T 0738/02 (Wiedereinsetzung/NORSK HYDRO) 19-12-2003
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Fehlverhalten Hilfsperson
Alle gebotene Sorgfalt (ja)
I. Mit Entscheidung vom 24. Mai 2002 hat die Einspruchsabteilung das Patent Nr. 0 667 439 widerrufen.
II. Gegen die Entscheidung hat die Patentinhaberin - im folgenden Beschwerdeführerin - am 18. Juli 2002 Beschwerde eingelegt und gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet.
III. Mit Mitteilung der Geschäftsstelle der Beschwerdekammern vom 13. November 2002 ist sie darauf hingewiesen worden, daß bis zu diesem Zeitpunkt ein Eingang der Beschwerdebegründung nicht zu verzeichnen gewesen ist.
IV. Daraufhin hat die Beschwerdeführerin am 21. Dezember 2002 die Beschwerdebegründung nachgereicht und unter Zahlung der Wiedereinsetzungsgebühr die Wiedereinsetzung in die Beschwerdebegründungsfrist beantragt und diesen Antrag wie folgt begründet.
Die Beschwerdebegründung sei ausweislich des Datums am 30. Juli 2002 geschrieben worden. Gemäß ständiger Übung im Büro der Vertreter der Beschwerdeführerin würden noch nicht zur Einreichung beim Europäischen Patentamt vorgesehene Schriftsätze grundsätzlich nicht in der Akte abgeheftet, sondern in einer Klarsichtfolie lose in die Akte gelegt. Das Abheften erfolge immer erst unmittelbar im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Postausgangs, wodurch sich regelmäßig schon aus der Akte ersehen lasse, ob eine Eingabe bereits eingereicht worden sei oder nicht. Dieses Vorgehen stelle eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme dar.
In derselben Weise habe auch im vorliegenden Fall vorgegangen worden sollen, da die Beschwerdebegründung zunächst der Beschwerdeführerin zur Prüfung habe übermittelt werden sollen. Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen sei die Eingabe jedoch bereits nach ihrer Fertigstellung im Amtsteil der Akte abgeheftet, also auch der Beschwerdeführerin nicht zugeleitet worden.
Bei Eingang der amtlichen Mitteilung vom 30. Juli 2002 über das Beschwerdeaktenzeichen sei vom Vertreter der Beschwerdeführerin die - insoweit übliche - Anweisung erteilt worden, die Beschwerdefrist nunmehr - soweit dies noch nicht erfolgt sei - vollständig im Fristenbuch zu streichen.
Bei Einreichung der Beschwerde per Post bleibe die Frist nämlich notiert, bis das vom Europäischen Patentamt abgestempelte Empfangsbekenntnis zurück sei.
Die Notierung und Streichung gesetzlicher Fristen erfolge ausschließlich durch zwei Patentanwaltsfachangestellte, denen im Rahmen ihrer vor der Patentanwaltskammer abgelegten Prüfung (am 15. Juli 1999 bzw. am 11. Juli 2002) auch der Nachweis umfangreicher Kenntnisse des europäischen Patentsystems oblegen habe. Beide Fachkräfte würden regelmäßig stichprobenartig überprüft, wobei bisher nie Fehler oder Ungenauigkeiten haben festgestellt werden können.
Vermutlich wegen eines Hörfehlers sei nicht - entsprechend der Anweisung - die Beschwerdefrist, sondern die Beschwerdebegründungsfrist gestrichen worden. Dieser Irrtum wäre möglicherweise bemerkt worden, wenn die Beschwerdefrist noch notiert gewesen wäre. Im vorliegenden Fall sei jedoch die Beschwerdeerhebung am 18. Juli 2002 per Telefax erfolgt und die Beschwerdefrist in diesem Fall nach Prüfung des Sendeprotokolls gestrichen worden. Da die Beschwerdebegründung bereits abgeheftet gewesen sei, sei der Eindruck entstanden, daß alle Erfordernisse erfüllt worden seien, so daß insoweit kein Zweifel an der Richtigkeit der erfolgten Handlungen habe aufkommen können.
Da ein weiter Schriftwechsel zur Akte nicht stattgefunden habe, zumal auch von der Beschwerdeführerin mangels Zusendung des Begründungsentwurfs keine Rückmeldung gekommen und die Akte wegen der vollständig gestrichenen Frist nicht nochmals vorgelegt worden sei, habe der Umstand, daß die fristgerechte Einreichung der Beschwerdebegründung noch ausstehe, nicht festgestellt werden können. Das Fristversäumnis sei vielmehr erst aufgrund der amtsseitigen Mitteilung realisiert worden.
V. Auf entsprechende Nachfrage der Kammer zur Kompetenz und Arbeitsweise der Patentanwaltsfachangestellten sowie zu Einzelheiten des Postausgangs hat der Vertreter der Beschwerdeführerin erläutert, daß die gesetzlichen Fristen nur auf schriftliche oder mündliche Anweisung eines Vertreters gestrichen werden dürften. Bei der Übermittlung von Schriftsätzen mittels Telefax erfolge die Prüfung des Sendeprotokolls durch die Fachkraft, da dies insofern unkritisch sei, als nur zwei Dinge zu prüfen seien, nämlich die Rufnummer die im Telefaxgerät bereits unter der Kennung "EPA" gespeichert und auch im Protokoll wiedergegeben sei und die erfolgreiche Übertragung, die durch ein "OK" sowie die Angabe "keine Fehlerseiten" bestätigt werde.
Die Anweisung zur Streichung der Frist werde in diesen Fällen durch den Vertreter bei Unterzeichnung des zu sendenden Schriftstückes erteilt mit den Worten: "Nach Prüfung des Einzelsendeberichts kann die Frist gestrichen werden".
Zwar treffe zu, daß es im vorliegenden Fall nach Eingang der Mitteilung des Aktenzeichens (Form 3342) einer erneuten Anweisung zur Streichung der Beschwerdefrist nicht bedurft habe. Allerdings erginge in diesen Fällen stets die Anweisung, die Frist zu streichen, "soweit sie noch notiert ist". Dies beinhalte den Auftrag zu prüfen, ob noch eine Vornotierung der Frist bestehe und bejahendenfalls die Streichung vorzunehmen. Dies habe bisher noch nie Anlaß zu Zweifeln gegeben. Bei Eingang des Schriftstücks EPA Form 3342, das, wie bei neu eingehender Post üblich, außen auf die Akte geheftet worden sei, habe für eine Einsichtnahme in die Handakte keine Veranlassung bestanden, zumal die Anordnung der Friststreichung nach Vorliegen der Bestätigung über den Eingang der Beschwerde bedenkenlos erscheine.
Die Mitteilung über die Beschwerdeeinlegung sei ausweislich des Posteingangsstempels in der Kanzlei des Vertreters der Beschwerdeführerin am 2. August 2002 eingegangen. Zu diesem Zeitpunkt sei die Beschwerdebegründung schon abgeheftet gewesen.
Was das Abheften bzw. den Postausgang betreffe, so würde zunächst die erforderliche Anzahl Kopien für die Einreichung angefertigt. Nach dem Kopieren werde des Datum der Absendung auf dem ersten Blatt des Aktenexemplars vermerkt und die Abheftung vorgenommen. In der Regel erfolge dies ohne Paraphe, da im Hinblick auf die geringe Zahl der Mitarbeiterinnen die Handschrift ohne weiteres identifizierbar sei. Erfolge aber die Einreichung einer Eingabe sofort, werde kein handschriftliches Absendedatum auf dem Aktenexemplar vermerkt.
VI. Kopien des Fristenbuchs sind vorgelegt worden. Da sich, wie der Vertreter der Beschwerdeführerin angab, nicht mehr habe feststellen lassen, welche der beiden Fachkräfte die Beschwerdebegründungsfrist gestrichen habe, stellte sich die Frage der Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung nicht.
VII. Die Einsprechende - Beschwerdegegnerin - hat sich zum Wiedereinsetzungsantrag der Beschwerdeführerin nicht geäußert.
1. Gemäß Artikel 108, Satz 3 EPÜ ist die Beschwerde innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Entscheidung schriftlich zu begründen.
2. Im vorliegenden Fall ist die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung am 7. Oktober 2002, einem Montag, abgelaufen (Regeln 78 (2), 83 (1), (2), (4), 85 (1) EPÜ). Die Einreichung der Beschwerdebegründung am 21. September 2002 ist somit außerhalb der Frist erfolgt.
3. Ob die Beschwerdebegründung dennoch als rechtzeitig eingegangen gilt, hängt davon ab, ob dem Wiedereinsetzungsantrag der Beschwerdeführerin in die Frist zur Begründung der Beschwerde stattzugeben ist.
4. Artikel 122 (2) Satz 1 EPÜ schreibt vor, daß der Wiedereinsetzungsantrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses für die Einhaltung der Frist schriftlich einzureichen ist. Die Beschwerdeführerin hat angegeben, daß sie erst mit Zugang der Benachrichtigung vom 13. November 2002 der Geschäftsstelle der Beschwerdekammer über die nicht erfolgte Einreichung der Beschwerdebegründung von der Fristversäumnis Kenntnis erhalten habe. Wann genau diese Mitteilung in der Kanzlei ihres Vertreters eingegangen ist, hat die Beschwerdeführerin nicht präzisiert. Dies ist jedoch ohne Bedeutung, da der Antrag auf jeden Fall innerhalb der Zweimonatsfrist eingereicht worden ist.
Artikel 122 (2) Satz 2 EPÜ ist ebenfalls erfüllt, da die versäumte Handlung, die Einreichung der Beschwerdebegründung, gleichzeitig mit der Stellung des Wiedereinsetzungsantrags nachgeholt worden ist.
5. Da der Wiedereinsetzungsantrag auch fristgemäß begründet worden ist (Artikel 122 (3) Satz 1 EPÜ), erfüllt er alle Zulässigkeitsvoraussetzungen.
6. Nach Artikel 122 (1) EPÜ wird nur dann wieder in den vorigen Stand eingesetzt, wenn die Fristversäumnis trotz Beachtung aller nach den Umständen gebotenen Sorgfalt eingetreten ist.
7. Wie die Beschwerdeführerin angegeben hat, beruht die Fristversäumnis auf einem Versehen einer der beiden Patentanwaltsfachangestellten, die in der Kanzlei des Vertreters der Beschwerdeführerin tätig sind.
Das Fehlverhalten einer Hilfsperson wird dem zugelassenen Vertreter dann nicht angelastet, wenn dieser nachweisen kann, daß er für die in Rede stehende Tätigkeit eine entsprechend qualifizierte Person ausgewählt, sie mit ihren Aufgaben vertraut gemacht und die Ausführung ihrer Arbeiten in vernünftigem Umfang überwacht hat (J 0005/80, ABl. EPA 1981, 343).
8. Hinsichtlich der ausreichenden Qualifizierung der Hilfspersonen besteht zu Zweifeln kein Anlaß. Denn als ausgebildete Patentanwaltsfachangestellte haben beide Hilfspersonen ihre Kenntnisse durch eine Prüfung beweisen müssen. Zu den Aufgaben der Patentanwaltsfachangestellten gehört die selbständige Berechnung, Notierung und Überwachung von Fristen. Hinzu kommt eine mehrjährige Berufspraxis, welche die Qualifizierung untermauert.
Aufgrund der Versicherung des zuständigen Vertreters kann auch davon ausgegangen werden, daß die Hilfspersonen in der Kanzlei des Vertreters der Beschwerdeführerin in vernünftigem Rahmen überwacht werden.
9. An die Sorgfaltspflicht von Hilfspersonen, die mit Routinearbeiten betraut sind, wozu auch die Notierung, Überwachung und Beachtung von Fristen gehört, werden nicht die gleichen strengen Anforderungen gestellt, wie an die des Vertreters (vgl. J 0016/82, ABl. EPA 1983, 262; J 0026/92).
Wie sich im vorliegenden Fall das Geschehen der Kammer darstellt, besteht das Versehen offensichtlich in erster Linie in der Abheftung des Beschwerdebegründungsentwurfs, ohne diesen vorher zunächst der Beschwerdeführerin zugesandt zu haben.
Der Umstand, daß auf Grund eines vermuteten Hörfehlers die Beschwerdebegründungsfrist gestrichen wurde, ist in diesem Fall für die Fristenversäumnis wohl nicht kausal. Denn als die entsprechende Anweisung am 2. August 2002 nach Eingang der Mitteilung EPA Form 3343 zur Streichung der Beschwerdefrist (gehört Beschwerdebegründungsfrist) erging, war die Beschwerdefrist bereits gestrichen und die Beschwerdebegründung befand sich auch bereits in der Akte. Zudem ist nicht mehr aufzuklären, ob die Abheftung der Beschwerdebegründung, ohne sie abgesendet zu haben, und die Streichung der Beschwerdebegründungsfrist von derselben Hilfsperson vorgenommen worden sind oder nicht. War dies der Fall, so wird es abgesehen vom guten Gedächtnis, vom Arbeitsanfall und der Ähnlichkeit der Fälle abhängen, ob sich die Hilfskraft nach drei Tagen daran erinnert, daß sie die Absendung der Beschwerdebegründung nicht veranlaßt hat. Sind beide Handlungen nicht von der gleichen Hilfsperson vorgenommen worden, so hatte die zweite Hilfsperson keinen Anlaß, die Beschwerdebegründungsfrist nicht zu streichen, denn, wie gesagt, befand sich die Beschwerdebegründung in der Akte und sie konnte folglich davon ausgehen, daß sie entsprechend den Kanzleianweisungen auch abgesandt worden war.
Insofern steht das Fristenüberwachungssystem in der Kanzlei des Vertreters der Beschwerdeführerin hier nicht auf dem Prüfstand.
Das in diesem Fall unterlaufene Versehen gehört wohl eher zu den seltener vorkommenden Fehlern.
Um derartige Fehler zu vermeiden, bestehen in der Kanzlei Anweisungen, wie vor dem Abheften des Aktenexemplars eines Schriftsatzes zu verfahren ist. Diesen Anweisungen hat eine der Hilfspersonen zuwidergehandelt. Die vorgesehenen Kontrollmechanismen konnten also nicht greifen, weil sie nicht beachtet wurden.
10. Nach Abwägung aller Umstände erkennt die Kammer hier an, daß die Fristenversäumnis trotz aller nach den Umständen gebotenen Sorgfalt geschehen ist.
Allerdings zeigt dieser Fall, daß es unerläßlich ist, daß die Hilfsperson in Zukunft die von ihnen vorgenommenen Eintragungen und Vermerke mit ihrer Paraphe abzeichnen, damit stets nachvollzogen werden kann, wer für was verantwortlich ist. Es mag sein, daß die jeweilige Hilfsperson durch ihre Handschrift identifizierbar ist. Wie die Beschwerdeführerin jedoch selbst vorgetragen hat, gibt es Tätigkeiten, die nicht von einem handschriftlichen Vermerk begleitet werden, wie beispielsweise die unmittelbare Absendung eines Schriftstücks an das Europäische Patentamt. Auch erscheint der Kammer angesichts des hier geschehenen Fehlverhaltens die bisherige Anweisung für das Abheften des Aktenexemplars ungenügend. Es ist zu überlegen, ob nicht ein Postausgangsbuch oder eine entsprechende Liste, in der die abgehenden Schriftstücke einzutragen sind, eine wirkungsvollere Sicherungsmaßnahme gegen die Wiederholung derartigen Fehlverhaltens darstellen.
11. Abschließend sieht sich die Kammer veranlaßt, darauf hinzuweisen, daß der Eingang der Mitteilung EPA Form 3343 betreffend das Beschwerdeaktenzeichen keinerlei Anlaß zur Anweisung, die Beschwerdefrist zu streichen, bietet, denn bei dieser Mitteilung, einem vorgedruckten Standardschreiben, wie es die Geschäftsstelle der Beschwerdekammern den Beteiligten, die Beschwerde einlegen, routinemäßig zustellt, handelt es sich, wie die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 2/97 (ABl. EPA 1999, 123, Punkt 5.2) ausdrücklich festgestellt hat, nur um ein Verwaltungsschreiben, mit dem den Beteiligten das Aktenzeichen und die für den Fall zuständige Beschwerdekammer mitgeteilt wird. Sie stellt keine Bestätigung dafür dar, daß die Beschwerde als eingelegt gilt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerdeführerin wird wieder in die Beschwerdebegründungsfrist eingesetzt.