T 0162/90 07-05-1992
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Streufahrzeug mit aufgesetztem Winterdienst- Streugerät
Neuheit (ja)
Erfinderische Tätigkeit (ja)
Funktionelle technische Merkmale
Entfernter Stand der Technik
Keine Vorlage an die Große Beschwerdekammer
Novelty (yes)
Inventive step (yes)
Functional technical features
Remote state of the art
Referral to the Enlarged Board of Appeal (no)
I. Gegen das am 13. Januar 1988 erteilte, acht Ansprüche umfassende Patent Nr. 0 131 761 ist am 13. Oktober 1988 ein Einspruch wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit eingelegt worden, mit dem Antrag, das Patent in vollem Umfang zu widerrufen.
Anspruch 1 des erteilten Patents lautet:
"1. Streufahrzeug (1) mit aufgesetztem Winterdienst- Streugerät (3) für feste und/oder flüssige Streustoffe, welches wenigstens einen Streugutbehälter (4) und eine in Fahrtrichtung (18) hinter dem Streugutbehälter angeordnete Streugutvorrichtung (13) mit einem um eine im wesentlichen vertikale Achse (15) rotierenden Streuteller (16) aufweist, von dem das Streugut fächerartig ausgestreut wird, dadurch gekennzeichnet, daß oberhalb der Streuvorrichtung (13) eine die Umrißlinien des Streufahrzeugs (1) und/oder des Streugutbehälters (4) seitlich und/oder nach oben überragende Fahrtwindleitfläche (20, 20/1, 20/2, 20/3, 20/4) angeordnet ist, die den erfaßten Fahrtwind nach unten auf den vom Streuteller (16) erzeugten Streugutfächer leitet."
II. Der Einspruch stützte sich insbesondere auf folgende Druckschriften:
(1) DE-A-2 109 746 (Nutzkraftwagen mit Aufbauten zur Luftführung)
(2) DE-U-1 995 373 (Vorrichtung gegen Verschmutzung der Karosseriewand von Kraftfahrzeugen)
(3) DE-U-7 234 647 (Strömungsabweis-Vorrichtung für Kraftfahrzeugheckscheiben)
(4) DE-C-2 649 953 (Luftleitvorrichtung für Kraftfahrzeuge)
(4a) DE-A-2 649 953
(5) DE-C-0 809 998 (Vorrichtung an Kraftfahrzeugen zum Vermindern des Luftwiderstandes).
III. Durch Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 26. Oktober 1989, abgesandt am 20. Dezember 1989, wurde der Einspruch zurückgewiesen, da die Erfindung ausreichend offenbart und gewerblich anwendbar sei und der Gegenstand des Anspruchs 1 neu sei sowie auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
IV. Gegen diese Entscheidung richtet sich die seitens der Beschwerdeführerin (Einsprechende) am 25. Januar 1990 unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr eingereichte Beschwerde. Die Beschwerdeschrift enthält folgende Erklärung: "Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 20. Dezember 1989 wird hiermit das Rechtsmittel der Beschwerde eingelegt. Die Beschwerdebegründung wird nachgereicht." (Hervorhebung im Original).
V. Am 12. April 1990 hat die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) unter anderem mitgeteilt, sie sei der Ansicht, daß die Beschwerde den Bedingungen der Regel 64 b) EPÜ nicht genüge und somit nach Regel 65 EPÜ nicht zulässig sei.
VI. Die Beschwerdebegründung ist am 30. April 1990 eingereicht worden.
VII. Die Geschäftsstelle der Beschwerdekammern teilte den Beteiligten mit, daß gemäß bisheriger ständiger Praxis hinsichtlich der Regeln 64, 65 EPÜ auf den Erlaß einer separaten Vor- bzw. Zwischenentscheidung über die Frage der Zulässigkeit verzichtet werde.
VIII. Am 7. Mai 1992 wurde gemäß Antrag der Beschwerdeführerin mündlich verhandelt. Ihre Position wird insgesamt wie folgt zusammengefaßt:
a) Als objektive Aufgabe sei nicht vom in Frage gestellten Effekt (Beeinflussung der Streugeometrie) auszugehen, was allenfalls ein sekundärer Effekt sein könne, sondern vom primären Effekt der Sauberhaltung der Rückwand des Streufahrzeugs. Dieses sei das zentrale Problem.
b) Anspruch 1 enthalte keine deutliche und vollständige Offenbarung konstruktiver Art. Es fehlten Merkmale, die deutlich angeben, wie erreicht werde, daß der Fahrtwind auf den Streufächer gelenkt werde.
c) Entgegenhaltungen (1) und (2) zeigen übereinstimmende kastenförmige Nutzfahrzeuge. Neu sei nur noch der Austausch eines kastenförmigen Nutzkraftwagens mit Dachaufbauten gegen ein kastenförmiges Streufahrzeug. Jedoch habe man Streufahrzeuge unter die Nutz- fahrzeuge einzuordnen, so daß der Anspruchsgegenstand nur bei formaler Betrachtung neu sei. Daher liege eine "implizite Offenbarung vor" und deshalb sei der Anspruchsgegenstand nicht neu.
d) Der Gegenstand des Anspruchs 1 ergebe sich in naheliegender Weise aus der oberbegriffbildenden Druckschrift
(6) DE-C-2 632 794
zusammen mit den Entgegenhaltungen (1) bzw. (2). In (2) werde eine Leitfläche empfohlen, um das Fahrzeugheck von Verschmutzung frei zu halten. Dies werde in der angefochtenen Erfindung als Nebeneffekt ebenfalls angestrebt. Es sei daher nur schon deshalb naheliegend, die in (2) dargestellte Fahrtwindleitfläche auch bei einem Streufahrzeug einzusetzen. Der zusätzliche Effekt der vertikalen Luftströmung hinsichtlich der Beeinflussung des Streugutes sei dann aber ein inhärenter, zwangsläufiger, geschenkter Effekt, der durch den ersten Effekt (saubere Rückwand) völlig bestimmt sei. Der naheliegende erste Effekt führe aber schon zum Anspruchsgegenstand; dieser könne daher durch einen zweiten Effekt nicht mehr erfinderisch werden.
Es bedürfe daher einer bloßen, nicht-erfinderischen Übertragung der Lehre aus Druckschrift (2) auf die Konstruktion nach Druckschrift (6) um zum Anspruchsgegenstand zu gelangen. Es sei kein Hindernis erkennbar, das den Fachmann hätte hindern können, den in (2) empfohlenen Luftvorhang bei einem Streufahrzeug nach Druckschrift (6) direkt anzuwenden. Die Unterschiede in der Gliederung der jeweiligen Rückwandpartien spielten dabei keine Rolle, denn es käme nur auf den Bereich der Räder an, der bei allen Fahrzeugen etwa gleich sei.
e) Die mit der Erfindung geltend gemachte Hauptwirkung wird bezweifelt, so daß keine ausreichende gewerbliche Anwendbarkeit vorliege. Durch bloße Überlagerung einer vertikalen Luftströmung komme es zu keinen grundlegenden Veränderungen wie Abbau von Turbulenzen.
IX. Der Standpunkt der Beschwerdegegnerin wird im wesentlichen wie folgt zusammengefaßt:
a) Die Beschwerdeführerin verlagere die Diskussion auf Dinge, die mit dem Thema nichts zu tun hätten. Angesichts der tatsächlichen Ausgangslage hätte sich der Fachmann noch nicht einmal vor einer "Rückwand" im Sinne der Entgegenhaltungen gesehen. Die unregel- mässige Form des baulichen Komplexes, von dem auszugehen sei, hätte deshalb noch keine vergleichbare Frage nach dem Sauberhalten einer dortigen Rückwand zu stellen erlaubt.
b) Das Merkmal "auf den vom Streuteller erzeugten Streugutfächer leitet" sei von der Beschwerdeführerin nicht gebührend berücksichtigt worden. Daher seien deren Ausführungen über die ausreichende Offenbarung und Ausführbarkeit nicht haltbar. Die grundsätzliche technische Wirksamkeit einer Fahrtwindleitfläche gehe aus den Entgegenhaltungen (1) bis (4) hervor - da sonst die angestrebte Freihaltung von Verunreinigungen auch nicht zu erreichen wäre. Wenn es auch zutreffe, daß das gänzliche Vermeiden von Turbulenzen nicht möglich sei, heiße das aber nicht, man könne Turbulenzen überhaupt nicht beeinflussen. Es genüge, daß eine Verringerung des Unterdrucks durch eine vertikal nach unten gerichtete Luftströmung bewirkt werden könne.
c) Neu sei, was nicht identisch vorweggenommen sei. Da auch die Beschwerdeführerin Unterschiede zugestehe, anerkenne sie auch die Neuheit des Anspruchsgegenstandes.
d) Die Entgegenhaltungen beträfen Fahrzeuge mit relativ glatter Heckpartie. Die Strömungsverhältnisse seien daher einfach und übersehbar. Davon unterschieden sich die Verhältnisse bei einem Streufahrzeug grundsätzlich, da dort die Verunreinigungen hauptsächlich durch den Streuteller ausgelöst würden, der sich in einem Abstand von 1,5 bis 2,0 m hinter dem eigentlichen Heck des Streufahrzeugs befinde. Auch sei die Fahrgeschwindigkeit eines Streufahrzeugs mit etwa 50 km/h vergleichsweise so gering, daß es dem Fachmann eher unwahrscheinlich erscheine, mit der Fahrtwindleitfläche die Heckpartie eines Streufahrzeugs sauber zu halten. Die unregelmässigen, gegliederten räumlich-geometrischen Bedingungen seien nicht vergleichbar mit den einfachen entgegegehaltenen Situationen. Die Vorstellung, den Streuvorgang mit dem gezielt eingesetzten Fahrtwind zu beeinflussen, wäre daher unwahrscheinlich gewesen.
e) Hätte der Fachmann die Verschmutzung einer rückwärtigen Partie tatsächlich verringern wollen, dann wäre trotzdem die besondere Merkmalskombination des Anspruchs 1 für ihn noch nicht evident gewesen. Die Informationen der Druckschrift (2) hätten im Widerspruch zum angestrebten Erfordernis der Konzentration des Streufächers gestanden. Insofern werde ein Vorurteil des Fachmanns gegen die spezifische Anwendung der Windleitfläche geltend gemacht.
f) Eine nicht erfinderische Nebenlösung einer nicht erfinderischen Lösung könne dann gar nicht geltend gemacht werden, wenn es sich um Kombinationserfindungen handle.
g) Hinsichtlich der seitens der Beschwerdeführerin geltend gemachten Wirkungslosigkeit werde auf das (anlässlich der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 26. Oktober 1989 überreichte) Schriftstück
(S1) Schreiben der Obersten Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, datiert vom 22. September 1986, adressiert an: "Autobahndirektionen, Straßenbauämter, Straßen- und Wasserbauamt"
verwiesen, das bei zehn Ämtern versuchsweise eingesetzte Fahrtwindstrahler an Aufsatz-Streugeräten u. a. wie folgt beurteilte:
"Nach übereinstimmendem Urteil ergeben sich dabei folgende Vorteile
- die starke Verwirbelung des Salzes durch den Luftsog des Streufahrzeuges wird nahezu unterbunden. Dadurch werden die Verwehverluste deutlich reduziert, es kann u. U. eine geringere Streumenge gewählt werden.
- das Streubild wird gleichmässiger"
Das Datum diese Schreibens liege lange vor dem Eingang des Einspruchs und habe nichts mit demselben zu tun.
X. Die Beschwerdeführerin beantragt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen. Sie beantragt außerdem, die folgenden Rechtsfragen der Großen Beschwerdekammer vorzulegen:
"1. Ist ein Gegenstand, der objektiv zwei Probleme löst, als patentfähige Erfindung anzusehen, wenn er sich zur Lösung des einen Problems in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt, zur Lösung des anderen Problems hingegen nicht?"
"2. Sind erhöhte Anforderungen an den Nachweis einer vom Anmelder/Patentinhaber geltend gemachten vorteilhaften Wirkung zu stellen, wenn die Vorrichtung, die diese Wirkung besitzen soll, dem Fachmann aus anderen Überlegungen heraus nahegelegt ist?"
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Zulässigkeit
Nach Artikel 108 und Regel 64 b) EPÜ ist die Beschwerdeschrift innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung schriftlich einzulegen und muß einen Antrag enthalten, der die angefochtene Entscheidung und den Umfang anzugeben hat, in dem ihre Änderung oder Aufhebung begehrt wird.
Die unter III. erwähnte Erklärung der Beschwerdeschrift gibt zwar die angefochtene Entscheidung (mit der der Einspruch zurückgewiesen wurde) eindeutig an, enthält aber keine explizite Angabe, aus der hervorgehen könnte, in welchem Umfang die Änderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung begehrt werde.
Im vorliegenden Fall kann diese Erklärung nur so ausgelegt werden, daß damit Beschwerde gegen die angefochtene Entscheidung, welche den Einspruch zurückwies und das erteilte Patent in unveränderter Form aufrechterhielt, in ihrer Gesamtheit erhoben werden wollte. Damit genügt sie nach ständiger Praxis der Beschwerdekammern Artikel 108 und Regel 64 b) EPÜ (vgl. u. a. T 7/81, ABl. 83, 98; T 16/83, nicht veröffentlicht).
Der Inhalt der Beschwerdebegründung bestätigt dies. Da ein zuvor mit der Sache befaßter zugelassener Vertreter Beschwerde erhob und die nach Regel 64 a) EPÜ erforderlichen Angaben mit der Beschwerdebegründung nachholte, verzichtete die Kammer auf eine Aufforderung nach Regel 65 (2) EPÜ.
Die Beschwerde ist daher zulässig.
2. Gegenstand des Patents
2.1. Es ist zu untersuchen, ob die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten, in Artikel 100 a) und b) EPÜ aufgeführten Gründe der Patentfähigkeit des Gegenstands des erteilten Patents entgegenstehen. Unklarheiten der Anspruchsfassung, die den Anforderungen des Artikels 84 EPÜ widersprechen würden, stellen keinen Einspruchsgrund dar: Ihre Beseitigung würde am Gegenstand des erteilten Patents nichts ändern. Als Gegenstand des erteilten Patents ist daher der von der Beschreibung und Zeichnung gestützte Gegenstand des Anspruchs 1 zu prüfen.
2.2. Anspruch 1 geht im Oberbegriff von einem Streufahrzeug aus, das ein aufgesetztes Winterdienst-Streugerät (3) aufweist. Dieses aufgesetzte Winterdienst-Streugerät umfaßt einen Streugutbehälter (4) und eine Streuvorrichtung (13) mit einem rotierenden Streuteller (16).
Das ist im wesentlichen, wie auch die Beschreibung bestätigt, eine auf einem Lastkraftwagen aufgebaute Spezialeinrichtung, also ein komplexes System von einzelnen konstruktiven Einheiten. Auch Figur 1 der Patentschrift zeigt diese mit dem Oberbegriff des Anspruchs 1 ausreichend klar gegebene technische Voraussetzung der Erfindung eindeutig. Sie ist bei der Bewertung der Erfindung nicht außer acht zu lassen - weshalb die Argumentationen der Beschwerdeführerin, die sich weitestgehend auf diese Vernachlässigung gegebener technisch-konstruktiver Prämissen stützt, insofern von falschen Voraussetzungen ausgehen.
2.3. Der Gegenstand des erteilten Patents ist dadurch gekennzeichnet, daß eine Fahrtwindleitfläche angeordnet ist. Unter einer "Fahrtwindleitfläche" ist eine Konstruktion zu verstehen, die den Fahrtwind in geeigneter Form leitet. Das ist in sich eine funktionelle Bestimmung einer sonst beliebigen "Fläche". Ihr fehlt tatsächlich jede Angabe über spezifische Formen, Größen, relative Lagen, Materialien und materielle technische Wechselwirkungen. Sie sezt sogar den Wind voraus! Es würde aber niemandem einfallen, den Begriff "Fahrtwindleitfläche" als funktionell und daher unbestimmt abzulehnen - da mit diesem funktionellen Begriff für den Fachmann in üblicher und zweckmässiger Weise ein Gegenstand ausreichend genau definiert ist: nämlich so, daß die jeweilige Gestaltung unter Berücksichtigung der jeweiligen gegebenen konkreten technischen "Umwelt" und Randbedingungen festzulegen ist. Solange bei dieser Festlegung fachmännisches Normalwissen und Können ausreicht, solange sich also nicht gerade darin eine nicht verfügbare Maßnahme, also die eigentliche Erfindung, verbirgt, ist nichts gegen eine derartige Festlegung einzuwenden.
2.4. Der erteilte Anspruch 1 definiert ferner die Fahrtwindleitfläche mit Angaben über ihre relative Lage und Form gegenüber dem Lastkraftwagen, zusammen mit der weiteren Bestimmung (nachstehend als Merkmal M bezeichnet), daß die so angeordnete Fahrtwindleitfläche
M: den erfaßten Fahrtwind nach unten und auf den Streugutfächer leitet, welcher Streugutfächer vom Streuteller erzeugt wird.
Auch das Merkmal M ist eine funktionell formulierte Bestimmung, die für den Fachmann als Definition der Konstruktion ausreichend genau ist. Es handelt sich dabei um eine technische Bedingung, die einen technischen Zusammenhang zwischen den Teilen des beanspruchten Systems in seinem Funktionszustand und das Prinzip für die Formgebung vorschreibt. Diese technische Bedingung ist ein definierendes Merkmal des Anspruchsgegenstands. Erläuternde und klärende Ausführungen enthalten die Beschreibung und die Zeichnung. Figur 1 zeigt eine Konstruktion, die auf eine Zone unmittelbar hinter dem Streuteller zielt. Sie muß daher so geformt sein, daß sie den Fahrtwind aus der Horizontalen in eine spezifische Neigung umlenkt. Die Konstruktion selbst weist nach Figur 1 eine solche spezifische Umlenkung mit schräger Endtangente auf.
Der Gegenstand des erteilten Patents muß die genannten technischen Bedingungen erfüllen; sie bestimmen ein System aus Fahrzeug, aufgesetzter Streuvorrichtung und mit einer daran befestigten speziellen Vorrichtung zur Streugutkonzentration, nämlich der auf den Streugutfächer zielenden Fahrtwindleitfläche - mit den implizierten Wechselwirkungen.
2.5. Funktionelle Merkmale werden in den "Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt (C III, 4.7) wie folgt erläutert: "Der durch die Patentansprüche angegebene Bereich muß so präzise sein, wie es die Erfindung zuläßt. Im allgemeinen sollten Patentansprüche, in denen versucht wird, die Erfindung oder eines ihrer Merkmale durch das zu erreichende Ergebnis anzugeben, nicht zugelassen werden. Sie sind jedoch statthaft, wenn die Erfindung nur auf diese Weise beschrieben werden kann und das Ergebnis dergestalt ist, daß es durch Versuche oder Maßnahmen, die in der Beschreibung in angemessener Weise dargelegt sind, tatsächlich unmittelbar durch einfache Erprobung nachgewiesen werden kann." Es folgt das bekannte Beispiel des Aschenbechers, dessen Form durch die Bestimmung definiert war, daß ein glimmender Zigarettenstummel automatisch gelöscht wird.
Nach den obenstehenden Ausführungen unter Ziffer 2.4 ergibt sich, daß diese Bedingungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. Beschreibung und Zeichnung enthalten ausreichende Informationen darüber, mit welchen variablen Größen das zu erreichende Ergebnis konstruktiv bestimmt wird. Die im Anspruch enthaltenen funktionellen Bestimmungen sind notwendige technische Merkmale der Erfindung, die durch andere, genauere nicht ersetzt werden können.
2.6. Diese Feststellungen stimmen mit der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern überein, siehe zum Beispiel die Entscheidungen T 68/85, "Synergistic herbizides", OJ 1987, 228; G 2/88, "Reibungsverringernder Zusatz/Mobil Oil III", ABl. 1990, 093; und T 204/90 - 3.2.2, "Breathing Apparatus" vom 30. Juli 1991, nicht veröffentlicht.
3. Neuheit
Die Beschwerdeführerin meint, daß Konstruktionen nach der Entgegenhaltung (1), die sich auf "Nutzkraftwagen" bezögen, das "Streufahrzeug" des Anspruchs 1 neuheitsschädlich vorwegnähmen, da letzteres ein Nutzkraftwagen sei. Diese Ansicht ist nicht im Einklang mit dem grundlegenden formalen Neuheitskriterium gemäß ausnahmslos beachteter ständiger Praxis und Rechtsprechung am EPA, wonach ein mit einem Allgemeinbegriff definierter Gegenstand nicht ausreicht, einen mit einem spezifischeren Begriff definierten Anspruchsgegenstand neuheitsschädlich zu treffen. Somit kann auch nicht der spezifischere Gegenstand "Streufahrzeug" von einem allgemeineren Gegenstand "Nutzkraftwagen" neuheitsschädlich getroffen werden.
Keine der entgegengehaltenen Druckschriften beschreibt ein Streufahrzeug zusammen mit den kennzeichnenden Merkmalen des Anspruchs 1.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 gilt daher nach Artikel 54 EPÜ als neu.
4. Stand der Technik, technische Aufgabe und Lösung
4.1. Die Erfindung geht aus von einem Streufahrzeug, (bestehend aus einem Lastkraftwagen und aufgesetzter Streuvorrichtung) nach der Druckschrift (6), auf welcher der Gattungsbegriff des Anspruchs 1 basiert. Der Erfindung liegt nach der Beschreibung als Zielsetzung die Aufgabe zugrunde, ein gezielteres, sparsameres und Umweltschäden verminderndes Ausstreuen des Streuguts zu ermöglichen. (Spalte 1, Zeilen 51 bis 54).
Die Beschreibung erwähnt in den vorangehenden Zeilen ebenfalls folgende Ursachen der zu vermeidenden ungünstigen Erscheinungen: daß "der die Verwirbelungs- und Verwehungseffekte verursachende Sog und die Luftturbulenzen beseitigt bzw. unschädlich gemacht werden soll."
Solche Hinweise auf die aerodynamische Situation des Fahrzeugs sind dem spezifischen Stand der Technik, insbesondere der gattungsbildenden Druckschrift (6) fremd. In den Druckschriften (7) und (8) wird die Streugeometrie durch spezifische mechanische und gebläsetechnische Vorrichtungen direkt bestimmt. Es scheint daher zweifelhaft, ob der Streufahrzeug-Fachmann die aerodynamischen Verhältnisse hinter dem Streufahrzeug als solche als verfügbaren Parameter bei der Formulierung der Aufgabe betrachtet hätte - oder ob er sie, wie in (7) und (8), als unveränderliche Gegebenheit hingenommen hätte, deren Wirkungen er in Abwandlung der üblichen mechanischen Mittel (z. B. Prallblech) begegnen würde.
Da auch in der Formulierung der Aufgabe eine Vorwegnahme der Erfindung durch einen Hinweis auf die Lösung nicht zulässig ist, kann daher als objektive Aufgabe nur die oben genannte Zielsetzung gelten - das Erkennen einer die Lösung bestimmenden (auswählenden) Ursache ist darin noch nicht vorausgesetzt.
4.2. Bei der entscheidenden Konstruktion des beanspruchten Streufahrzeugs handelt es sich um eine besonders angeordnete spezielle Fahrtwindleitfläche, die derart ausgebildet ist, daß der Fahrtwind auf den Streufächer gelenkt wird, so daß er auf den Bereich hinter dem Streuteller zielt. Es ist plausibel, daß durch diese gezielte Lenkung des Fahrtwindes eine günstigere Streufächergeometrie erreicht werden kann.
Die Kammer erachtet daher, wie schon die Einspruchsabteilung, als gegeben, daß der Anspruchsgegenstand ein gezielteres, sparsameres, und Umweltschäden verminderndes Ausstreuen des Streuguts ermöglicht. Die Aufgabe wird damit gelöst.
5. Ausführbarkeit
Die Ausführbarkeit läßt sich somit nicht grundsätzlich in Frage stellen. Es mag dahingestellt bleiben, ob auf Anhieb eine optimale Beeinflussung erreicht wird, oder erst nach Versuchen. Dazu reicht normales fachmännisches Vorgehen unter Anwendung der in Beschreibung und Zeichnung gegebenen Informationen aus. Da immerhin mit den Entgegenhaltungen (1) bis (4) entsprechende Vorgänge - wenn auch beschränkt auf die Beeinflussung von Turbulenzen zur Verminderung der Verunreinigung - vorliegen, ist damit eine generelle Beeinflussung der Wirbelbildung als nachgewiesen anzusehen. Es kann auch nicht bezweifelt werden, daß die Flugbahn der Körner infolge der vertikal wirkenden Komponente des Fahrtwindes verkürzt wird. Die beanspruchte Vorrichtung und Wirkungsweise ist daher physikalisch, also technisch ausführbar.
6. Erfinderische Tätigkeit
6.1. Die Druckschrift (6), auf welche sich der erste Teil des Anspruchs 1 bezieht, enthält in erster Linie Vorschläge zur Steuerung der Dosierung flüssiger und trockener Streustoffe. Dazu ist ein elektromagnetisches Wechselgetriebe vorgesehen. Hinweise auf den Streuvorgang selbst oder auf die Luftströmungsverhältnisse sind keine vorhanden.
Die Entgegenhaltungen (1) bis (5) beziehen sich nicht auf Streufahrzeuge, sondern auf Vorrichtungen für Kraftfahrzeuge, die der Verschmutzung entgegenwirken sollen, oder auch zur Reduktion des Luftwiderstandes. Dabei handelt es sich bei (1) und (2) um die Heckwand kastenförmiger Fahrzeuge, bei (3) um die Heckwand-Scheibe, insbesondere von Personenkraftwagen, bei (4) um eine Luftleitvorrichtung, insbesondere für Kombiwagen, und bei (5) um eine Vorrichtung zur Verminderung des Luftwiderstands.
In keiner dieser Entgegenhaltungen findet sich ein Hinweis auf einen Zusammenhang mit dem spezifischen Gebiet von Fahrzeugen, auf welche im Winter zur Verhütung der Fahrbahn-Vereisung Streuvorrichtungen aufgebaut werden.
6.2. a) Mangels spezifischer Hinweise in diesen Druckschriften ist daher zu fragen, welche Anregungen der Fachmann von sich aus insbesondere in den Informationen der Druckschrift (2) finden mußte. Dabei ist in Erinnerung zu rufen, daß die technische Situation, von welcher er anspruchsgemäß ausgeht, erheblich von jener abweicht, die in (2) vorausgesetzt wird. In erster Linie bezieht er sich auf einen Lastkraftwagen, auf welchen ein spezifischer Aufbau aufgesetzt ist. Dieser spezifische Aufbau ist selber spezifisch gegliedert: Es ist ein voluminöser Streugutbehälter aufgesetzt, an welchem eine Vorrichtung angebracht ist, die in einem Streuteller endet.
Es ist daher sehr zweifelhaft, ob der Fachmann nur schon infolge dieser grundlegend verschiedenen technischen Gegebenheiten überhaupt am Gebrauchsmuster (2) interessiert sein muß. Denn aus der Sicht des relevanten Fachmanns wird in (2) eine sehr einfache Situations-Geometrie vorausgesetzt, nämlich ein kastenförmiges Fahrzeug mit einer dem Rechteck sehr nahekommenden, einfachen Form, die keineswegs unmittelbar vergleichbar ist mit der Situations- Geometrie, von der der Fachmann tatsächlich ausgeht, also von einem System aus Lastkraftwagen, Aufbauten und Anbauten, das von einer einfachen Rechteckform weit entfernt ist.
b) Würde jedoch der Fachmann trotzdem diese von seiner konkreten technischen Situation weit entfernte Druckschrift (2) zu bewerten haben, so würde er die Figuren 2 und 3 näher in Betracht ziehen, welche die grundsätzliche Wirkungsweise der hier vorgeschlagenen Vorrichtung zwar skizzenhaft, aber dennoch mit aller Deutlichkeit erläutern. Der relevante Fachmann, der sich hier einen Streugutteller an gegebener Lage hineinzudenken versucht, kann nicht umhin, festzustellen, daß in der in Frage kommenden Zone die resultierenden Windkräfte vorwiegend horizontal nach hinten und im nach hinten anschließenden Bereich von unten schräg nach oben weisen. Eine solche Situation würde sich aber zum vornherein ausgesprochen schlecht auf den Streufächer auswirken und würde das angestrebte Ziel der Konzentration des Streugutes verunmöglichen.
Da somit unter den gegenüber Dokument (6) sehr einfachen, idealen Bedingungen in (2) der gesuchte Effekt weder dargestellt noch erreichbar ist, sondern dessen Gegenteil, hat der Fachmann keine Veranlassung, die hier angedeuteten Möglichkeiten weiter zu verfolgen, denn er hat Bedingungen zu berücksichtigen, die von den idealen Voraussetzungen in (2) weitgehend abweichen.
Der Fachmann müßte daher zur Interpretation gelangen, daß eine derartige Lösung überhaupt nicht in Frage komme. Dieser Sachverhalt wird im allgemeinen hinreichend mit der Feststellung erklärt, daß das entgegengehaltene Dokument - selbst wenn es vom Fachmann überhaupt näher in Betracht gezogen worden wäre, was fraglich bleibt - von der Erfindung weg weise.
c) Ein näherer Hinweis über den Aussagegehalt von Zeichnungen scheint im gegebenen Fall erforderlich. Es wäre selbstverständlich unzulässig, aus den in Dokument (2) vorliegenden Skizzen genaue Zahlenwerte über Lage und Winkel der Strömung herauszumessen, denn es handelt sich um keine maßstäbliche Darstellung. Die Skizze zeigt aber grundsätzlich (also nicht mathematisch-geometrisch genau) das Wesentliche der Vorgänge: Figur 1 zeigt den Stand der Technik: mit von unten nach oben führenden Bahnlinien, die in Fahrtrichtung auf der Rückwand auftreffen. Figur 2 zeigt eine erste Ausbildung: von unten aufsteigende Bahnlinien werden in schwacher Neigung nach hinten geführt. Die von oben nach unten geführten Bahnlinien werden im Bereich, in welchem sie auf die unteren Bahnlinien auftreffen, nach hinten geführt, Tendenz: aufsteigend. Es muß angenommen werden, daß im Bereich eines allfälligen Streutellers und des Streufächers steigende und nach hinten wirkende Windkräfte auftreten. Das Streugut würde davon nur ungünstig beeinflußt und weiter getragen als ohne Fahrtwindleitvorrichtung. Diese Interpretation geht nicht darüber hinaus, was der Fachmann versteht, wenn er denn den Sinn der genannten Zeichnungen versteht.
6.3. Die weiter genannten Entgegenhaltungen (1), (3), (4) und (5) zeigen zwar Fahrtwindleitvorrichtungen, jedoch ebenfalls ohne erkennbaren Zusammenhang mit der gegebenen technischen Ausgangssituation und ebenfalls unter vergleichsweise einfachen, idealen Voraussetzungen.
Im Einspruchsverfahren sind keine Streufahrzeuge geltend gemacht worden, die einen Zusammenhang zwischen Streugeometrie und Luftströmung erkennen lassen könnten. Es sind daher auch keine Hinweise geltend gemacht worden, die zur Idee der "konstruktiven Nutzung" des Fahrtwindes zur Verbesserung der räumlichen Streugeometrie hätten führen können.
6.4. Im Recherchenbericht werden noch zwei weitere Entgegenhaltungen genannt:
(7) DE-A-2 452 793 (Maschine zum pneumatischen Ausbringen von gekörntem Material), und
(8) DE-A-1 289 077 (Streuvorrichtung).
Nach der Druckschrift (7) soll eine gleichmässige Verteilung des Materials, insbesondere von Dünger, auf den Boden erzielt werden, wozu die Größen der Einlaßöffnung und Auslaßöffnung von Mundstücken wesentlich kleiner sein sollen, als die Ausstromöffnungen der Rohrleitungen. Es wird ein besonderer Luftstrom für die Rohrleitungen erzeugt.
Die Druckschrift (8) beschreibt eine Streuvorrichtung, die erlauben soll, sowohl hartes Streugut, wie Sand und Splitt, ohne Beschädigung des Gebläserades als auch Salz ohne Zerkleinerung der Salzkörner durch das Gebläserad zu verstreuen. Durch eine besondere Vorrichtung wird das Material durch den Streuteller zunächst in den Auswurfkanal geschleudert und dann erst, getragen vom Luftstrom eines Gebläses, ausgeblasen.
6.5. Zu den oben unter VIII. a) aufgeführten Argumenten der Beschwerdeführerin ist festzustellen: Auch wenn von der Annahme ausgegangen wird, daß als primäres Problem die Sauberhaltung der Rückwand des Streufahrzeugs zu lösen gewesen sei - die Definition des Anspruchs 1 ergibt sich dem Fachmann gleichwohl nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik. Ohne Vorkenntnisse über die Erfindung hätte Dokument (2) zunächst nur gelehrt, daß das Auftreffen der Schmutzpartikel auf der Rückwand des Fahrzeugs verhindert werden müsse. Die Schmutzpartikel werden von einer Luftströmung erfaßt, die nun im wesentlichen nach hinten weist (Figuren 2 und 3; vgl. oben unter 6. b) und c)), und nicht mehr nach vorn (gemäß Figur 1).
Wie unter 6.2 b) näher ausgeführt, müßte jedoch der Fachmann feststellen, daß die in Dokument (2) vorgeschlagene Beeinflussung der Luftströmung die Streugeometrie verschlechtern würde, so daß er davon abgehalten wäre, eine solche Lösung zur Sauberhaltung der Rückwand weiter zu verfolgen.
Die in Dokument (2) vermittelte Lehre hätte somit in keiner Weise Veranlassung dazu gegeben, zwecks Sauberhaltung der Rückwand die kennzeichnenden Merkmale des angefochtenen Anspruchs 1 vorzuschlagen.
Auf der anderen Seite enthält die Lehre jenes Standes der Technik, der sich tatsächlich mit der Flugbahn der Streugutpartikel befaßt, also Dokumente (7) und (8), keinerlei Hinweise auf Nutzungsmöglichkeiten des Fahrtwindes (vgl. oben unter 4.1 und 6.4).
Ungeachtet der Annahme, welche der beiden Aufgabenstellungen als primär oder als sekundär betrachtet wird -ohne unzulässige Vorwegnahme der Erfindung liegt mithin für den Fachmann kein naheliegender Grund vor, den mit Anspruch 1 gegebenen Gegenstand zu definieren.
6.6. Somit ergibt der entgegengehaltene Stand der Technik keine Hinweise, aus denen der Gegenstand des Patents für den Fachmann in naheliegender Weise hervorgeht. Er ist somit nach Artikel 52 (1) EPÜ patentfähig.
7. Der oben unter Ziffer X. aufgeführte Antrag betreffend die Vorlage zweier Rechtsfragen vor die Große Beschwerdekammer setzen voraus, daß es eine erste naheliegende Lösung zur Reinigung der Rückwand des Streufahrzeugs gegeben habe. Da diese Prämisse, wie dargelegt, im vorliegenden Fall nicht gegeben ist, und da sich die beiden Fragen selbst zu beantworten scheinen, falls tatsächlich eine solche Prämisse als gegeben anzusehen wäre, fehlt nach Ansicht der Kammer ein ausreichender Grund für die Weiterleitung dieser Fragen an die Große Beschwerdekammer. Die Kammer ist daher der Auffassung, daß es hier weder um die Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung noch um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung geht. Das Vorliegen einer dieser beiden Gründe bildet nach Artikel 112 (1) EPÜ jedoch die Voraussetzung einer Vorlage.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen
2. Der Antrag, die Große Beschwerdekammer mit den von der Beschwerdeführerin vorgelegten Rechtsfragen zu befassen, wird abgelehnt.