T 0726/93 (Textilmaschinen) 01-07-1994
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I. Am 19. August 1989 reichte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Erteilung eines europäischen Patents ein für ein "Verfahren zur Beheizung in Textilmaschinen" unter Inanspruchnahme der Priorität der schweizerischen Patentanmeldung Nr. CH-03 204/88-4 vom 29. August 1988.
II. In der Liste der diesem Antrag (EPA-Form 1001.1 bis 1001.5) beigefügten Unterlagen waren aufgeführt:
Beschreibung: Stückzahl: 3; Blattzahl: 9;
Patentansprüche: Stückzahl: 3; Blattzahl: 3;
Zeichnungen:Stückzahl: 3; Blattzahl: 2; Gesamtzahl der Abbildungen: 3;
Zusammenfassung: Stückzahl: 3; Blattzahl: 1;
Prioritätsbeleg: Stückzahl: 1.
III. Die beigefügte Erfindernennung gibt als Titel der Erfindung "Verfahren zur Beheizung in Textilmaschinen" an, und der ebenfalls beigefügte, für die schweizerische Patentanmeldung Nr. 03 204/88-4 erstellte "Standard- Recherchenbericht" vom 20. Dezember 1988 nennt zwei Dokumente, welche diese Erfindung betreffen.
IV. Der beigefügte Prioritätsbeleg war die obengenannte schweizerische Patentanmeldung Nr. 03 204/88-4 für ein "Verfahren zur Beheizung in Textilmaschinen".
V. Die Unterlagen "Beschreibung, Patentansprüche und Zusammenfassung" betrafen jedoch "ein Streckwerk für ein flyerloses Spinnverfahren". Die Blattzahl der Beschreibung war 8; die Blattzahl der Ansprüche war 2. Die Zeichnungen (2 Blatt; 3 Figuren) entsprachen nicht der Beschreibung, sondern den Zeichnungen des Prioritätsbelegs.
VI. Mit Schriftsatz vom 7. Dezember 1989 beantragte der Beschwerdeführer eine Berichtigung nach Regel 88 EPÜ in dem Sinne, daß die eingereichten Beschreibung, die Ansprüche und Zusammenfassung durch einen Text ersetzt werden, der mit der Prioritätsanmeldung genau übereinstimmt.
VII. Die Eingangsstelle wies den Beschwerdeführer darauf hin, daß über seinen Berichtigungsantrag erst von der Prüfungsabteilung während des Prüfungsverfahrens eine Entscheidung getroffen werde. Die Eingangsstelle verwendete für die Veröffentlichung der Anmeldung bzw. die Recherche die ursprünglich eingereichten Unterlagen. Auf der Titelseite der Veröffentlichung wurde auf den Antrag gemäß Regel 88 hingewiesen.
VIII. Der Berichtigungsantrag des Beschwerdeführers und die Patentanmeldung sind durch Entscheidung vom 11. Dezember 1992, zur Post gegeben am 12. März 1993, zurückgewiesen worden. Die Begründung der Entscheidung war im wesentlichen, "eine Unterlassung, wie das Fehlen einer ganzen Unterlage, sei keine Unrichtigkeit im Sinne von Regel 88 EPÜ, die berichtigt werden kann". Diese Auslegung entspreche auch den Interessen von Dritten. Darüber hinaus dürfe eine Berichtigung nach Regel 88 EPÜ nicht zu einem vollständigen Austausch der Erfindung gegen eine andere Erfindung führen.
IX. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein, unter Bezahlung der entsprechenden Beschwerdegebühr. In seiner Beschwerdebegründung trug der Beschwerdeführer im wesentlichen folgendes vor:
Regel 88 EPÜ lege fest, daß Unrichtigkeiten in den eingereichten Unterlagen berichtigt werden können. Eine solche Unrichtigkeit könne wie im vorliegenden Fall das Einreichen einer Beschreibung und von Ansprüchen darstellen, die offensichtlich der Absicht des Anmelders nicht entsprechen können. Es lägen jedoch gleichzeitig eine Beschreibung und Ansprüche vor, die der Absicht des Anmelders entsprechen, nämlich im Prioritätsbeleg.
X. Der Beschwerdeführer beantragte:
1. die angefochtene Entscheidung aufzuheben und eine Berichtigung gemäß Regel 88 EPÜ in der Form zu gewähren, daß die Beschreibung und die Patentansprüche des Prioritätsbelegs für die vorliegende Anmeldung maßgebend sind;
2. hilfsweise, daß das mit der Anmeldung eingereichte Prioritätsdokument als europäische Anmeldung gelten soll.
Regel 88 EPÜ legt folgendes fest: "Sprachliche Fehler, Schreibfehler und Unrichtigkeiten in den beim Europäischen Patentamt eingereichten Unterlagen können auf Antrag berichtigt werden. Betrifft jedoch der Antrag auf Berichtigung die Beschreibung, die Patentansprüche oder die Zeichnungen, so muß die Berichtigung derart offensichtlich sein, daß sofort erkennbar ist, daß nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wird."
2. Im vorliegenden Fall ist es unstrittig, daß es in den eingereichten Unterlagen eine Unrichtigkeit gibt. Die Auslegung der Prüfungsabteilung, daß die Regel 88 EPÜ nur die Berichtigung von Fehlern in einer Unterlage und nicht das Ersetzen einer ganzen Unterlage erlaube, findet keine Stütze im EPÜ. Regel 88 EPÜ legt als allgemeines Prinzip fest, daß Unrichtigkeiten in den beim Patentamt eingereichten Dokumenten berichtigt werden können. Ob die Unrichtigkeiten nur einen Teil oder die Gesamtheit einer Unterlage betreffen, spielt keine Rolle.
3. Da die Unrichtigkeit sofort erkennbar ist, bleibt nur zu entscheiden, ob auch sofort erkennbar war, daß der Beschwerdeführer nichts anderes beabsichtigt haben konnte, als eine Beschreibung und Ansprüche einzureichen, die der Beschreibung und den Ansprüchen des Prioritätsbelegs entsprechen.
4. Die Große Beschwerdekammer hat in ihrer Stellungnahme G 3/89 (ABl. EPA 1993, 117) die Regel 88 EPÜ so ausgelegt:
"Eine Berichtigung der die Offenbarung betreffenden Teile einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents (der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen) nach Regel 88 Satz 2 EPÜ darf nur in Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - unmittelbar und eindeutig entnehmen kann. Eine solche Berichtigung hat rein feststellenden Charakter und verstößt daher nicht gegen das Erweiterungsverbot nach Artikel 123 (2) EPÜ."
5. In Punkt 7 der Begründung dieser Stellungnahme wird ausgeführt: "Andere Unterlagen als die Beschreibung, Patentansprüche und Zeichnungen können infolge des Erweiterungsverbots nach Artikel 123 (2) EPÜ nur insoweit herangezogen werden, als sie geeignet sind, das am Anmeldetag bestehende allgemeine Fachwissen zu belegen. Dagegen dürfen Unterlagen, die dieser Anforderung nicht genügen, selbst dann nicht zu einer Berichtigung nach Regel 88 Satz 2 EPÜ herangezogen werden, wenn sie zusammen mit der europäischen Patentanmeldung eingereicht worden sind. Zu letzteren gehören insbesondere auch Prioritätsdokumente, die Zusammenfassung und dergleichen."
6. Diese Stellungnahme ist daher so zu verstehen, daß die Berichtigung eines Fehlers innerhalb der Beschreibung, der Zeichnungen oder der Ansprüche einer Patentanmeldung sofort vom Fachmann, auf der Basis des gesamten Inhalts dieser Unterlagen, eventuell mit Hilfe seines Fachwissens, erkennbar sein soll. Nur in solchen Fällen könnte eine solche Berichtigung ohne Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ erlaubt werden. Andere Unterlagen, wie der Prioritätsbeleg, die kein Teil der Patentanmeldung sind, können nicht herangezogen werden, um die vorgeschlagene Korrektur zu rechtfertigen.
7. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch nicht um eine Berichtigung eines technischen Merkmals innerhalb der Beschreibung, der Zeichnungen oder der Ansprüche, sondern um den Ersatz der gesamten eingereichten Beschreibung und Ansprüche. In einem derartigen Fall ist es offensichtlich, daß eine Auslegung des Inhalts der Patentanmeldung nicht erforderlich ist und daß das Heranziehen des Durchschnittsfachmanns belanglos wäre. Der vorliegende Fall betrifft somit eine Situation, die anders ist als die, die in der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer behandelt wurde. Die Auslegung des Übereinkommens, die in dieser Stellungnahme gegeben wurde, findet daher keine Anwendung im vorliegenden Fall.
8. Die vorliegende Situation ist in Wirklichkeit vergleichbar mit dem Fall einer irrtümlich fehlenden Benennung eines Vertragsstaates, die gemäß der ständigen Rechtsprechung der Juristischen Kammer (J 4/80, ABl. EPA 1980, 351; J 8/80, ABl. EPA 1980, 293; J 12/80; ABl. EPA 1981, 143; J 3/81; ABl. EPA 1982, 100 usw.) berichtigt werden kann, auch wenn die Unrichtigkeit nicht offensichtlich ist, wobei jedoch hohe Anforderungen an die Beweislast gestellt werden. Eine solche Berichtigung kann nicht gegen die Bestimmungen des Artikels 123 (2) EPÜ verstoßen, weil sie keine Änderung des technischen Inhalts der Anmeldung darstellt, sondern die gesamte Anmeldung wieder in den vom Anmelder von Anfang an gewollten ursprünglichen Zustand versetzt.
9. Um so mehr muß eine Unrichtigkeit in den eingereichten Unterlagen, die in der irrtümlichen, offensichtlich nicht dem Antrag auf Erteilung des Patents entsprechenden Einreichung von die Offenbarung betreffenden Bestandteilen der Patentanmeldung (d. h. Beschreibung, Satz von Patentansprüchen oder Satz von Zeichnungen) besteht, durch den Ersatz dieser irrtümlich eingereichten Bestandteile durch die mit dem Antrag auf Erteilung des Patents tatsächlich beabsichtigten Bestandteile ohne Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ dann berichtigt werden können, wenn am Anmeldetag sofort erkennbar ist, daß eine Unrichtigkeit besteht, worin sie besteht, und umfassend bewiesen ist, was der Anmelder tatsächlich einzureichen beabsichtigte.
10. Nach der Überzeugung der Kammer ist im vorliegenden Fall bei Betrachtung der gesamten Unterlagen der Patentanmeldung sofort erkennbar, daß nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wurde. Mit anderen Worten, die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, daß es offensichtlich ist, daß der Beschwerdeführer eine Patentanmeldung einreichen wollte, die der schweizerischen Patentanmeldung Nr. 03 204/88-4 entspricht, deren Priorität beansprucht wurde. Dies läßt sich aus dem Antrag auf Erteilung eines europäischen Patents zweifellos herleiten. Wie in den Punkten II bis IV oben angegeben ist, betreffen alle Angaben des Antrages (z. B. der Titel, der Prioritätsantrag, die Zahl der Seiten usw.) wie auch die Erfindernennung, die Standardrecherche und der gleichzeitig eingereichte Prioritätsbeleg denselben Gegenstand, d. h. die Erfindung gemäß der schweizerischen Patentanmeldung Nr. 03 204/88-4. Im diesem Fall war als Beweis der Absicht des Beschwerdeführers die Tatsache ausschlaggebend, daß der zusammen mit der Anmeldung eingereichte Prioritätsbeleg mit den anderen Angaben des Antrages übereinstimmte.
11. Dem Berichtigungsantrag des Beschwerdeführers ist somit stattzugeben.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Prüfungsabteilung mit der Anweisung zurückverwiesen, die Patentanmeldung auf der Grundlage der am 18. Dezember 1989 eingereichten Beschreibung und Ansprüche, die der Beschreibung und den Ansprüchen des Prioritätsbelegs entsprechen, weiterzubehandeln.