T 0017/86 (Kälteanlage) 26-10-1987
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Änderung (unzulässige) der europäischen Patentanmeldung
Beschränkung der Patentansprüche durch Aufnahme technischer Merkmale aus der Beschreibung
I. Die am 16. September 1982 eingereichte und unter der Nummer 0 076 716 veröffentlichte europäische Patentanmeldung Nr. 82 401 687.7, für die die Priorität einer französischen Voranmeldung vom 25. September 1981 in Anpruch genommen wurde, wurde am 15. Oktober 1985 mit Entscheidung der Prüfungsabteilung zurückgewiesen. Der Entscheidung lagen die am 12. Juni 1985 eingereichten Patentansprüche zugrunde.
II. Die Prüfungsabteilung machte in ihrer Entscheidung geltend, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 entgegen den Bestimmungen des Artikels 123 (2) EPÜ über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausgehe und daß deshalb entsprechend Artikel 97 (2) EPÜ kein europäisches Patent erteilt werden könne.
Die Prüfungsabteilung stützte ihre Entscheidung darauf, daß der Umfang des Anspruches 1 durch Aufnahme eines bestimmten technischen Merkmals, nämlich eines Heißdampfkühlventils, beschränkt worden sei, das zwar in den Anmeldungsunterlagen beschrieben sei, allerdings nur in Verbindung mit einem zweiten technischen Merkmal, nämlich einem Nachkühler; aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung gehe aber nirgendwo hervor, daß die Erfindung in einer Vorrichtung liegen könne, die dieses technische Merkmal für sich allein, also ohne das zweite technische Merkmal, aufweise.
III. Die Anmelderin legte am 2. Dezember 1985 gegen diese Entscheidung Beschwerde ein ...
IV. Der Patentanspruch 1, auf den sich der Hauptantrag stützt, lautet wie folgt:
"Mehrkompressor-Kälteanlage mit einer Niederdruckstufe (12, 41) und einer Hochdruckstufe (13, 42), die in Serie geschaltet sind und jeweils mehrere Motorkompressoren und eigene Verbraucherstellen (14, 15, 43, 44) mit jeweils verschiedenen Verdampfungstemperaturen (t1, t2 mit t1 < t2) aufweisen, die unter gleich hohem Druck mit einem flüssigen Kältemittel aus einem beiden Stufen gemeinsamen Kältemittelkondensatbehälter (28, 64) gespeist werden, dadurch gekennzeichnet, daß die Anlage zur Erzielung einer guten Kühlleistung ein Ventil (31) aufweist, das bei Überhitzung sowohl des aus der Niederdruckstufe (12, 41) austretenden Kältemittels als auch des von den Verbraucherstellen (15, 44) der in Serie geschalteten Hochdruckstufe (13, 42) kommenden Kältefluids durch Einspritzung von entspanntem Kältemittel in den aus der Niederdruckstufe (12) austretenden Kältemittelstrom eine Abkühlung auf eine bestimmte Temperatur bewirkt"
Dieser Anspruch unterscheidet sich vom ursprünglich eingereichten Anspruch 1, der wie folgt lautete: "Mehrkompressor-Kälteanlage mit einer Niederdruckstufe (12, 41) und mindestens einer Hochdruckstufe (13, 42) in Serienschaltung, dadurch gekennzeichnet, daß sie einerseits für jede Stufe eigene Verbraucherstellen (14, 15, 43, 44, 46) mit jeweils verschiedenen Verdampfungstemperaturen (t1, t2, t3) und andererseits einen Kältemittelkreis aufweist, der alle diese Verbraucherstellen unter gleich hohem Druck mit einem flüssigen Kältemittel aus einem beiden Stufen gemeinsamen Kältemittelkondensatbehälter (28, 64) speist" ...
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Die Prüfungsabteilung hat völlig zu Recht geprüft, ob der auf ihren Bescheid hin eingereichte Hauptanspruch mit Artikel 123 (2) EPÜ vereinbar ist, wie es nach Artikel 97 (1) EPÜ vorgeschrieben ist.
2.1. Der neue Anspruch des Hauptantrags enthält im vorliegenden Fall alle Eigenschaften des ursprünglichen Anspruchs 1 zuzüglich eines neuen Merkmals, nämlich eines regulierbaren Heißdampfkühlventils.
2.2. Die Prüfungsabteilung hat die Auffassung vertreten, daß die Aufnahme dieses einzelnen technischen Merkmals, das in der Anmeldung nur in Verbindung mit einem Nachkühler beschrieben ist, zwar eine Beschränkung darstellt, tatsächlich jedoch den Gegenstand der Anmeldung über ihren Inhalt in der eingereichten Fassung hinaus erweitert und damit gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt.
2.3. Die Kammer stimmt mit der Prüfungsabteilung darin überein, daß Beschränkungen, die nicht zum Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung gehören, den Gegenstand der Patentanmeldung erweitern können (s. Entscheidung T 201/83, ABl. EPA 1984, 481, Nr. 2). Somit kommt die Prüfung auf Einhaltung des Artikels 123 (2) EPÜ im Grunde einer Neuheitsprüfung gleich, d. h., durch die Änderung darf kein neuer Gegenstand entstehen (Entscheidung T 201/83, Nr. 3).
Das bedeutet nicht zwangsläufig, daß die technischen Merkmale des geänderten Anspruchs Gegenstand einer gesonderten Beschreibung, etwa eines konkreten Beispiels, gewesen sein müssen. Bedingung ist nur, daß alle diese technischen Merkmale in der ursprünglichen Anmeldung eindeutig beschrieben worden sind. Wird ein Merkmal, das nur in Verbindung mit anderen Merkmalen beschrieben worden ist, für sich allein beansprucht, so muß außerdem für den Fachmann aus der ursprünglichen Beschreibung zweifelsfrei ersichtlich sein, daß dieses technische Merkmal auch einzeln zu dem gewünschten Ergebnis führt.
3. Um festzustellen, ob der Gegenstand des neuen Anspruchs 1 den Anforderungen des Artikels 123 (2) EPÜ genügt, muß daher geprüft werden, ob die Anmeldungsunterlagen alle technischen Merkmale der in dem geänderten Anspruch enthaltenen Vorrichtung eindeutig offenbaren und ob für den Fachmann zweifelsfrei feststeht, daß die Vorrichtung auch unabhängig von irgendeinem anderen Bestandteil so funktioniert, daß das von der nunmehr beanspruchten Erfindung angestrebte Ergebnis erzielt wird.
4. Dazu ist der Neuheitstest anzuwenden, anhand dessen sich feststellen läßt, ob ein später eingereichter Patentanspruch mit genau demselben Inhalt wie der bisherige Anspruch 1 im Hinblick auf die Anmeldung in der eingereichten Fassung einschließlich der Zeichnungen als nicht neu gelten kann; dabei sind nicht nur die im Anspruch genannten, sondern auch die dort nicht genannten technischen Merkmale zu berücksichtigen, da die Neuheit, wie unter 2.3 dargelegt, auch in der Auslassung eines der Bestandteile einer Vorrichtung liegen kann.
5. Im vorliegenden Fall hat die Prüfungsabteilung ihren Einwand, es liege ein Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ vor, auf folgende beiden Gründe gestützt:
- Das technische Merkmal, das sich auf den Nachkühler beziehe, sei nicht mit aufgenommen worden, obwohl es von dem des Heißdampfkühlventils nicht getrennt werden könne.
- Das technische Merkmal, das in der zur näheren Bezeichnung des Ventils verwendeten Formulierung "das eine Abkühlung auf eine bestimmte Temperatur bewirkt", bestehe, erscheine nicht in den Anmeldungsunterlagen.
5.1. Was den ersten Grund anbelangt, so ist das Heißdampfkühlventil, wie von der Prüfungsabteilung festgestellt, in den Ausführungsbeispielen tatsächlich immer in Verbindung mit einem Nachkühler beschrieben; es ist deshalb zu prüfen, ob zum Anmeldezeitpunkt bekannt war, ob eine Vorrichtung, die generell unter den neuen Anspruch 1 fällt, auch ohne diesen Nachkühler funktionieren und das gewünschte Ergebnis, nämlich eine höhere Energieleistung, erzielen kann.
5.2. Obwohl an mehreren Stellen in der Beschreibung beide Bestandteile (Heißdampfabkühlung und Nachkühlung) unterschiedslos in Verbindung miteinander genannt sind, wird auf Seite 5, Zeilen 17 bis 29 im Anschluß an einen Vergleich zwischen einer bekannten fiktiven und der anmeldungsgemäßen Vorrichtung folgende Schlußfolgerung gezogen: "Es ist festzustellen, daß sich dank einer gezielten Abkühlung des von den Verbraucherstellen der Hochdruckstufe kommenden entspannten Gases und des aus der Niederdruckstufe der Vorrichtung austretenden Gases eine beachtliche Energieeinsparung bei der Kälteerzeugung an diesen Verbraucherstellen bei Verdampfungstemperaturen von - 38°C und - 10°C erzielen läßt."
5.3. Der alleinige Einsatz des Heißdampfkühlventils (ohne den Nachkühler) wäre demnach bei einem Vergleich der technischen Merkmale des neuen Anspruchs gegenüber der ursprünglichen Beschreibung nicht neu.
Es geht somit aus den Anmeldungsunterlagen hervor, daß die beschriebene Vorrichtung unabhängig von der Nachkühlung funktionieren und auch ohne diese die von der anmeldungsgemäßen Vorrichtung angestrebte höhere Energieleistung erbringen kann. Daraus folgt, daß die Aufnahme der Heißdampfabkühlung allein (ohne die Nachkühlung) in den ursprünglichen Anspruch 1 nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt.
5.4. Was das Ventil anbelangt, so hat die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung geltend gemacht, daß alle Ventile regulierbar seien, und das ist auch meistens der Fall. Außerdem ist aus den Abbildungen 2 und 3 der Anmeldung ersichtlich, daß das "Ventil" 31 mit einem Symbol dargestellt ist, das in der Kältetechnik normalerweise für ein handbetriebenes Expansionsventil verwendet wird. Dieses Symbol erscheint im übrigen auch in einigen Entgegenhaltungen, so z. B. in den Druckschriften US-A-4 151 724 (Abbildung 1 "expansion valve 86", Spalte 3, Zeile 17) und DE-A-1 501 115 (Abbildungen 1 und 2, "Expansionsventil 16", S. 16, Zeile 11).
5.5. Die Beschwerdekammern des EPA haben immer die Auffassung vertreten, daß die in den Zeichnungen enthaltenen Merkmale in die Ansprüche aufgenommen werden können, sofern sie vom Fachmann bezüglich Struktur und Funktion vollständig und unmittelbar in klarer und eindeutiger Weise in Einklang mit dem Gesamtinhalt der Beschreibung den Zeichnungen als zur Erfindung gehörend entnommen werden können (s. Entscheidung T 169/83, ABl. EPA 1985, 193). Da in den Abbildungen 1 und 2 klar und zweifelsfrei ein regulierbares Ventil wiedergegeben ist, ist die Kammer daher der Auffassung, daß seine Verwendung in den Anmeldungsunterlagen in Verbindung mit der Heißdampfabkühlung der betreffenden Gasströme auf eine bestimmte Temperatur (Beschreibung, Seite 5, Zeilen 10 bis 14 und Zeilen 23 bis 29) offenbart war. Ein solcher Anspruch wäre demnach gegenüber den Anmeldungsunterlagen nicht neu.
5.6. Die Aufnahme der entsprechenden technischen Merkmale in den Hauptanspruch stellt also keine Änderung dar, die aufgrund des Artikels 123 (2) EPÜ zurückgewiesen werden kann.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
- Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
- Die Sache wird an die erste Instanz mit der Auflage zurückverwiesen, die Prüfung auf der Grundlage folgender Unterlagen fortzusetzen: