6.5.6 Feststellung des technischen Charakters
In T 1173/97 (ABl. 1999, 609) und T 935/97 stellte die Kammer fest, dass Computerprogramme dann als patentfähige Erfindungen anzusehen sind, wenn sie technischen Charakter aufweisen. Zum Zwecke der Auslegung des in Art. 52 (2) und (3) EPÜ 1973 verankerten Patentierungsverbots für Computerprogramme wird davon ausgegangen, dass Computerprogrammen nicht allein deshalb ein technischer Charakter zugesprochen werden kann, weil sie Computerprogramme sind. Dies bedeutet, dass die bei Ausführung von Programmbefehlen auftretenden physikalischen Veränderungen bei der Hardware (die beispielsweise elektrische Ströme fließen lassen) nicht per se den technischen Charakter ausmachen können, durch den das Patentierungsverbot für ein solches Programm gegenstandslos würde. Solche Veränderungen können zwar als etwas Technisches angesehen werden, sind aber ein gemeinsames Merkmal aller auf einem Computer lauffähigen Computerprogramme und eignen sich daher nicht zur Unterscheidung von Computerprogrammen mit technischem Charakter einerseits und Computerprogrammen als solchen andererseits. Daher muss anderswo nach einem technischen Charakter im vorstehend angesprochenen Sinne gesucht werden: Er könnte in den weiteren Effekten liegen, die mit der Ausführung der Programmbefehle (durch die Hardware) einhergehen. Jedes Computerprogrammprodukt ruft einen Effekt hervor, wenn das betreffende Programm auf einem Computer zum Einsatz kommt. Dieser Effekt manifestiert sich in der physischen Realität nur dann, wenn das Programm abläuft. Das Computerprogrammprodukt selbst zeigt den betreffenden Effekt mithin in der physischen Realität nicht direkt, sondern nur im Zuge des Programmablaufs und besitzt demnach nur das "Potential" zur Erzeugung dieses Effekts. Dieser Effekt kann auch technischer Art in dem unter Nummer 6 erläuterten Sinne sein und bildet dann den dort angesprochenen "weiteren technischen Effekt". Ein Computerprogrammprodukt kann also das Potential zur Erzeugung eines "weiteren" technischen Effekts besitzen.
Sofern sie einen technischen Effekt der beschriebenen Art bewirken können, müssen Computerprogramme als Erfindungen im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ 1973 angesehen werden und können dann auch patentiert werden, wenn die anderen Erfordernisse des EPÜ erfüllt sind.
G 1/19 betraf eine computerimplementierte Simulation der Bewegung einer Fußgängermenge durch eine Umgebung. Die Große Beschwerdekammer beantwortete die ihr vorgelegten Rechtsfragen wie folgt:
1. Für die Zwecke der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit kann eine computer-implementierte Simulation eines technischen Systems oder Verfahrens, die als solche beansprucht wird, durch Erzeugung einer technischen Wirkung, die über die Implementierung der Simulation auf einem Computer hinausgeht, eine technische Aufgabe lösen.
2. Für diese Beurteilung ist es keine hinreichende Bedingung, dass die Simulation ganz oder teilweise auf technische Prinzipien gestützt wird, die dem simulierten System oder Verfahren zugrunde liegen.
3. Die erste und zweite Frage sind auch dann nicht anders zu beantworten, wenn die computerimplementierte Simulation als Teil eines Entwurfsverfahrens beansprucht wird, insbesondere für die Überprüfung eines Entwurfs.
Die Große Beschwerdekammer stimmte mit den Feststellungen in T 1227/05 und T 625/11 überein, wenn sie so verstanden werden, dass die beanspruchten Simulationsverfahren in diesen konkreten Fällen eine dem Wesen nach technische Funktion besitzen. Bei der Betrachtung potenzieller oder lediglich berechneter technischer Wirkungen allerdings gelten nach dem COMVIK-Ansatz (T 641/00) eher strikte Beschränkungen. Wie alle anderen computerimplementierten Erfindungen auch, können numerische Simulationen patentierbar sein, wenn die erfinderische Tätigkeit auf Merkmale gestützt werden kann, die zum technischen Charakter des beanspruchten Simulationsverfahrens beitragen. Die Kammer in T 761/20 befand, dass die Begründung von G 1/19, obwohl diese sich auf computerimplementierte Simulationen bezieht, auch auf andere computerimplementierte Verfahren als Simulationen anwendbar ist.
Die Große Beschwerdekammer hatte in G 1/19 die Auffassung vertreten, dass bei der Anwendung des COMVIK-Ansatzes auf Simulationen die zugrunde liegenden Modelle Grenzen vorgeben, die technischer oder nichttechnischer Art sein können. Was die Simulation selbst angeht, sind diese Grenzen nichttechnisch. Sie können aber zur Technizität beitragen, wenn sie z. B. Anlass zur Anpassung des Computers oder seiner Funktionsweise geben oder die Grundlage für eine weitere technische Verwendung der Ergebnisse der Simulation bilden (z. B. für eine Verwendung mit Auswirkungen auf die physische Realität). Um zu vermeiden, dass für nicht patentierbare Gegenstände Patentschutz gewährt wird, muss diese weitere Verwendung zumindest implizit im Anspruch angegeben sein. Dasselbe gilt für etwaige Anpassungen des Computers oder seiner Funktionsweise.