T 0123/22 25-07-2024
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WUNDVERSORGUNGSANORDNUNG UND ABDECKEINRICHTUNG DAFÜR
Änderung veranlasst durch Einspruchsgrund - Änderungen zulässig (ja)
Zurückverweisung - (ja)
Für die Beurteilung, ob eine Änderung von Ansprüchen im Sinne der Regel 80 EPÜ durch einen Einspruchsgrund veranlasst wurde, ist es unerheblich, ob die in einen angegriffenen Anspruch zusätzlich aufgenommenen Merkmale aus abhängigen Ansprüchen oder aus der Beschreibung stammen; siehe Nr. 3.6 - 3.7 der Gründe.
Zur Beurteilung, ob das Erfordernis der Regel 80 EPÜ bei Ersetzen eines von einem Einspruchsgrund betroffenen unabhängigen Anspruchs durch mehrere unabhängige Ansprüche erfüllt ist, siehe Nr. 3.8 - 3.12 der Gründe.
I. Die Patentinhaberin legte Beschwerde ein gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Europäische Patent Nr. 2 822 613 zu widerrufen.
II. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 25. Juli 2024 statt.
III. Die Beschwerdeführerin beantragt, die Entscheidung aufzuheben und das Patent auf Grundlage des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrags oder hilfsweise auf Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 6, ebenfalls eingereicht mit der Beschwerdebegründung, aufrecht zu erhalten, oder die Angelegenheit nach Aufhebung der Entscheidung zur Prüfung der Gewährbarkeit der Anträge im Hinblick auf die weiteren Erfordernisse des EPÜ an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
Die Beschwerdeführerin beantragt weiterhin die Rückerstattung der Beschwerdegebühr wegen rechtsfehlerhafter Anwendung von Regel 80 EPÜ.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Im Falle der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung solle die Angelegenheit nicht an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen werden. Weiter sollten der Hauptantrag und die Hilfsanträge 2 bis 6 nicht ins Verfahren zugelassen werden.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Wundversorgungsanordnung mit einer an der eine Wunde umgebenden Haut festlegbaren und zum Herstellen eines die Wunde enthaltenden abgeschlossenen Wundraums dienenden Abdeckeinrichtung und einem Sauganschluss, über den ein Unterdruck im Wundraum erzeugt werden kann, wobei die Abdeckeinrichtung einen Folienschlauch auf-weist, in den eine menschliche Extremität einführbar ist, wobei die Abdeckeinrichtung zumindest abschnittsweise wasserdampfdurchlässig ist, dadurch gekennzeichnet, dass der Folienschlauch in an einem axialen Ende zur Bildung einer stumpfartigen Anordnung durch Verkleben oder Verschweißen luftdicht verschlossen ist."
Anspruch 2 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Wundversorgungsanordnung mit einer an der eine Wunde umgebenden Haut festlegbaren und zum Herstellen eines die Wunde enthaltenden abgeschlossenen Wundraums dienenden Abdeckeinrichtung und einem Sauganschluss, über den ein Unterdruck im Wundraum erzeugt werden kann, wobei die Abdeckeinrichtung einen Folienschlauch aufweist, in den eine menschliche Extremität einführbar ist, wobei die Abdeckeinrichtung zumindest abschnittsweise wasserdampfdurchlässig ist, dadurch gekennzeichnet, dass der Folienschlauch in Kegelstumpfmantelform, also konisch ausbreitbar, ist, wobei das Ende mit dem geringeren Querschnitt luftdicht geschlossen ist."
Anspruch 3 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Wundversorgungsanordnung mit einer an der eine Wunde umgebenden Haut festlegbaren und zum Herstellen eines die Wunde enthaltenden abgeschlossenen Wundraums dienenden Abdeckeinrichtung und einem Sauganschluss, über den ein Unterdruck im Wundraum erzeugt werden kann, wobei die Abdeckeinrichtung einen Folienschlauch aufweist, in den eine menschliche Extremität einführbar ist, wobei die Abdeckeinrichtung zumindest abschnittsweise wasserdampfdurchlässig ist und der Sauganschluss eine im Gebrauch dem Wundraum zugewandte Absaugöffnung und eine Verbindungseinrichtung zum Herstellen einer Verbindung zwischen der Absaugöffnung und einem Absaugschlauch aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass ein von der Absaugöffnung durchsetzter flanschartiger Anlagebereich des Sauganschlusses eine zur Belüftung der Wunde dienende Belüftungsöffnung aufweist."
V. Die Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen
Zulassung des Hauptantrags
Die Ansprüche 1-18 des Hauptantrags entsprächen den Ansprüchen 1-18 des mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2020 erstinstanzlich eingereichten Hauptantrags, wobei lediglich in Anspruch 16 die Streichung des Begriffs "vorzugsweise" rückgängig gemacht worden sei. Diese Änderung sei weder komplex, noch führe sie zu einem gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren zusätzlichen Gegenstand, mit dem sich die Einsprechende befassen müsste.
Die Beanstandung in der angefochtenen Entscheidung, dass diese Streichung nicht mit Regel 80 EPÜ konform sei, sei erst im Zusammenhang mit der mündlichen Verhandlung entstanden, obwohl der betreffende Antrag schon zuvor ein Jahr lang Gegenstand des schriftlichen Verfahrens gewesen war.
Die Rückgängigmachung der Streichung in Anspruch 16 adressiere nun diese Beanstandung und solle deshalb zugelassen werden (Artikel 12 (4) VOBK).
Hauptantrag - Regel 80 EPÜ
Im Einspruchsverfahren sei der Anspruch 1 des erteilten Patents auf der Grundlage des Einspruchsgrundes nach Artikel 100(a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 54 EPÜ angegriffen worden. Dieser Angriff sei die Ursache für das Ersetzen dieses einzigen unabhängigen Patentanspruchs durch drei jeweils gegenüber diesem unabhängigen Anspruch eingeschränkte unabhängige Ansprüche.
Die drei unabhängigen Patentansprüche des Hauptantrags genügten daher jeweils den Anforderungen der Regel 80 EPÜ.
Entgegen der Annahme der Beschwerdekammer in der Entscheidung T 181/02 und entgegen der Annahme der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung gehe es bei der Regel 80 EPÜ nicht darum, dem Patentinhaber nur gerade so viel Spielraum für Änderungen zuzugestehen, wie für die Vermeidung eines kompletten Widerrufs des Patents notwendig sei, völlig unabhängig davon, wieviel Schutzumfang das aufrechterhaltene Patent auch noch definieren möge. Vielmehr solle Regel 80 EPÜ lediglich verhindern, dass der Patentinhaber Änderungen vornehme, die nicht durch einen Einspruchsgrund bedingt seien.
Dabei biete Regel 80 EPÜ dem Patentinhaber den Spielraum, gerade nur so viel Schutzumfang aus dem Patent herauszunehmen, wie für die Ausräumung der Einspruchsgründe nötig sei. Dies sei in der Entscheidung T 99/04 bestätigt worden.
Die Entscheidung T 359/13 bestätige, dass Regel 80 EPÜ keinerlei Restriktionen für den Patentinhaber hinsichtlich der Form von Änderungen bedeute. Die Aufnahme von Merkmalen aus der Beschreibung (anstelle von Merkmalen aus abhängigen Ansprüchen) sei also legitim. Die in T 181/02 genannten Ausnahmefälle stellten auch keine abschließende Liste dar.
Die in der Entscheidung T 2063/15 verwendete Formulierung der "fehlenden Entsprechung in den erteilten Ansprüchen" stamme aus der Entscheidung T 295/87, in der es um neue abhängige Ansprüche ging, also um nicht durch Einspruchsgründe bedingte Änderungen. Daher seien diese Entscheidungen für den vorliegenden Sachverhalt nicht relevant. Auf jeden Fall könne aus dieser Formulierung nicht geschlossen werden, dass keine Merkmale aus der Beschreibung in einen unabhängigen Anspruch aufgenommen werden dürften.
Gemäß der Entscheidung T 750/11 sei eine Änderung nach Regel 80 EPÜ dann formal zulässig, wenn sie als ernsthafter Versuch zu werten sei, einem Einspruchsgrund zu begegnen. Dies sei für jeden der Ansprüche 1, 2 und 3 des Hauptantrags zutreffend.
Die in diesem vorliegenden Fall gewählte Anzahl von drei unabhängigen Ansprüchen im Hauptantrag könne auch keinesfalls als eine unangemessen große Anzahl von unabhängigen Ansprüchen oder sogar als verfahrensmissbräuchlich aufgefasst werden. In dem der Entscheidung T 2290/12 zugrundeliegenden Fall sei sogar das Ersetzen des einzigen unabhängigen Anspruchs durch fünf unabhängige Ansprüche als legitim erachtet worden.
Daher seidas Erfordernis der Regel 80 EPÜ erfüllt.
Antrag auf Rückverweisung an die Einspruchsabteilung
Da sich die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung außer mit Regel 80 EPÜ mit keinem der weiteren Erfordernisse des Übereinkommens auseinandergesetzt habe, solle die Sache an die erste Instanz zurückverwiesen werden (Art. 11 VOBK 2020), um eine Prüfung der Gewährbarkeit der Anträge im Hinblick auf die weiteren Erfordernisse des Übereinkommens über zwei Instanzen zu gewährleisten.
Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Die Argumentation der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung, dass keiner der Anträge dem Erfordernis der Regel 80 EPÜ genüge, sei rechtsfehlerhaft. Gemäß einer korrekten Prüfung von Regel 80 EPÜ seien die erstinstanzlich vorgebrachten Anträge als mit Regel 80 EPÜ konform zu betrachten.
Regel 80 EPÜ könne auch als verfahrensrechtliche Bestimmung angesehen werden. Daher werde die Rückerstattung der Beschwerdegebühr beantragt (Regel 103 (1) a) EPÜ).
VI. Die Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen
Zulassung des Hauptantrags
Da die Beschwerdeführerin nicht erklärt habe, warum der neue Hauptantrag erst im Beschwerdeverfahren eingereicht worden sei, seien die Erfordernisse des Artikels 12(4) VOBK nicht erfüllt. Daher solle der Hauptantrag nicht ins Verfahren zugelassen werden.
Hauptantrag - Regel 80 EPÜ
Das Ersetzen eines unabhängigen Anspruchs durch mehrere unabhängige Ansprüche könne nur dann das Erfordernis der Regel 80 EPÜ erfüllen, wenn die zusätzlichen unabhängigen Ansprüche auf vormals abhängige Ansprüche zurückgingen (wie in dem der Entscheidung T 453/19 zugrundeliegenden Fall) oder wenn der erteilte unabhängige Anspruch zwei verschiedene Ausführungsformen umfasse (wie in dem der Entscheidung T 223/97 zugrundeliegenden Fall).
Auch der Entscheidung T 181/02 seien lediglich diese beiden Alternativen als mögliche Ausnahmefälle genannt.
Im vorliegenden Fall sei jedoch keine der beiden Voraussetzungen erfüllt. Vielmehr seien Merkmale aus der Beschreibung in den erteilten Anspruch 1 aufgenommen worden, um die drei unabhängigen Ansprüche zu bilden. Diese Merkmale seien willkürlich aus der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht ausgewählt worden und erforderten daher eine erneute Recherche und Analyse im Vergleich zu den Ansprüchen des erteilten Patents.
Da keiner der in T 181/02 genannten Ausnahmefälle vorliege, seien die Änderungen, die zu den zusätzlichen unabhängigen Ansprüchen geführt hätten, nicht als Versuch zu werten, einem Einspruchsgrund zu begegnen. Zur Vermeidung des Widerrufs des Patents wäre es ausreichend gewesen, lediglich den einzigen unabhängigen Anspruch einzuschränken.
In T 2063/15 habe dieselbe faktische Situation vorgelegen wie im vorliegenden Fall. Geänderte Ansprüche dürften sich nicht auf Merkmale aus der Beschreibung stützen, weil diese keine Entsprechung in den erteilten Ansprüchen hätten.
Das Hinzufügen von weiteren unabhängigen Ansprüchen stelle einen Versuch dar, das Prüfungsverfahren weiterzuführen. Dies sei gemäß der Entscheidung G 1/84 nicht der Zweck des Einspruchsverfahrens.
Auch den Entscheidungen T 750/11, T 2290/12 und T 99/04 könne nicht entnommen werden, dass die Aufnahme von Merkmalen aus der Beschreibung in mehrere unabhängige Ansprüche zulässig sei.
Der Hauptantrag erfülle daher nicht das Erfordernis der Regel 80 EPÜ.
Antrag auf Rückverweisung an die Einspruchsabteilung
Alle Einspruchsgründe seien im schriftlichen Vorbringen der Parteien behandelt worden. Es lägen keine besonderen Gründe vor, die eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung gemäß Artikel 11 VOBK rechtfertigten.
Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Die Beschwerdegegnerin hat hierzu nichts vorgebracht.
1. Gegenstand des Patents
1.1 Das Patent bezieht sich auf die Wundversorgung mittels Unterdruck, wodurch die Heilung chronischer Wunden gefördert werden kann. Über der Wunde wird dazu zur Herstellung eines abgeschlossenen Wundraums eine Abdeckeinrichtung mit einem Sauganschluss angebracht. Die Abdeckeinrichtung weist einen Folienschlauch auf, in den eine menschliche Extremität einführbar ist (Figuren 11 a) bis 11 c)).
1.2 Gemäß Anspruch 1 des Patents wie erteilt ist die Abdeckeinrichtung zumindest abschnittsweise wasserdampfdurchlässig. Dadurch wird einerseits eine übermäßige Austrocknung der Wunde durch Transport von Feuchtigkeit aus der Umgebung in den Wundraum verhindert, andererseits aber auch eine Mazeration der Wunde durch Abtransport übermäßiger Feuchtigkeit durch die Abdeckung ermöglicht.
2. Zulassung des Hauptantrags
2.1 Der derzeitige, mit der Beschwerdebegründung eingereichte Hauptantrag unterscheidet sich vom vorherigen, der Entscheidung zugrundeliegenden Hauptantrag dadurch, dass im Anspruch 16 die Streichung des Merkmals "vorzugsweise" rückgängig gemacht wurde.
2.2 Dass die im damaligen Hauptantrag vorgenommene Änderung betreffend "vorzugsweise" nicht durch einen Einspruchsgrund veranlasst sei und der Hauptantrag deshalb nicht dem Erfordernis der Regel 80 EPÜ genüge, wurde von der Einsprechenden erstmalig in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgebracht.
2.3 Aus diesem Grund sowie im Hinblick auf die geringe Komplexität der Änderung ließ die Kammer den Hauptantrag nach Artikel 12(4) VOBK in das Beschwerdeverfahren zu.
3. Hauptantrag - Regel 80 EPÜ
3.1 Nach Regel 80 EPÜ können die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen geändert werden, soweit die Änderungen durch einen Einspruchsgrund nach Artikel 100 EPÜ veranlasst sind, auch wenn dieser vom Einsprechenden nicht geltend gemacht worden ist.
3.2 Im gegenständlichen Fall wurde ein Einwand gegen Anspruch 1 des erteilten Patents auf Grundlage des Einspruchsgrundes nach Artikel 100(a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 54 EPÜ erhoben. Als Reaktion auf diesen Einwand ersetzte die Beschwerdeführerin diesen unabhängigen Anspruch durch drei andere unabhängige Ansprüche. Die Beschwerdegegnerin ist der Meinung, dass diese Vorgangsweise nicht von Regel 80 EPÜ gedeckt ist.
3.3 Nach Ansicht der Beschwerdegegnerin erfordert Regel 80 EPÜ, dass die Patentinhaberin auf einen Einwand gegen einen unabhängigen Anspruch grundsätzlich lediglich mit einer Änderung dieses einen unabhängigen Anspruchs reagiert. Auch nach der von der Beschwerdegegnerin genannten Entscheidung T 181/02, Nr. 3.2 der Gründe (worin auf T 223/97, Nr. 2 - 2.2 der Gründe Bezug genommen wird, worin wiederum auf T 295/87 verwiesen wird), soll die Ersetzung eines einzigen erteilten unabhängigen Anspruchs durch zwei oder mehr unabhängige Ansprüche nur in Ausnahmefällen eine durch einen Einspruchsgrund veranlasste Änderung darstellen können. Dies kann nach Ansicht der Beschwerdegegnerin dann der Fall sein, wenn ein erteilter unabhängiger Anspruch zwei bestimmte Ausführungsformen abdeckt (siehe T 181/02, Nr. 3.2 der Gründe) oder wenn die zusätzlichen unabhängigen Ansprüche auf eine Kombination mit vormals abhängigen Ansprüchen zurückgehen (siehe T 453/19, Nr. 2 der Gründe). Keine dieser beiden Fallkonstellationen entspricht der Fallkonstellation im gegenständlichen Fall, bei welcher der unabhängige Anspruch 1 wie erteilt durch drei neue unabhängige Ansprüche ersetzt wurde, in denen jeweils ein Merkmal aus der Beschreibung sowie teilweise zusätzlich Merkmale abhängiger Ansprüche hinzugefügt wurden. Die Beschwerdegegnerin verwies zudem auf T 2063/15, Nr. 4.1.2 der Gründe, letzter Teilsatz, wonach derartige, sich auf die Beschreibung stützende Änderungen grundsätzlich gegen Regel 80 EPÜ verstoßen.
3.4 Die Kammer teilt die Ansicht der Beschwerdegegnerin nicht. Ein maßgeblicher Ausgangspunkt vieler der von der Beschwerdegegnerin genannten Entscheidungen scheint T 295/87 zu sein. Im zweiten Leitsatz dieser Entscheidung wurde die Aussage getroffen, dass eine nicht durch die Einspruchsgründe bedingte Änderung, bei der neue Ansprüche vorgeschlagen werden, die im erteilten Patent keine Entsprechung haben, nicht zulässig ist. Des Weiteren wurde in dieser Entscheidung in Nr. 3 der Gründe ausgeführt, dass das Einspruchsverfahren nicht die Gelegenheit bieten soll, neue Gegenstände in die Ansprüche aufzunehmen, die zwar möglicherweise durch die ursprüngliche Beschreibung ausreichend gestützt sind, die jedoch als solche ursprünglich nicht beansprucht worden sind. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass Regel 57a EPÜ 1973 - die Vorgängerbestimmung zu Regel 80 EPÜ - erst mit Entscheidung des Verwaltungsrates vom 13. Dezember 1994 (siehe (ABl. EPA 1995, 9 ff.) eingeführt wurde. Dementsprechend betrifft T 295/87 auch nicht unmittelbar diese Bestimmung, sondern die Frage, ob die an den Patentansprüchen vorgenommene Änderung im Sinne der Regeln 57 und 58 EPÜ 1973 erforderlich und sachdienlich war. Schon aus diesem Grund erscheint es fraglich, ob die in T 295/87 getätigten - und in einigen späteren Entscheidungen übernommenen - Aussagen auf die Anwendung von Regel 80 EPÜ übertragen werden können.
3.5 Unabhängig davon ist die zur Entscheidung im gegenständlichen Fall berufene Kammer der Ansicht, dass aus Regel 80 EPÜ keine allgemeinen Vorgaben ableitbar sind, in welcher Form ein Patentinhaber Ansprüche ändern darf, damit diese Änderung als durch einen Einspruchsgrund veranlasst angesehen werden darf (siehe diesbezüglich auch T 2982/18, Nr. 2.4 der Gründe und T 359/13, Nr. 1.1 der Gründe, letzter Absatz). Insbesondere wird in Regel 80 EPÜ keine Unterscheidung dazu getroffen, ob die in einen angegriffenen Anspruch zusätzlich aufgenommenen Merkmale aus abhängigen Ansprüchen oder aus der Beschreibung stammen. Für die Beurteilung des Erfordernisses von Regel 80 EPÜ ist alleine maßgeblich, ob die vorgenommene Änderung durch einen Einspruchsgrund veranlasst ist. Hierbei ist zu prüfen, ob die Änderung als ernsthafter Versuch zu werten ist, einem Einspruchsgrund zu begegnen (siehe zu Letzterem T 750/11, Nr. 2.3.2 der Gründe).
3.6 Für die Beurteilung, ob eine Änderung von Ansprüchen im Sinne der Regel 80 EPÜ durch einen Einspruchsgrund veranlasst wurde, ist es daher unerheblich, ob die in einen angegriffenen Anspruch zusätzlich aufgenommenen Merkmale aus abhängigen Ansprüchen oder aus der Beschreibung stammen.
3.7 Ob die in einen angegriffenen unabhängigen Anspruch zusätzlich aufgenommenen Merkmale aus abhängigen Ansprüchen oder aus der Beschreibung stammen, kann sich auf die Komplexität der Änderung auswirken und bei Ermessensentscheidungen zur Zulassung von verspätetem Vorbringen eine Rolle spielen. Derartige Zulassungsentscheidungen sind jedoch von der Anwendung von Regel 80 EPÜ abzugrenzen. Regel 80 EPÜ ist - wie in der deutschen Fassung anhand der Verwendung des imperativen Präsens ersichtlich - nicht als Ermessensnorm ausgestaltet, sondern betrifft eine inhaltliche Voraussetzung für die Gewährbarkeit einer im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderung. Auch die vorbereitenden Arbeiten bestätigen dies (siehe CA/12/94 Rev 1, Nr. 6.2 der Gründe: "Mit Regel 57a neu wird eine lex specialis für Änderungen im Einspruchs-verfahren vorgeschlagen. Es handelt sich um eine rein materiellrechtliche Regelung des Änderungsrechts. Über den Zeitpunkt, bis zu dem Änderungen zulässig sind, wird hier keine Regelung getroffen [...]"). Ob das Erfordernis von Regel 80 EPÜ erfüllt ist, kann bei Zulassungsentscheidungen zu Anspruchssätzen daher - so wie andere materiellrechtliche Regelungen - lediglich im Rahmen der prima facie Gewährbarkeit eines Anspruchssatzes herangezogen werden. Prima facie Gewährbarkeit kann, ebenso wie die Komplexität der Änderung, ein Kriterium für die Ausübung von Ermessen bei der Zulassung von verspätetem Vorbringen sein.
3.8 Bezüglich des Ersetzens eines von einem Einspruchsgrund betroffenen unabhängigen Anspruchs durch mehrere unabhängige Ansprüche stimmt die Kammer der Entscheidung T 431/22, Nr. 1 der Gründe zu, wonach Regel 80 EPÜ einer solchen Änderung nicht entgegensteht, sofern der Gegenstand der neuen unabhängigen Ansprüche im Vergleich zum Gegenstand des angegriffenen Anspruchs eingeschränkt oder geändert ist. Wie in T 431/22 dargelegt, ist es grundsätzlich legitim, dass ein Patentinhaber versucht, Teilbereiche des angegriffenen unabhängigen Anspruchs zum Überwinden eines Einspruchsgrunds gegebenenfalls mittels zweier oder mehrerer unabhängiger Ansprüche abzudecken (siehe diesbezüglich auch T 2290/12, Nr. 4.1 der Gründe, dritter Absatz). Wie in T 99/04, Nr. 13 der Gründe ausgeführt, besteht der Zweck von Regel 80 EPÜ nicht darin, einen Patentinhaber daran zu hindern, das Patent unter Berücksichtigung der Einspruchsgründe so breit wie möglich aufrechtzuerhalten.
3.9 Auch der Verweis der Beschwerdeführerin auf G 1/84 geht ins Leere. Diese Entscheidung betrifft ein völlig anderes Thema ("Einspruch des Patentinhabers") als Regel 80 EPÜ und enthält in Nr. 9 der Gründe lediglich die allgemeine Aussage, dass das Einspruchsverfahren nicht als Erweiterung des Prüfungsverfahrens gedacht ist. Hieraus kann, entgegen T 610/95, Nr. 2.2 der Gründe, nicht abgeleitet werden, dass das Ersetzen eines unabhängigen Anspruchs durch mehrere andere unabhängige Ansprüche grundsätzlich mit einer Fortsetzung des Prüfungsverfahren gleichzusetzen sein soll, welche Regel 80 EPÜ verletzt.
3.10 Wird ein angegriffener unabhängiger Anspruch unverändert beibehalten und durch weitere (abhängige oder unabhängige) Ansprüche ergänzt, z.B. um leichter zu verteidigende Rückfallpositionen für etwaige spätere Verfahren vor nationalen Gerichten oder dem Einheitlichen Patentgericht zu schaffen, dient dies hingegen nicht der Ausräumung des gegen den (unverändert) beibehaltenen Anspruch erhobenen Einspruchsgrundes, da sich diesbezüglich durch die Änderung keine andere Beurteilung ergibt. In einem solchen Fall wäre Regel 80 EPÜ nicht Genüge getan.
3.11 Ebenso wie die Aufnahme von Merkmalen aus der Beschreibung kann sich das Ersetzen eines unabhängigen Anspruchs durch mehrere andere unabhängige Ansprüche auf die Komplexität der Änderung auswirken und bei Ermessensentscheidungen zur Zulassung von verspätetem Vorbringen eine Rolle spielen. Wie oben in Punkt 3.7 dargelegt, sind derartige Zulassungsentscheidungen jedoch von der Anwendung von Regel 80 EPÜ abzugrenzen. Ebenfalls von Regel 80 EPÜ abzugrenzen ist die Prüfung, ob die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ erfüllt sind (vgl. zu Letzterem T 2290/12, Nr. 4.1 der Gründe, letzter Absatz).
3.12 Zusammenfassend kann die Frage, ob das Ersetzen eines unabhängigen Anspruchs durch mehrere andere unabhängige Ansprüche im Sinne der Regel 80 EPÜ durch einen Einspruchsgrund veranlasst wurde, nicht grundsätzlich verneint oder auf die von der Beschwerdeführerin sowie in T 181/02 genannten Kategorien von Ausnahmekonstellationen beschränkt werden. Vielmehr bedarf es diesbezüglich regelmäßig einer Beurteilung im Einzelfall (vgl. zu Letzterem T 263/05, Nr. 4.8 der Gründe, zweiter und dritter Satz).
3.13 Im gegenständlichen Verfahren verfolgt die Patentinhaberin mit dem Ersetzen des angegriffenen unabhängigen Anspruchs durch drei andere unabhängige Ansprüche, das legitime Ziel, Teilbereiche des angegriffenen Anspruchs aufrechtzuerhalten, welche ihrer Meinung nach nicht vom geltend gemachten Einspruchsgrund betroffen sind. Alle drei neu hinzugekommenen Ansprüche wurden im Verhältnis zum angegriffenen und nicht weiter verfolgten Anspruch eingeschränkt. Diese Einschränkungen dienen im jeweiligen Anspruch - und somit auch insgesamt - augenscheinlich der Überwindung des erhobenen Einspruchsgrundes. Im vorliegenden Fall erfüllt der Hauptantrag daher das Erfordernis der Regel 80 EPÜ.
4. Antrag auf Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
4.1 Die Einspruchsabteilung hat sich in ihrer Entscheidung lediglich mit Regel 80 EPÜ, nicht aber mit anderen Erfordernissen des EPÜ auseinandergesetzt.
4.2 Daher liegen besondere Gründe vor, die gemäß Artikel 11 VOBK eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung rechtfertigen.
5. Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr
5.1 Die von der Beschwerdeführerin geforderte Rückerstattung der Beschwerdegebühr ist nicht gerechtfertigt, da kein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne der Regel 103 (1) EPÜ vorliegt. Wie oben in Punkt 3.7 erörtert, ist Regel 80 EPÜ keine Verfahrensvorschrift, sondern eine rein materiellrechtliche Regelung. Ob die Einspruchsabteilung Regel 80 EPÜ in inhaltlicher Hinsicht zutreffend angewendet hat, ist insofern auch keine Frage, die einen Verfahrensmangel begründen kann.
5.2 Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird daher zurückgewiesen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird zurückgewiesen.