T 1843/09 06-06-2012
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Das Verschlechterungsverbot gilt - soweit es zu einer verfahrensrechtlichen Beschränkung der Möglichkeit des Patentinhabers führt, den angestrebten Schutzumfang durch Vornahme von Änderungen abzuwandeln - "grundsätzlich" (G 4/93) bis zur endgültigen Erledigung des Einspruchs und damit auch in jedem Verfahren im Anschluss an eine Zurückverweisung gemäß Artikel 111 EPÜ, so auch in einem weiteren Beschwerdeverfahren (Nr. 2.3.1 der Entscheidungsgründe).
Aus G 1/99 geht klar hervor, dass Ausnahmen vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots aus Billigkeitsgründen zuzulassen sind, um den nicht beschwerdeführenden Patentinhaber vor einer Benachteiligung im Verfahren zu schützen, wenn ihn dieses Verbot an der rechtmäßigen Verteidigung seines Patents hindern würde. Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot sind daher nicht auf die spezielle, in G 1/99 behandelte Situation beschränkt, wo der Einspruchsabteilung eine Fehleinschätzung bezüglich einer Änderung unterlaufen war, die in die mit der angefochtenen Entscheidung aufrechterhaltene Fassung des Patents eingeführt worden war (Nr. 2.4.4 der Entscheidungsgründe).
Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot
erfinderische Tätigkeit (verneint)
I. Der Hinweis auf die Erteilung des europäischen Patents Nr. 0 583 169 auf der Grundlage der am 12. August 1993 im Namen von Toray Industries Inc. eingereichten europäischen Patentanmeldung Nr. 93 306 378.6 wurde am 5. Januar 2000 bekannt gemacht (Patentblatt 2000/01).
Das Patent wurde mit 18 Ansprüchen erteilt. Anspruch 1 lautete wie folgt:
"1. Biaxial orientierter Film, der organische Teilchen enthält, die
a) vernetzte Polymerteilchen mit einem Vernetzungsgrad von zumindest 60 % sind,
b) beim Verformen um 10 % eine Festigkeit (S10) aufweisen, die im Bereich von 29 bis 294 MPa (3 bis 30 kp/mm2) liegt;
c) eine thermische Zersetzungstemperatur für 10%igen Gewichtsverlust von zumindest 350° C aufweisen;
d) einen gewichtsmittleren Durchmesser im Bereich von 0,005 bis 5 ?m aufweisen; und
e) in einem Gehalt von 0,001 bis 20 Gew.-% bezogen auf das Gesamtgewicht des Films vorhanden sind;
wobei der biaxial orientierte Film ein anderer als der Film aus Vergleichsbeispiel 4 von EP?A?0546184 ist."
Anspruch 2 war ein zweiter unabhängiger Anspruch für einen biaxial orientierten Film. Die Ansprüche 3 bis 6 waren direkt oder indirekt von den Ansprüchen 1 und 2 abhängig. Die Ansprüche 7 und 8 waren jeweils auf einen laminierten Film gerichtet, und die Ansprüche 9 bis 18 waren direkt oder indirekt von den Ansprüchen 7 oder 8 abhängig.
II. Teijin Limited legte am 5. Oktober 2000 Einspruch gegen das Patent ein und beantragte dessen Widerruf in vollem Umfang unter Berufung auf Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) sowie auf Artikel 100 c) EPÜ und stützte sich dabei unter anderem auf folgende Dokumente:
D1: JP-A-62-172031 (englische Übersetzung)
D2: Infoblatt zu XC99-301 und XC99-501 (Toshiba Silicone Ltd.)
D8: englische Übersetzung von D2.
D15: EP-A-0 546 184
Nach Ablauf der neunmonatigen Frist gemäß Artikel 99 (1) EPÜ wurden weitere Dokumente eingereicht, darunter:
D19A: WO-A-93/15145
D19: EP-A-0 577 846 - englische Entsprechung von D19A, veröffentlicht gemäß Artikel 158 (3) EPÜ 1973
D20: Versuchsbericht (Beispiel 1 aus D19/D19A)
D21: JP-A-4 309554
D21A: teilweise englische Übersetzung von D21
D22: JP-A-5 84819
D22A: teilweise englische Übersetzung von D22
D15 und D19 bildeten für den Gegenstand des Anspruchs 1 einen Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ. D15 ist das Dokument, dessen Vergleichsbeispiel 4 in Anspruch 1 durch einen Disclaimer ausgeklammert war.
Da die Dokumente D19/D19A bis D22/D22A erst wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung mit Schreiben vom 3. März 2003 vorgelegt worden waren, beantragte die Patentinhaberin, sie nicht zum Verfahren zuzulassen, weil ihre späte Einreichung einen offenkundigen Verfahrensmissbrauch darstelle.
III. Die Patentinhaberin hatte mit Schreiben vom 10. Januar 2003 einen ersten Satz von Anträgen eingereicht, darunter einen Hauptantrag mit 16 Ansprüchen, dessen Anspruch 1 ein zusätzliches Merkmal f umfasste, das auf Anspruch 4 der erteilten Fassung beruhte.
In der mündlichen Verhandlung am 11. März 2003 ersetzte sie den Hauptantrag des oben genannten ersten Antragssatzes durch einen neuen Hauptantrag, in dem nur Anspruch 2 geändert war.
Während der mündlichen Verhandlung reichte die Patentinhaberin einen weiteren Antragssatz ein, der einen Hauptantrag und sechs Hilfsanträge umfasste (zweiter "Austausch"-satz). Dieser Antragssatz sollte den ersten zur Akte genommenen Antragssatz ersetzen, falls die Einspruchsabteilung die verspätet eingereichten Dokumente D19/D19A bis D22/D22A zum Verfahren zulassen sollte.
IV. Mit ihrer am 11. März 2003 mündlich verkündeten und am 9. Mai 2003 schriftlich ergangenen Zwischenentscheidung hielt die Einspruchsabteilung das Patent auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 16 des geänderten Hauptantrags des ersten Antragssatzes aufrecht. Anspruch 1 des Hauptantrags lautete wie folgt:
"1. Biaxial orientierter Film, der organische Teilchen enthält, die
a) vernetzte Polymerteilchen mit einem Vernetzungsgrad von zumindest 60 % sind,
b) beim Verformen um 10 % eine Festigkeit (S10) aufweisen, die im Bereich von 29 bis 294 MPa (3 bis 30 kp/mm2) liegt,
c) eine thermische Zersetzungstemperatur für 10%igen Gewichtsverlust von zumindest 350° C aufweisen,
d) einen gewichtsmittleren Durchmesser im Bereich von 0,005 bis 5 ?m aufweisen, und
e) in einem Gehalt von 0,001 bis 20 Gew.-% bezogen auf das Gesamtgewicht des Films vorhanden sind,
wobei der biaxial orientierte Film
f) andere als die organischen Teilchen, nämlich Teilchen mit jeweils einem Primärteilchendurchmesser von 5 bis 150 nm, enthält und
g) ein anderer als der Film aus Vergleichsbeispiel 4 der EP?A?0546184 ist."
Die Einspruchsabteilung ließ das verspätet eingereichte Dokument D15 zum Verfahren zu, nicht aber die Dokumente D19/D19A bis D22/D22A. D19/D19A erachtete sie prima facie nicht für ausreichend relevant. Außerdem stellte sie fest, dass Anspruch 1 des Hauptantrags, der nun das Merkmal f enthielt, nicht die früheste Priorität vom 12. August 1992 genieße, wodurch D15 und D19 zu einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ würden. Den in Anspruch 1 enthaltenen Disclaimer zum Ausschluss des Vergleichsbeispiels 4 von EP?A?0546184 (D15) befand sie für zulässig, da er Artikel 123 (2) EPÜ genüge. Der maßgebliche Grund hierfür sei, dass das Vergleichsbeispiel 4 der Entgegenhaltung D15, in der dieses Merkmal fehle, aufgrund der Aufnahme des Merkmals f keinen technischen Beitrag zum Gegenstand des Anspruchs 1 leiste.
Die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit gegenüber D15 als nächstliegendem Stand der Technik wurden von der Einspruchsabteilung bejaht.
V. Am 4. Juli 2003 legte die Einsprechende gegen diese Entscheidung Beschwerde ein (Aktenzeichen T 724/03).
In ihrer Beschwerdebegründung machte die Einsprechende geltend, dass der Disclaimer nicht zulässig sei, weil er gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße, und beantragte erneut die Zulassung von D19 zum Verfahren, weil das Beispiel 20 aus D19 hoch relevant für die Beurteilung der Neuheit des beanspruchten Gegenstands sei. Als Nachweis für die Neuheitsschädlichkeit des Beispiels 20 für den Gegenstand des Anspruchs 1 legte sie einen Versuchsbericht über die Nacharbeitung des Beispiels 20 aus D19 vor (D23). Außerdem stellte sie im Hinblick auf D19 allein oder in Kombination mit anderen Dokumenten, wie z. B. D15, die erfinderische Tätigkeit infrage.
Die Patentinhaberin beantragte, D19 nicht zum Verfahren zuzulassen; im Falle seiner Zulassung solle ihr die Einreichung breiterer Ansprüche als der von der Einspruchsabteilung gewährten gestattet werden, und insbesondere solle ihr die Möglichkeit gegeben werden, zu den erteilten Ansprüchen zurückzukehren, damit sie wieder den frühesten Prioritätstag genieße, den sie durch die von der Einspruchsabteilung gewährte Aufnahme des Merkmals f in die Ansprüche eingebüßt habe, selbst wenn die dann breiteren Ansprüche gegen den in G 9/92 aufgestellten Grundsatz des Verschlechterungsverbots (reformatio in peius) verstießen.
Falls die Kammer keine breiteren Ansprüche als die von der Einspruchsabteilung gewährten zulasse, solle die Große Beschwerdekammer mit zwei Fragen zum Verschlechterungsverbot befasst werden (T 724/03, Nr. V).
VI. In ihrer Entscheidung T 724/03 vom 19. Oktober 2006 befand die Beschwerdekammer, dass der Disclaimer in dem von der Einspruchsabteilung gewährten Anspruch 1 nicht gegen Artikel 123 (2) und (3) EPÜ verstoße (Nrn. 2.4.4 und 2.5 der Entscheidungsgründe). Sie entschied ferner, dass D19 in Kombination mit D23 insofern hoch relevant sei, als seine Einführung in das Verfahren höchstwahrscheinlich der Aufrechterhaltung des Patents in der von der Einspruchsabteilung gewährten Fassung entgegenstehe (Nr. 3.8.6 der Entscheidungsgründe).
Die Kammer entschied daher Folgendes:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. D19 und D23 werden zum Verfahren zugelassen.
3. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.
In der Entscheidung wird nicht auf das Verschlechterungsverbot eingegangen und insbesondere nicht darauf, ob nach der Zulassung von D19 zum Verfahren die Einreichung breiterer Ansprüche als der von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten gestattet werden sollte.
VII. Im fortgesetzten Einspruchsverfahren nahm die Patentinhaberin ihren Antrag auf Aufrechterhaltung des Patents in der im ersten Einspruchsverfahren gewährten Fassung zurück und reichte mit Schreiben vom 3. Januar 2008 mehrere Anspruchssätze als Grundlage für einen neuen Hauptantrag und neue Hilfsanträge ein, in denen sie jeweils das Merkmal f gestrichen hatte, um wieder den frühesten Prioritätstag vom 12. August 1992 zu erlangen. Sie machte geltend, dass D19 für die so geänderten Ansprüche kein Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ sei.
Die Einsprechende brachte in ihrer Erwiderung vor, dass die Ansprüche der neuen Anträge nicht gewährbar seien, da ihr Schutzumfang breiter sei als der Schutzumfang der Ansprüche, die mit der Entscheidung der Einspruchsabteilung gewährt worden seien, und sie somit gegen den in G 9/92 aufgestellten Grundsatz des Verschlechterungsverbots verstießen.
Sie reichte weitere Dokumente und Versuchsberichte zur Stützung ihres Angriffs gegen die Neuheit und erfinderische Tätigkeit der neuen Anträge ein, so unter anderem den Versuchsbericht D26, eine Nacharbeitung des Beispiels 2 aus D1.
VIII. Mit ihrer am 22. April 2009 mündlich verkündeten und am 26. Juni 2009 schriftlich ergangenen Entscheidung hielt die Einspruchsabteilung das Patent auf der Grundlage des am 9. Januar 2009 eingereichten ersten Hilfsantrags aufrecht. Abgesehen davon, dass in Merkmal b die Untergrenze des Bereichs der Festigkeit S10 von 29 auf 48 MPa angehoben worden war, war Anspruch 1 dieses Antrags mit Anspruch 1 der erteilten Fassung identisch. Anspruch 1 lautete wie folgt:
"1. Biaxial orientierter Film, der organische Teilchen enthält, die
a) vernetzte Polymerteilchen mit einem Vernetzungsgrad von zumindest 60 % sind,
b) beim Verformen um 10 % eine Festigkeit (S10) aufweisen, die im Bereich von 48 bis 294 MPa (5 bis 30 kp/mm2) liegt,
c) eine thermische Zersetzungstemperatur für 10%igen Gewichtsverlust von zumindest 350° C aufweisen,
d) einen gewichtsmittleren Durchmesser im Bereich von 0,005 bis 5 ?m aufweisen; und
e) in einem Gehalt von 0,001 bis 20 Gew.-% bezogen auf das Gesamtgewicht des Films vorhanden sind,
wobei der biaxial orientierte Film ein anderer als der Film aus Vergleichsbeispiel 4 der EP?A?0546184 ist."
IX. Die Einspruchsabteilung begründete ihre Entscheidung damit, dass der Grundsatz des Verschlechterungsverbots durch den im fortgesetzten Einspruchsverfahren gestellten Antrag der Patentinhaberin nicht verletzt werde, weil i) dieser Grundsatz nur für Anträge gelte, über die im Beschwerdeverfahren entschieden werde, und ii) sich die Stellung der Beschwerdeführerin durch die Zulassung der hoch relevanten Dokumente D19 und D23 zum Verfahren de facto verbessert habe. Die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung mit der Maßgabe, die verspätet eingereichten Dokumente D19 und D23 zu berücksichtigen, habe aufgrund der hohen Relevanz von D19 in Kombination mit D23 für die Neuheit des beanspruchten Gegenstands zu einer neuen Sachlage geführt. Nach Regel 80 EPÜ sei die Patentinhaberin berechtigt, auf eine neue Sachlage durch die Vornahme sachdienlicher und erforderlicher Änderungen zu reagieren, die durch Einspruchsgründe veranlasst seien. Die Tatsache, dass der beanspruchte Schutzumfang nun breiter sei als der Schutzumfang der mit der ersten Zwischenentscheidung gewährten Ansprüche, sei daher ohne Belang für den vorliegenden Fall, auch wenn dieser nicht unter die in G 1/99 definierten Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot falle.
Der Gegenstand des Hilfsantrags 1 wurde insbesondere gegenüber D1 für neu und erfinderisch befunden, und mehrere von der Einsprechenden im fortgesetzten Einspruchsverfahren eingereichte Dokumente, darunter D26, wurden nicht zum Verfahren zugelassen. Der Disclaimer in Anspruch 1 erfüllte nach Auffassung der Einspruchsabteilung die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.
X. Gegen diese Entscheidung der Einspruchsabteilung legte die Einsprechende am 4. September 2009 Beschwerde ein und entrichtete am selben Tag die Beschwerdegebühr. Die Beschwerdebegründung ging am 6. November 2009 ein.
Die Einsprechende brachte vor, dass die von der Einspruchsabteilung im fortgesetzten Einspruchsverfahren gewährten Ansprüche gegen den in G 9/92 aufgestellten Grundsatz des Verschlechterungsverbots verstießen, weil ihr Schutzumfang breiter sei als der Schutzumfang der im ersten Einspruchsverfahren gewährten Ansprüche. Außerdem sei der Disclaimer in Anspruch 1 nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässig, weil er den in G 1/03 aufgestellten Grundsätzen nicht entspreche.
Zudem sei der Gegenstand des Anspruchs 1 weder neu noch erfinderisch. Bezüglich der mangelnden Neuheit erhob die Einsprechende mehrere Einwände; einer davon basierte auf D1, und zwar entweder allein oder in Kombination mit anderen Dokumenten, z. B. dem bereits im fortgesetzten Einspruchsverfahren vorgelegten Versuchsbericht D26 (einer Nacharbeitung des Beispiels 2 aus D1). Sie beantragte erneut die - von der Einspruchsabteilung abgelehnte - Zulassung von D26 zum Verfahren. Außerdem verneinte sie die erfinderische Tätigkeit ausgehend von D1 als nächstliegendem Stand der Technik und reichte zur Stützung ihres Angriffs auf die erfinderische Tätigkeit den Versuchsbericht D32 ein.
XI. Die Patentinhaberin beantragte in ihrem Erwiderungsschreiben vom 14. Juni 2010 als Hauptantrag, das Patent auf der Grundlage der von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung vom 26. Juni 2009 gewährten Ansprüche (s. oben Nr. VIII) aufrechtzuerhalten, und hilfsweise, es auf der Grundlage eines Hilfsantrags aufrechtzuerhalten, dessen Anspruch 1 auf einen zweilagigen laminierten Film gerichtet war. Beide Anträge wurden mit diesem Schreiben in einer neuen Abschrift eingereicht.
In Bezug auf das Verschlechterungsverbot hielt die Patentinhaberin an ihrem Standpunkt fest, dass Anspruch 1 des Hauptantrags nicht gegen diesen Grundsatz verstoße.
Bezüglich der auf D1 in Kombination mit D26 bzw. D32 basierenden Angriffe auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit beantragte die Patentinhaberin, D26 und D32 nicht zum Verfahren zuzulassen.
XII. Am 25. April 2012 erließ die Kammer eine Mitteilung, in der sie ihre vorläufige Auffassung zur Frage des Verschlechterungsverbots mitteilte. Die Patentinhaberin reichte mit Schreiben vom 16. Mai 2012 eine Erwiderung auf diese Mitteilung ein.
XIII. Am 6. Juni 2012 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt, in der das Verschlechterungsverbot, die Schutzbereichserweiterung in Anbetracht des Disclaimers sowie die Fragen von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit mit den Parteien erörtert wurden.
Die Vorbringen der Parteien einschließlich ihrer schriftlichen Vorträge ist, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, nachstehend zusammengefasst.
XIV. Vorbringen der Einsprechenden
a) Verschlechterungsverbot
Das Verschlechterungsverbot sei ein Rechtsgrundsatz im Sinne des Artikels 125 EPÜ, wie in der Entscheidung G 9/92 festgestellt, in der die Große Beschwerdekammer entschieden habe, dass ein Beschwerdeführer nicht schlechter gestellt sein dürfe als ohne Beschwerde und daher Änderungen, die der Patentinhaber vorschlage, als unzulässig abgelehnt werden können, wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich seien.
Tatsache sei, dass die in der angefochtenen (zweiten Zwischen-)Entscheidung für gewährbar erachteten Ansprüche breiter seien, als es die Ansprüche gewesen wären, wenn die Einsprechende nicht gegen die erste Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde eingelegt hätte. Angesichts dieser Sachlage gebe es keinen erkennbaren Grund, vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots abzuweichen.
Die Einspruchsabteilung habe vollkommen falsch verstanden, was in den einschlägigen Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer mit "Stellung des Einsprechenden" gemeint sei. Natürlich bestehe - bei einer sehr engen Betrachtungsweise - tatsächlich die Möglichkeit, dass sich die Stellung der Einsprechenden durch die Zulassung von D19 verbessere, weil sich damit zusätzlicher Stand der Technik im Verfahren befinde, auf dessen Grundlage Neuheit und erfinderische Tätigkeit angefochten werden könnten. Angesichts des breiteren Schutzumfangs der Ansprüche und der kommerziellen Auswirkungen dieser breiteren Ansprüche habe sich die Stellung der Einsprechenden aber erheblich verschlechtert. Auf solche umfassenderen Erwägungen beziehe sich der Begriff der "Schlechterstellung" in G 9/92 und nicht auf die Zahl der Dokumente des Stands der Technik, auf die sich die Einsprechende berufen könne.
Die Entscheidung G 1/99 nenne drei genau definierte Ausnahmen vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots, die die Konsequenzen einer für den Patentinhaber nachteiligen Fehleinschätzung mildern sollten, wenn das Patent als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung für gewährbar erachtet hatte, widerrufen werden müsse. Allerdings sei die Entscheidung G 1/99 eindeutig nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar, in dem die ursprüngliche Änderung (die Aufnahme der Merkmale des erteilten Anspruchs 4 [= Merkmal f]) nicht unzulässig gewesen sei. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) strebe lediglich eine neue, zusätzliche Ausnahme zu ihren Gunsten an.
Der vorliegende Fall unterscheide sich von dem, der der Entscheidung G 1/99 zugrunde liege. Selbst wenn die Entscheidung der Einspruchsabteilung, D19 nicht zum Verfahren zuzulassen, eine Fehleinschätzung gewesen sei, habe die Patentinhaberin doch auch ihren Anteil daran. Denn obwohl die Patentinhaberin die Relevanz von D19 besser als jeder andere habe beurteilen können, weil es sich um ihr eigenes Dokument handle, habe sie an den breit gefassten Ansprüchen einschließlich des Merkmals f festgehalten, bis die Einsprechende das Dokument D23 eingereicht habe, das D19 lediglich bestätige. Dieses Dokument habe keine für die Pateninhaberin neuen Informationen enthalten, und D19 sei unabhängig von D23 entweder relevant oder nicht relevant. Daher sei die Behauptung falsch, D19 sei erst im Beschwerdeverfahren relevant geworden. Die Patentinhaberin hätte die Relevanz dieses Dokuments schon im erstinstanzlichen Verfahren beurteilen können, habe aber davon abgesehen. Stattdessen habe sie die Strategie gewählt, den Antrag auf Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung fallen zu lassen bzw. zurückzunehmen und an den Ansprüchen mit dem prioritätsschädlichen Merkmal f festzuhalten. Nun sei die Patentinhaberin an ihre damalige Entscheidung gebunden. Es sei hinnehmbar, dass die Patentinhaberin nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz vor Verfahrensasymmetrien geschützt werden müsse, aus denen ihr gravierende Nachteile erwüchsen, nicht aber, dass sie vor sich selbst geschützt werden müsse. Dass die Beschwerdekammer D19 später zum Verfahren zugelassen habe, rechtfertige also keine nachträgliche Erweiterung der Ansprüche zum Nachteil der Einsprechenden.
Außerdem sei der Standpunkt der Patentinhaberin auch nicht mit der strengen Rangfolge vereinbar, die gemäß G 1/99 bei der Gewährung einer der dort aufgeführten Ausnahmen einzuhalten sei. Selbst wenn daher die Ausnahme nach G 1/99 im vorliegenden Fall anwendbar wäre, könne die Patentinhaberin nicht einfach jede beliebige Änderung vornehmen. Als Erstes hätte sie versuchen müssen, D19 durch weitere Änderungen zu entkräften, und hätte die zur Entkräftung der anderen Dokumente bereits vorgenommenen Änderungen beibehalten müssen. Auch dürfe nicht vergessen werden, dass die Patentinhaberin in vollem Wissen um D19, das ja ihr eigenes Dokument sei und bereits vor der ersten Einspruchsverhandlung angeführt worden sei, an ihrem Antrag vor der Einspruchsabteilung festgehalten habe. Die Tatsache, dass die Patentinhaberin jetzt eine andere Strategie zur Aufrechterhaltung des Streitpatents verfolgen wolle, sei kein Grund, von dem Grundsatz abzuweichen, wonach die Einsprechende als alleinige Beschwerdeführerin nicht schlechter gestellt werden dürfe als ohne Beschwerde. Die Patentinhaberin müsse die Konsequenzen ihrer eigenen Entscheidungen und Fehler tragen.
b)
c)
d)
XV. Vorbringen der Patentinhaberin
a) Verschlechterungsverbot
Die Entscheidung G 9/92 (s. insbesondere die Entscheidungsformel, den Leitsatz und den Ausdruck "primär" in Nr. 16 der Entscheidungsgründe) enthalte die klare Aussage, dass es Ausnahmen vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots geben könne. Aufgrund dieses flexiblen Ansatzes sei es nämlich möglich gewesen, dass die Kammer in der späteren Entscheidung G 1/99 eine solche Ausnahme beschrieben habe (s. den Leitsatz: "Grundsätzlich muss ein geänderter Anspruch ... zurückgewiesen werden."). Nummer 16 Satz 2 der Entscheidungsgründe von G 9/92 ermächtige die Beschwerdekammern eindeutig, selbst zu entscheiden, ob eine Änderung in Anbetracht ihrer Sachdienlichkeit im speziellen faktischen, verfahrenstechnischen und rechtlichen Kontext zugelassen werden sollte oder nicht. Die Große Beschwerdekammer habe nicht nur die Ausnahme für den Fall eines hinzugefügten Gegenstands vorgesehen, sondern auch allgemeine Leitlinien für die Anwendung des Grundsatzes des Verschlechterungsverbots vorgegeben, der auch eine Frage des allgemeinen Grundsatzes der Billigkeit sei (s. unten).
Die Entscheidungsbegründung von G 9/92 impliziere auch, dass die nicht beschwerdeführende Partei die Entscheidung der ersten Instanz akzeptiert habe und daher nicht - durch Untätigkeit - von der Beschwerde der Gegenpartei (im vorliegenden Fall also von der Beschwerde der Einsprechenden) profitieren sollte. Das setze jedoch voraus, dass die Sachlage zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung dieselbe war wie zum Zeitpunkt der Beschwerde. Dies treffe im vorliegenden Fall nicht zu.
Tatsächlich habe die extrem verspätete Vorlage von D19 [bis D22A] durch die Einsprechende im ersten Einspruchsverfahren die Patentinhaberin gezwungen, zwei Anträge mit alternativen Anspruchssätzen vorzulegen - den ersten mit dem Merkmal f für den Fall, dass das Dokument D19 nicht zum Verfahren zugelassen werde, und den zweiten für den Fall, dass es zugelassen werde. Die zwei unterschiedlichen Ansätze zur Verteidigung des Patents seien erforderlich geworden, weil die Zulassung von D19 zum Verfahren die Grundlage und den Inhalt des Einspruchs vollständig geändert hätte (und schließlich auch vollständig geändert hat). Die beiden alternativen Anspruchssätze seien während des gesamten Verfahrens (auch vor der Beschwerdekammer) aufrechterhalten worden.
In ihrer (ersten) Beschwerde habe die Einsprechende in der Sache vorgebracht, dass D19 zum Verfahren zugelassen werden sollte und von der Einspruchsabteilung zu Unrecht nicht zugelassen worden sei. Die Aufhebung dieser Entscheidung durch die Beschwerdekammer habe auf dem Inhalt von D23 beruht, das im Beschwerdeverfahren eingereicht worden sei und somit der Einspruchsabteilung bzw. der Patentinhaberin im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorgelegen habe. Konkret bedeute dies, dass D19 erst im Beschwerdeverfahren eingereicht worden sei. Somit habe die Patentinhaberin erstmals im fortgesetzten Einspruchsverfahren nach der Zurückverweisung die Möglichkeit gehabt, das Patent gegen einen Angriff auf der Grundlage von D19 zu verteidigen.
Als die angefochtene Entscheidung getroffen worden sei, habe sich D19 nicht im Verfahren befunden, und ausgehend von dieser Sachlage habe die Patentinhaberin entschieden, keine Beschwerde einzulegen. Es hätte nicht von ihr erwartet werden können, die Einreichung von D23 und die dadurch bedingte inhaltliche Änderung des Einspruchs vorherzusehen. Wie in der Vorlageentscheidung zu G 1/99 habe sie im erstinstanzlichen Verfahren in gutem Glauben ihr Patent verteidigt und in Anbetracht der Sach- und Rechtslage bei Ergehen der Entscheidung der Einspruchsabteilung keine Beschwerde eingelegt. Ihrerseits liege kein Verfahrensmissbrauch vor.
Die aktuelle Situation sei mit der in G 1/99 insofern vergleichbar, als das Merkmal f aufgrund der Interaktion von D19 und D23 in Verbindung mit der komplexen Prioritätssituation nicht mehr im Anspruch haltbar sei, da eine weitere Beschränkung ausgehend von Merkmal f nicht möglich sei. Es wäre unbillig, der Patentinhaberin nicht fairerweise Gelegenheit zu geben, die Folgen der Zulassung von D19/D23 zum Verfahren durch eine geeignete Handlung - im Sinne der dritten (letzten) in G 1/99 definierten Ausnahme - zu mildern, was auch durch die unter Nummer 12 der Entscheidungsgründe von G 1/99 angeführten Erwägungen gestützt werde.
Ferner habe die Große Beschwerdekammer unter den Nummern 13.1 und 13.2 der Entscheidungsgründe von G 1/99 betont, dass sich die Konsequenzen der Anwendung des Verschlechterungsverbots grundlegend unterschieden, wenn es sich bei dem alleinigen Beschwerdeführer um einen Einsprechenden oder aber um den Patentinhaber handle, denn für Letzteren gebe es nach dem Widerruf des Patents keinen Rechtsbehelf mehr auf nationaler Ebene. Bei der Entscheidung, ob es im vorliegenden Fall billig sei, das Verschlechterungsverbot streng auszulegen, sollte dies berücksichtigt werden.
b)
c)
d)
XVI. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
XVII. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag) oder hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der Ansprüche gemäß dem mit Schreiben vom 14. Juni 2010 eingereichten Hilfsantrag.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zulässigkeit der Änderungen in Anbetracht der Entscheidungen G 9/92, G 4/93 und G 1/99 - Grundsatz des Verschlechterungsverbots und Ausnahmen von diesem Grundsatz
2.1 Es ist offensichtlich und unstrittig, dass die Streichung des Merkmals f aus den Ansprüchen des mit der zweiten Entscheidung der Einspruchsabteilung für gewährbar befundenen (und hier zu prüfenden) Hauptantrags zu einer Erweiterung des von der Patentinhaberin angestrebten Schutzes gegenüber ihrem ursprünglichen Hauptantrag geführt hat, den die Einspruchsabteilung mit ihrer ersten Entscheidung für gewährbar befunden hatte, gegen die nur die Einsprechende Beschwerde einlegte (T 724/03).
2.2 Die Einspruchsabteilung (s. oben Nr. IX) und die Parteien (s. oben Nrn. XIV a) und XV a)) haben sich ausführlich und widersprüchlich zu der Frage geäußert, ob die auf die breiteren Ansprüche gerichteten Anträge der Patentinhaberin angesichts des Verschlechterungsverbots zulässig sind, wie es in den (gleichlautenden) Entscheidungen G 9/92 und G 4/93 formuliert wurde: "Ist der Einsprechende der alleinige Beschwerdeführer gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang, so ist der Patentinhaber primär darauf beschränkt, das Patent in der Fassung zu verteidigen, die die Einspruchsabteilung ihrer Zwischenentscheidung zugrunde gelegt hat" (Leitsatz 2; nachstehend wird der Einfachheit halber nur noch auf G 4/93 verwiesen). Diese Meinungsverschiedenheit ist eindeutig darauf zurückzuführen, dass sich die Sachlage im vorliegenden Fall in mehreren Aspekten von der Sachlage in G 4/93 und - bezüglich der Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot - in G 1/99 unterscheidet.
2.3 Im vorliegenden Fall beschränkte sich die Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung T 724/03 auf die Zulassung der Dokumente D19 und D23 zum Verfahren und verwies die Sache zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurück (Nr. 2 der Entscheidungsformel). Da die Kammer die angefochtene Entscheidung nicht selbst vor dem Hintergrund dieser neu zugelassenen Dokumente überprüfte, befasste sie sich in diesem ersten Beschwerdeverfahren auch nicht mit dem Verschlechterungsverbot.
2.3.1 Wie in G 1/99 (Nr. 9.2 der Entscheidungsgründe) betont, war das Verschlechterungsverbot in G 4/93 nicht als in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannter Grundsatz des Verfahrensrechts (Art. 125 EPÜ), sondern als Konsequenz des Antragsgrundsatzes (ne ultra petita) etabliert worden; ganz konkret heißt es dort: "ist es der Beschwerdeführer, der in der Beschwerdeschrift bestimmt, in welchem Umfang er die Änderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung begehrt" (G 1/99, Nr. 6.4 der Entscheidungsgründe). Die Tatsache, dass die Patentinhaberin gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung keine Beschwerde einlegen konnte (mangels Beschwer) oder keine Beschwerde eingelegt hat, kann nachträglich nicht geändert werden (ebenso wenig wie der Schutzbereich des Patents in der erteilten Fassung). Die daraus resultierende verfahrensrechtliche Beschränkung der Möglichkeit der Patentinhaberin, den angestrebten Schutzumfang durch Vornahme von Änderungen abzuwandeln, bleibt (ebenso wie die Beschränkung nach Art. 123 (3) EPÜ) bis zur endgültigen Erledigung des Einspruchs bestehen und damit in jedem Verfahren im Anschluss an eine Zurückverweisung gemäß Artikel 111 EPÜ, so auch in einem weiteren Beschwerdeverfahren. Anderenfalls würde das Verschlechterungsverbot seinen Zweck verfehlen, nämlich zu verhindern, dass "der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechter gestellt würde als ohne die Beschwerde" (G 1/99, Leitsatz) oder - verfahrensrechtlich - dass der Einsprechende letztlich durch seine eigene Beschwerde beschwert würde (G 4/93, Nr. 9 der Entscheidungsgründe: "Die Beschwerde zielt auf die Beseitigung der "Beschwer" [ ] ab (Art. 107 Satz 1 EPÜ).").
Aus diesem Grund ging die Einspruchsabteilung zu Unrecht davon aus, dass das Verschlechterungsverbot nur für Anträge gilt, über deren Gewährbarkeit die Beschwerdekammer entschieden hat (s. oben Nr. IX).
2.3.2 Auch impliziert die Begründung der Entscheidung G 4/93 nicht, wie von der Einsprechenden geltend gemacht (s. oben Nr. XIV a)), dass das Verschlechterungsverbot nur greift, wenn die Sachlage zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung dieselbe ist wie zum Zeitpunkt der Beschwerde durch den Einsprechenden. Die Rechtsgrundlage des Verschlechterungsverbots (der Antragsgrundsatz - s. oben) steht in keinerlei Zusammenhang mit dem Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde liegt, gegen die der Patentinhaber keine Beschwerde eingelegt hat, oder mit den Gründen, aus denen er davon absah (s. T 138/04 bezüglich der Streichung eines auf Vorschlag der Einspruchsabteilung eingeführten Begriffs). Ansonsten würde das Verschlechterungsverbot auch hier seinen oben erläuterten Zweck verfehlen (was jedoch nicht ausschließt, dass eine Änderung des relevanten Sachverhalts eine Ausnahme vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots rechtfertigen kann - s. unten).
2.3.3 Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Grundsatz des Verschlechterungsverbots im fortgesetzten Einspruchsverfahren zu berücksichtigen war und - worüber sich beide Parteien inzwischen offenbar einig sind - auch in diesem (zweiten) Beschwerdeverfahren zur Anwendung kommt, wobei die den Rahmen für das Verschlechterungsverbot bildenden Ansprüche die des Hauptantrags sind, den die Einspruchsabteilung in ihrer am 11. März 2003 ergangenen (ersten) Zwischenentscheidung für gewährbar erachtet hatte.
2.4 Eine weitere Frage, die sich im vorliegenden Fall stellt, betrifft die Voraussetzungen, unter denen gemäß der Entscheidung G 1/99 Ausnahmen vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots gerechtfertigt sind.
2.4.1 Angesichts der konkreten Sachlage in G 1/99 musste die Beschwerdekammer die angefochtene Entscheidung aufheben und das Patent "als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung für gewährbar erachtet hatte," widerrufen; bei der Änderung handelte es sich dabei um die Hinzufügung eines bestimmten einschränkenden Merkmals im Einspruchsverfahren, das allerdings gegen das EPÜ (unter anderem gegen dessen Artikel 123 (2)) verstieß (s. Leitsatz sowie Nrn. 13 und 14 der Entscheidungsgründe). Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer "wäre es [ ] unbillig, dem Patentinhaber nicht fairerweise Gelegenheit zu geben, die Folgen einer Fehleinschätzung der Einspruchsabteilung zu mildern. Dem Patentinhaber kann daher gestattet werden, Anträge zur Beseitigung dieses Mangels einzureichen" (Nr. 14 der Entscheidungsgründe), erforderlichenfalls sogar durch Streichung der unzulässigen Änderung bzw. des betreffenden Merkmals (Nr. 15 der Entscheidungsgründe, letzte Alternative).
2.4.2 Im Gegensatz dazu hat die Beschwerdekammer in T 724/03 keine Fehleinschätzung der Einspruchsabteilung festgestellt, sondern die angefochtene Entscheidung aufgehoben, weil sich die Sachlage im Einspruchsverfahren mit der Zulassung von D19 geändert hatte, das die Kammer in Anbetracht von D23, eines von der Einsprechenden erstmals im (ersten) Beschwerdeverfahren eingereichten bestätigenden Dokuments, als hoch relevanten Stand der Technik ansah.
2.4.3 Bezüglich der Möglichkeit einer Ausnahme vom Verschlechterungsverbot hat die Große Beschwerdekammer in G 1/99 befunden, dass die undifferenzierte Anwendung des Verschlechterungsverbots "unter bestimmten Umständen unbillige Folgen haben könnte. [ ] Im Beschwerdeverfahren können nämlich Einwände, die in der ersten Instanz erhoben wurden, durch neue Fakten untermauert sowie neue Einwände vorgebracht werden, sodass sich die Grundlage, auf der Beschränkungen vorgenommen wurden, durchaus noch ändern kann, und es unbillig wäre, dem Einsprechenden/Beschwerdeführer oder der Kammer neue Angriffe zu erlauben, während man dem Patentinhaber/Beschwerdegegner eine Verteidigungsmöglichkeit vorenthält" (Nrn. 11 und 12 der Entscheidungsgründe).
2.4.4 Damit stellte die Große Beschwerdekammer klar, dass Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot aus Billigkeitsgründen zuzulassen sind, um den nicht beschwerdeführenden Patentinhaber vor einer Benachteiligung im Verfahren zu schützen, wenn ihn dieses Verbot an der rechtmäßigen Verteidigung seines Patents hindern würde. Das bedeutet, dass Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot nicht auf die spezielle, in G 1/99 behandelte Situation beschränkt sind, also auf eine Fehleinschätzung der Einspruchsabteilung bezüglich einer Änderung, die in die mit der angefochtenen Entscheidung aufrechterhaltene Fassung des Patents eingeführt wurde. Vielmehr gilt der an Billigkeitserwägungen orientierte Ansatz der Großen Beschwerdekammer nicht nur bei einer Fehleinschätzung der Einspruchsabteilung, sondern bei jeder Änderung der Sach- und/oder Rechtslage, aufgrund deren der Patentinhaber vor der Beschwerde des Einsprechenden als alleinigem Beschwerdeführer Beschränkungen vorgenommen hat, sofern der Patentinhaber durch das Verschlechterungsverbot daran gehindert würde, sein Patent angemessen gegen im Beschwerdestadium neu in das Verfahren eingeführte Tatsachen und Einwände zu verteidigen.
2.4.5 Angesichts der Sachlage im Einspruchsverfahren vor Erlass der ersten Zwischenentscheidung durch die Einspruchsabteilung am 11. März 2003 war es eine völlig angemessene und legitime Verteidigungsstrategie der Patentinhaberin, einen Hauptantrag mit Ansprüchen einzureichen, die das prioritätsschädliche Merkmal f enthielten, um den Angriff auf der Grundlage des bereits im Verfahren befindlichen Dokuments D15 mit Erfolg, wie die Einspruchsabteilung befand, abzuwehren und D19 zu ignorieren. Solange dieses verspätet eingereichte Dokument nicht zum Verfahren zugelassen war, konnte es keine Auswirkungen auf die Entscheidung über den Einspruch gegen das Streitpatent haben, selbst wenn es für Ansprüche, die nicht die (früheste) Priorität beanspruchen konnten, einen Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ darstellte. Ebenso war die Patentinhaberin berechtigt für den Fall, dass D19 zum Verfahren zugelassen würde, einen Hilfsantrag einzureichen, aus dessen Ansprüchen das Merkmal f gestrichen war, sodass D19 - ein hoch relevantes Dokument, wie sich später in Anbetracht des von der Einsprechenden im (ersten) Beschwerdeverfahren eingereichten bestätigenden Dokuments D23 zeigte - dieser Fassung des Streitpatents nicht hätte entgegenhalten werden können. Die Einreichung eines Hilfsantrags, dessen Ansprüche zwangsläufig einen breiteren Schutzumfang hatten als die des Hauptantrags, ist unter den gegebenen Umständen kein Verfahrensmissbrauch durch die Patentinhaberin und insbesondere keine Umgehung des Verschlechterungsverbots. Dabei ist es unerheblich, dass D19 - wie von der Patentinhaberin geltend gemacht, s. oben Nr. XV a) - erst kurz vor der (ersten) mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht wurde und ob die Patentinhaberin - wie von der Einsprechenden geltend gemacht, s. oben Nr. XIV a) - die Relevanz von D19 besser einschätzen konnte, weil es ihr eigenes Dokument war.
2.4.6 Wenn die hilfsweise Einreichung breiterer Ansprüche eine legitime Verteidigungsmöglichkeit im Verfahren vor der Einspruchsabteilung als erster Instanz war, wäre es unbillig, der Patentinhaberin diese Verteidigungsmöglichkeit unter Berufung auf das Verschlechterungsverbot vorzuenthalten, falls im späteren Beschwerdeverfahren die Voraussetzungen für die Einreichung des breiteren bzw. alternativen Hilfsantrags schließlich doch erfüllt sind - im vorliegenden Fall infolge der Zulassung des hoch relevanten Dokuments D19 zum Verfahren. Anderenfalls würde die Patentinhaberin benachteiligt, und die Einsprechende würde in der - zugegebenermaßen seltenen, aber, wie der vorliegende Fall zeigt, nicht unmöglichen - Situation, in der eine Beschränkung der Ansprüche nicht die angemessene Reaktion auf neue Tatsachen und Einwände ist (im vorliegenden Fall "aufgrund der Interaktion von D19 und D23 im Zusammenhang mit der komplexen Prioritätssituation", wie die Patentinhaberin es ausgedrückt hat, s. oben, Nr. XV a)), vom Verschlechterungsverbot über dessen eigentlichen Zweck hinaus profitieren. Dabei ist ferner zu beachten, dass der in G 4/93 entwickelte und in G 1/99 herangezogene Antragsgrundsatz ausschließlich eine Frage des vom Patentinhaber angestrebten oder (implizit) nicht mehr angestrebten Schutzumfangs ist. Dies kann sinnvollerweise nicht das einzig relevante Kriterium für die Annahme sein, dass die nicht beschwerdeführende Patentinhaberin implizit auch dann auf den Prioritätsanspruch verzichten wollte, wenn, für den Fall, dass später ein bestimmtes Dokument der Zwischenliteratur zum Verfahren zugelassen würde, die Einreichung breiterer Ansprüche zur Wahrung des (frühesten) Prioritätsanspruchs sowohl beabsichtigt als auch angemessen war.
2.4.7 Gewiss hat sich im vorliegenden Fall die Situation der Einsprechenden durch die Streichung des fatalen Merkmals f verschlechtert, und die Patentinhaberin hat sich bewusst dafür entschieden, im Hauptantrag an den Ansprüchen mit dem prioritätsschädlichen Merkmal f festzuhalten. Mit einem Vorbringen wie dem der Einsprechenden (s. oben Nr. XIV), wonach die Patentinhaberin an ihre eigene frühere Entscheidung gebunden sei, weil sie nicht vor sich selbst geschützt werden könne, würde man aber der eigentlichen Frage ausweichen. Die entscheidende Frage ist, ob die Patentinhaberin in Anbetracht einer späteren Änderung der Sachlage, auf der die Entscheidung der Einspruchsabteilung beruhte (im vorliegenden Fall dadurch, dass die Einsprechende zur Stützung ihrer Beschwerde gegen die erste Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung das bestätigende Dokument D23 eingereicht hat), aus Gründen der Billigkeit Schutz verdient oder nicht.
2.4.8 Andererseits reicht es für eine Ausnahme vom Verschlechterungsverbot nicht aus, dass die Patentinhaberin - wie von ihr vorgebracht (s. oben Nr. XV) - im erstinstanzlichen Verfahren ihr Patent in gutem Glauben verteidigt und in Anbetracht der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung der Einspruchsabteilung keine Beschwerde eingelegt hat und von ihr nicht erwartet werden konnte, die Einreichung von D23 und die dadurch bedingte Änderung des Einspruchs in der Sache vorherzusehen. All dies unterscheidet sich nicht von der Standardsituation, in der der einzige Antrag oder Hauptantrag für gewährbar befunden wird und das Patent später im Beschwerdeverfahren mit den standardmäßigen Verteidigungsmöglichkeiten verteidigt werden kann, d. h. durch Beschränkung des angestrebten Schutzumfangs als Reaktion auf neue Tatsachen oder Einwände.
2.4.9 Der vorliegende Fall ist jedoch kein solcher Standardfall; die relevanten Umstände sind vielmehr so gelagert, dass die Streichung des entscheidenden prioritätsschädlichen Merkmals f ausnahmsweise zu rechtfertigen war, wobei auch das Gebot eingehalten wurde, dass eine solche Ausnahmeregelung nur eng ausgelegt werden darf (G 1/99, Nr. 15 der Entscheidungsgründe). Weder in diesem Abschnitt noch an anderer Stelle in G 1/99 findet sich ein Anhaltspunkt dafür, dass die dort aufgeführten drei Arten von Änderungen in dieser Reihenfolge (Nr. 15 der Entscheidungsgründe und zweiter Absatz des Leitsatzes) als die einzig billigen und somit zulässigen Änderungen anzusehen sind, auch wenn keine Fehleinschätzung der Einspruchsabteilung vorliegt. Ob überhaupt, in welchem Umfang und in welcher Form eine solche Ausnahme gewährt werden kann, muss im Einzelfall in diesem Sinne und mit dem Ziel entschieden werden, den angemessenen Schutz der Rechte und Interessen des alleinigen Beschwerdeführers/Einsprechenden mit der rechtmäßigen Verteidigung des Patents durch den (nicht beschwerdeführenden) Patentinhaber in Einklang zu bringen. Die Patentinhaberin hat somit zutreffend vorgebracht, dass die Entscheidung G 1/99 Leitlinien für die Ausübung des einschlägigen Ermessens liefert, die über den der Vorlageentscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hinausgehen (s. oben Nr. XV).
3. ...
4. ...
5. ...
6. ...
7. Zusammenfassend ist festzustellen, dass weder der Haupt- noch der Hilfsantrag gewährbar ist, weil der Gegenstand des jeweiligen Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.