kammer zu dem Ergebnis: "Insgesamt gehen die Anspruchsfassungen nach den Hilfsanträgen 4 bis 6 damit in eine völlig andere Richtung als die Anspruchsfassungen nach dem Hauptantrag und den Hilfsanträgen 1 bis 3". Diese Vorgehensweise der Beschwerdeführerin stelle die anderen Verfahrensbeteiligten und die Kammer vor eine nicht zumutbare Situation, die ihnen auferlege, sich mit divergierenden Anspruchsfassungen und dabei mit einem völlig neuen Sachverhalt befasst zu sehen. Dies stelle "keine ordnungsgemäße verfahrensfördernde Verteidigung im oben genannten Sinne dar, weshalb die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13(1) und (3) VOBK die Hilfsanträge 4 bis 6 nicht ins Verfahren zugelassen hat".
IV. Die Antragstellerin macht geltend, diese Beurteilung ihrer Vorgehensweise sei ihr während des Beschwerdeverfahrens nie mitgeteilt worden, sodass ihr keine entsprechende Verteidigungsmöglichkeit eröffnet worden sei. Weder sei angesprochen worden, dass die Hilfsanträge verspätet vorgebracht worden seien, noch sei Artikel 13 VOBK erwähnt worden. Auch die Entscheidung T 565/07 sei erstmals in der schriftlichen Entscheidung angeführt worden. In der mündlichen Verhandlung habe die Beschwerdekammer zwar angedeutet, dass sie die Nichtzulassung der Hilfsanträge 4 bis 6 beabsichtige, dies sei aber ausschließlich mit inhaltlichen Erwägungen, d.h. mit mangelnder Konvergenz dieser Anträge begründet worden. Dazu habe die Beschwerdeführerin auch Stellung nehmen können. Doch sei die Frage des Zusammenhangs zwischen der Konvergenz der Anträge und Artikel 13 VOBK nicht aufgeworfen worden. Auf mehrfache Nachfrage der Beschwerdeführerin nach der Rechtsgrundlage für die beabsichtigte Nichtzulassung der Hilfsanträge 4 bis 6 sei einzig und allein Artikel 106 EPÜ genannt worden, nicht aber die Artikel 13(1) und (3) VOBK, auf die sich die schriftliche Entscheidung dann im wesentlichen stützte. Wäre dies der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt worden, hätte sie auf ihren vormaligen dritten Hilfsantrag vom 31. März 2009 zurückgehen können, auf welchen der Artikel 13(3) VOBK schon formal nicht anwendbar gewesen wäre.
Der Verstoß gegen Artikel 113(1) EPÜ sei schwerwiegend im Sinne von Artikel 112a(2)c) EPÜ, weil:
- das Patent durch die Nichtzulassung der Hilfsanträge 4 bis 6 endgültig vernichtet wurde,
- die Beschwerdeführerin sich zu wesentlichen Gründen für diese Entscheidung nicht äußern konnte, und
- dadurch eine ohne weiteres verfügbare Handlungsmöglichkeit zur Rettung des Patents nicht einsetzen konnte.
V. Die Antragstellerin beantragt, die Entscheidung T 1685/07 sei aufzuheben und die Wiedereröffnung des Verfahrens sei anzuordnen. Außerdem wird beantragt, nach Regel 108(3) Satz 2 anzuordnen, die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an dieser Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen. Hilfsweise wurde eine mündliche Verhandlung beantragt.
VI. Diese fand am 22. August 2011 statt, nachdem die Große Beschwerdekammer in einem Ladungsbescheid auf einige in der mündlichen Verhandlung zu diskutierende Gesichtspunkte hingewiesen hatte.
Zulässigkeit des Antrags
1. Zeitpunkt und Form des vorliegenden Überprüfungsantrags entsprechen den in Regel 108(1) EPÜ genannten Bestimmungen. Da der geltend gemachte Verstoß gegen Artikel 113(1) EPÜ den Inhalt der schriftlichen Entscheidung betrifft, konnte der betreffende Einwand im Beschwerdeverfahren nicht erhoben werden, sodass die Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ entfällt. Es liegen somit keine Gründe für eine offensichtliche Unzulässigkeit des Antrags vor.
Begründetheit des Antrags
2. Wie sich aus dem dargestellten Verfahrensverlauf (oben, Ziff. III) ergibt, lag der hauptsächliche Grund für die Nichtzulassung der Hilfsanträge 4 bis 6 darin, dass diese nach der Beurteilung der Beschwerdekammer "in eine völlig andere Richtung" gingen als die Anspruchsfassungen des Hauptantrags und der Hilfsanträge 1 bis 3, d.h. in der mangelnden Konvergenz der Hilfsanträge 4 bis 6 mit den im Rang vorangehenden Anträgen. Auf dieses Problem hatte die Beschwerdekammer schon in ihrem Ladungsbescheid hingewiesen - damals noch für den früheren Hilfsantrag 3, auf dem die später eingereichten Hilfsanträge 4 bis 6 beruhten. Nach den Ausführungen der Antragstellerin wurde dieser Aspekt in der mündlichen Verhandlung auch diskutiert. Insofern ist keine Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Artikel 113(1) EPÜ zu erkennen.
3. Die Antragstellerin sieht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör jedoch dadurch verletzt, dass sie auf Grund der Verfahrensführung der Beschwerdekammer keine Gelegenheit hatte, zur Frage der Verspätung der fraglichen Anträge unter dem Gesichtspunkt von Artikel 13 VOBK Stellung zu nehmen bzw. entsprechende Handlungsalternativen zu ergreifen. Dies gelte speziell für die in der Entscheidung angewandte Bestimmung von Artikel 13(3) VOBK zur Frage der Zumutbarkeit der Behandlung von nach Ladung zur Verhandlung eingereichten Änderungen, die überhaupt nicht zur Diskussion gestellt worden sei.
4. Die Große Beschwerdekammer kann diese Auffassung aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen nicht teilen.
4.1 Wie sich aus dem eingangs dargestellten Verfahrensverlauf ergibt, hat die Beschwerdekammer in ihrem Ladungsbescheid zur mündlichen Verhandlung nicht nur auf das Problem divergierender Anspruchsfassungen hingewiesen, sondern abschließend ausdrücklich auch darauf, dass die Zulassung geänderten Vorbringens gemäß Artikel 13 VOBK im Ermessen der Kammer stehe. Es trifft also sachlich nicht zu, dass im Verfahren vor der Beschwerdekammer kein Hinweis auf die Problematik späten Vorbringens unter dem Gesichtspunkt von Artikel 13 VOBK erfolgte. Dass die Antragstellerin diesen Hinweis als Leerformel ohne Bezug auf den konkreten Fall verstanden haben mag, kann der Beschwerdekammer nicht angelastet werden.
4.2 Selbst ohne diesen Hinweis musste dem Vertreter der Antragstellerin aber auf Grund der ständigen Praxis der Beschwerdekammern (siehe dazu z.B. 'Rechtsprechung der Beschwerdekammern', 6. Auflage 2010, Abschnitt VII.E.16, "Einreichen geänderter Patentansprüche im Beschwerdeverfahren") klar sein, dass die Zulassung geänderter Patentansprüche während des Beschwerdeverfahrens in das Ermessen der Kammer gestellt ist, das in Abwägung der Gesamtumstände des jeweiligen Falls ausgeübt wird. Diese ständige Praxis wurde im Jahr 2003 in der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern kodifiziert, deren Kenntnis für zugelassene Vertreter vorauszusetzen ist.
4.3 Wie die Antragstellerin selbst einräumt, kündigte die Beschwerdekammer während der mündlichen Verhandlung an, dass sie die Nichtzulassung der Hilfsanträge 4 bis 6 beabsichtige, wobei sie sich auf die mangelnde Konvergenz dieser Anträge berufen haben soll, ohne deren Verspätung anzusprechen. Mit diesem Hinweis ergab sich für die Beschwerdeführerin zweifellos die Gelegenheit, alle Argumente vorzubringen, die für die Zulassung ihrer Hilfsanträge 4 bis 6 sprachen. Dass sie daran gehindert worden sei, hat sie nicht behauptet. Sie macht lediglich geltend, dass ihr auf mehrfache Nachfrage nach der Rechtsgrundlage für die beabsichtigte Nichtzulassung nur Artikel 106 EPÜ genannt worden sei, woran sie Zweifel geäußert habe. Nach Meinung der Großen Beschwerdekammer konnte dies für die Beschwerdeführerin objektiv kein Hinderungsgrund sein, ihre eigenen Argumente für die Zulassung der Hilfsanträge 4 bis 6 vorzutragen, zumal sie an der Richtigkeit der erhaltenen Antwort zweifelte. Dass zu einer solchen Argumentation auch der Aspekt der Verspätung gehört, ergibt sich allein schon aus der Tatsache der späten Einreichung der Anträge und bedurfte keines besonderen Hinweises durch die Beschwerdekammer.
4.4 Auch wenn die Beschwerdekammer während der mündlichen Verhandlung das Thema der Verspätung der Hilfsanträge 4 bis 6 von sich aus offenbar nicht mehr aufgriff, stellt die Tatsache, dass sie diesen Aspekt bei der Ermessensausübung berücksichtigte, keine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Antragstellerin dar. Die Kammer hatte im Ladungsbescheid deutlich auf die Problematik geänderten Vorbringens und auf ihr diesbezügliches Ermessen nach Artikel 13 VOBK hingewiesen und brauchte diesen Hinweis in der Verhandlung nicht zu wiederholen. Dass sich die Kammer in ihrer Entscheidung nicht nur auf Artikel 13(1) VOBK, sondern auch auf Artikel 13(3) VOBK berief, der gerade kein Ermessen vorsieht, schadet insofern nicht, als diese Bestimmung für die Begründung nicht einschlägig ist.
5. Auch die von der Antragstellerin vorgebrachten Argumente, weshalb der geltend gemachte Verstoß gegen Artikel 113(1) EPÜ schwerwiegend im Sinne von Artikel 112a(2)(c) EPÜ sei, vermögen nicht zu überzeugen.
5.1 Die Tatsache, dass die Beschwerdekammer den Widerruf des Patents der Antragstellerin im Ergebnis bestätigte, ist für sich allein nicht geeignet, den behaupteten Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ als schwerwiegend zu qualifizieren. Dass der Ausgang des Beschwerdeverfahrens für die Antragstellerin schwerwiegend sein mag, reicht hierfür nicht aus.
5.2 Auch kann sich die Große Beschwerdekammer der Meinung der Antragstellerin nicht anschließen, sie habe sich zu wesentlichen Gründen für die Entscheidung nicht äußern können. Hierzu wird auf die Erwägungen unter Ziffer 4.3 verwiesen.
5.3 Schließlich ist auch das Argument der Antragstellerin nicht überzeugend, die Verfahrensführung der Beschwerdekammer habe sie davon abgehalten, eine ohne weiteres verfügbare Handlungsmöglichkeit zur Rettung des Patents zu ergreifen. Diese Handlungsmöglichkeit sieht die Antragstellerin darin, dass sie auf ihren vormaligen dritten Hilfsantrag vom 31. März 2009 hätte zurückgehen können, der vor der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht worden war, womit die Bestimmungen von Artikel 13(3) VOBK auf diesen Antrag nicht anwendbar gewesen wären. Dabei übersieht die Antragstellerin, dass die Zulassung ihres vormaligen dritten Hilfsantrags ebenfalls im Ermessen der Kammer gestanden hätte, da er nach der Beschwerdebegründung eingereicht worden war und dass die Kammer schon im Ladungsbescheid auf dessen mangelnde Konvergenz mit den vorangehenden Anträgen hingewiesen hatte. Insofern hätte sich die Situation nicht wesentlich von derjenigen unterschieden, die der Entscheidung zugrunde lag.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird einstimmig entschieden:
Der Antrag auf Überprüfung wird als offensichtlich unbegründet verworfen.