8. Die Fachperson
8.2. Angrenzende technische Fachgebiete (benachbarte Fachgebiete)
In zwei grundlegenden Entscheidungen – T 176/84 (ABl. 1986, 50) und T 195/84 (ABl. 1986, 121) – wurde die Frage des einschlägigen technischen Gebiets, d. h., inwieweit über das mehr oder weniger enge Fachgebiet hinaus auch Nachbargebiete in die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit miteinbezogen werden müssen, ausführlich dargestellt. In T 176/84 wurde dargelegt, dass bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit außer dem Stand der Technik auf dem Gebiet, auf dem die Anmeldung liegt, ggf. auch der Stand der Technik auf Nachbargebieten und/oder auf einem übergeordneten allgemeinen technischen Gebiet heranzuziehen ist, d.h. einem Gebiet, auf dem die gleichen oder ähnlichen Probleme wie auf dem Spezialgebiet, auf dem die Anmeldung in diesem Fall liegt, eine Rolle spielen und von dem erwartet werden muß, dass die Fachperson des betreffenden Spezialgebiets von seinem Vorhandensein weiss. In T 195/84 wurde ergänzt, dass auch der Stand der Technik heranzuziehen sei, der sich auf nichtspezifischen (allgemeinen) Gebieten mit der Lösung allgemeiner technischer Aufgaben befasst, die die Anmeldung auf ihrem speziellen Gebiet lösen will. Die Lösungen dieser allgemeinen technischen Aufgaben auf nichtspezifischen (allgemeinen) Gebieten seien als Teil des technischen Allgemeinwissens anzusehen, das bei Spezialisten vorauszusetzen sei. In zahlreichen Entscheidungen wurden diese Grundsätze angewendet.
In T 560/89 (ABl. 1992, 725) wurde die Auffassung vertreten, eine Fachperson ziehe auch den Stand der Technik auf anderen Gebieten zu Rate, die weder ein benachbartes noch ein breiteres allgemeines Feld darstellten, falls sie dazu durch die Verwandtschaft der verwendeten Materialien und durch eine Diskussion in der breiten Öffentlichkeit über das sich auf beiden Gebieten stellende technische Problem veranlasst werde. Im Anschluss an die letztere Entscheidung wurde in T 955/90 ausgeführt, es gehöre zu einer praxisnahen Einschätzung, dass die auf einem breiteren allgemeinen Gebiet tätige Fachperson auch das engere Spezialgebiet der bekannten Hauptanwendung der allgemeinen Technologie heranziehe, um eine Lösung für eine Aufgabe zu finden, die außerhalb der speziellen Anwendung dieser Technologie liege (T 379/96).
In T 454/87 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Fachperson auf einem bestimmten technischen Gebiet (hier: Probenzuführgeräte für Gaschromatografen) im Rahmen seiner normalen praktischen Tätigkeit auch die Entwicklung von Geräten beobachtet, die auf einem Nachbargebiet – wie der Absorptions-Spektralanalyse – eingesetzt werden.
In T 891/91 befand die Kammer, dass die Fachperson auf dem Gebiet der Augenlinsen, der sich vor das technische Problem der Haftung und Abriebfestigkeit eines Überzugs auf einer Linsenfläche gestellt sehe, auch den Stand der Technik auf dem ihr bekannten allgemeineren Gebiet beschichteter Kunststofffolien heranzöge, auf dem in Bezug auf Haftung und Abriebfestigkeit der Beschichtung dieselben Probleme aufträten.
Bei der Frage, ob es sich beim technischen Gebiet des Standes der Technik um ein Nachbargebiet zum Gebiet der Anmeldung im Sinne von T 176/84 handelte, ging es nach Ansicht der Kammer in T 1910/11 nicht primär darum, ob die zugehörigen Implementierungsparameter identisch waren, sondern vielmehr um die Ähnlichkeit der entsprechenden Aufgabenstellungen, der Rand-bedingungen und der funktionellen Konzepte dieser technischen Gebiete. Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass die technischen Felder der Kfz-Technik und der Flugzeugtechnik traditionell als benachbarte Gebiete anzusehen sind, da sie ähnliche Aufgabenstellungen (wie z. B. Störsicherheit, Robustheit, Zuverlässigkeit), Randbedingungen (wie z. B. Mobilität) und funktionelle Konzepte (wie z. B. die physikalische/logische Trennung der Übertragungssysteme für Sicherheits- und Unterhaltungsdaten im Vehikel) aufweisen.
In T 767/89 entschied die Beschwerdekammer, dass in Bezug auf Teppiche das Gebiet der Perücken weder als benachbartes noch als breiteres allgemeines Feld betrachtet werden könne, zu dem das spezielle Gebiet gehöre. Daher hätte die Fachperson auch unter dem Gesichtspunkt der verwandten technischen Gebiete keine Veranlassung, Lösungen aus dem Gebiet der Perücken in Betracht zu ziehen. Bei beiden Erfindungen seien unterschiedliche Probleme zu lösen, insbesondere hinsichtlich der nicht vergleichbaren Anforderungen, die beim Gebrauch auftreten.
In T 675/92 stellte die Kammer fest, dass aufgrund unterschiedlicher Sicherheitsrisiken von einer Fachperson nicht erwartet werden kann, dass sie auf dem Gebiet der Schüttgutverpackung Anregungen für die Konstruktion eines Verschlusses eines Geldtransportmittels sucht.
Ausführungen zur Begriffsbestimmung zum einschlägigen Fachgebiet sind u. a. in folgenden Entscheidungen enthalten: T 277/90 (Gusstechnik im Dentalbereich und Zahnersatz sind benachbarte technische Gebiete), T 358/90 (die Aufgabe der Entleerung des Inhalts einer tragbaren Toilette führt die Fachperson auf diesem Gebiet nicht zu dem Gebiet der Spezialbehälter, die zum Füllen der Tanks von Kettensägen dienen), T 1037/92 (Fachperson für die Herstellung von Sicherungseinsätzen für programmierbare ROMs hätte auch die Dokumentation auf dem Gebiet ultraminiaturisierter integrierter Schaltungen konsultiert), T 838/95 (unmittelbare Verwandtschaft zwischen dem Gebiet der Pharmazie und dem Gebiet der Kosmetik), T 26/98 (das Gebiet der elektrochemischen Generatoren ist kein Nachbargebiet der Iontophorese, beide Gebiete basieren zwar auf elektrochemischen Prozessen; deren Zweck und Verwendung sind aber völlig verschieden und müssen daher unterschiedliche Erfordernisse erfüllen), T 1202/02 (die beiden technischen Fachgebiete der Herstellung von Mineralfasern einerseits und der Herstellung von Glasfasern andererseits sind trotz bestehender Unterschiede hinsichtlich der Materialeigenschaften der jeweiligen Ausgangsmaterialien eng benachbart), T 47/91 (Gießrollen und Gießräder, mit denen fortlaufend Metallschmelze gegossen wird, sind benachbarte technische Gebiete).
In T 244/91 befand die Kammer, dass die Fachperson auf dem Gebiet der Wärmetauscher die Publikation D3 über "Dichtungen für Plattenwärmetauscher" berücksichtigen oder zumindest eine Fachperson auf dem nicht spezifischen Gebiet der Dichtungen konsultieren würde, von dem zu erwarten ist, dass sie mit dieser Standardliteratur vertraut ist.
In T 1154/16 entschied die Kammer, dass die Offenbarungen von D9 und D19 zwar keinem Nachbargebiet der Schuhpressenbänder für die Papierherstellung zuzuordnen waren, wohl aber einem breiteren generellen Fachgebiet, das sich mit der allgemeinen Nutzung von Polyurethanen in dynamischen mechanischen Vorrichtungen befasst, die ähnliche Aufgaben wie die im vorliegenden Fall lösen. Daher hätte die Fachperson die Offenbarung der beiden Dokumente in Betracht gezogen.
In T 1979/18 stimmte die Kammer zwar zu, dass sich die Agrartechnik (je nach konkreter Anwendung) mit verschiedensten anderen Disziplinen verbinden kann, z. B. dem Bauwesen, der chemischen Verfahrenstechnik, dem Maschinenbau, Biosystemen oder der Umwelttechnik, doch bedeute dies nicht, dass deswegen auch die Fachperson mit all diesen Bereichen vertraut ist.
In T 28/87 (ABl. 1989, 383) stellte die Kammer Folgendes fest: Wird in der Beschreibungseinleitung einer Anmeldung oder eines Patents auf einen objektiv nicht als einschlägiges Sachgebiet einzustufenden Stand der Technik hingewiesen, so kann letzterer bei der Prüfung auf Patentfähigkeit nur wegen dieses subjektiven Hinweises nicht zum Nachteil des Anmelders oder des Patentinhabers als benachbartes Gebiet gewertet werden.
In T 1731/20 befand die Kammer, dass Kraftfahrzeugmotoren in Bezug auf Nahrungsmittelmaschinen kein benachbartes technisches Gebiet beträfen, da Nahrungsmittelmaschinen unbestritten von elektrischen oder pneumatischen Motoren angetrieben würden, während es sich bei Fahrzeugmotoren um Verbrennungsmotoren handele. Ferner sei ein einziges Fachbuch im engen Fachgebiet der Fahrzeugelektronik nicht dazu geeignet, als Beleg dafür zu dienen, dass die Reduzierung der Variantenvielfalt von Verbrennungsmotoren durch Nutzung desselben Motors mit unterschiedlichen Datensätzen eine allgemeine Lösung einer allgemeinen technischen Aufgabe darstelle. Die Kammer fügte hinzu, dass eine Fachperson, die in ihrem Alltag ein bestimmtes Gerät wie ein Kraftfahrzeug verwendet, dadurch nicht über umfassende Kenntnisse in diesem Bereich verfügte. Ihre Kenntnisse seien die eines Durchschnittbenutzers von Kraftfahrzeugen: sie sei somit mit der allgemeinen Wirkungsweise und dem Aufbau vertraut, nicht aber mit Herstellungs- oder Vermarktungsaspekten wie der Variantenbildung der darin verwendeten Verbrennungsmotoren. Die Kammer unterschied daher den vorliegenden Fall von den Entscheidungen T 560/89, T 176/84 und T 195/84.
In T 1787/20 war die Kammer nicht davon überzeugt, dass es sich bei dem einschlägigen Gebiet um das Gebiet der Kartuschen handelt. Ein solches, alle möglichen Kartuschen umfassendes technisches Gebiet gebe es nicht, da Kartuschen für die unterschiedlichsten Anwendungen hergestellt würden, beispielsweise Munitionskartuschen, Tonerkartuschen, Gaskartuschen mit brennbarem Gas. Mit diesen beispielhaften Anwendungen von Kartuschen gingen unterschiedliche Größen, Materialien und Anforderungen einher. Nach Ansicht der Kammer gab es im vorliegenden Fall für die Fachperson keinen Hinweis darauf, die Lösung auf einem anderen technischen Gebiet als dem der wasserführenden Haushaltsgeräte zu suchen. Mithin war die Fachperson auf diesem Gebiet anzusiedeln. S. auch parallele Verfahren T 1797/20.
- T 1632/22
In T 1632/22, In ex parte case T 1632/22, the application related to liveness detection in relation to authentication, e.g. when unlocking a phone based on a face image. The application proposed to categorise the images as a function of their "quality" and to use different liveness detectors for each quality type. The examining division concluded there was a lack of inventive step over D1 (face authentication).
With an amendment in substance to define the quality parameter used to define the quality type, the new feature of claim 1 was not disclosed in D1. The board saw only two differences between claim 1 and D1 which might support the presence of an inventive step, namely that the claimed method was used for liveness detection and that it considered also quality parameters other than those disclosed for the "specialized classifiers" of D1. For the appellant, D1 did not qualify as the closest prior art as it was concerned with authentication rather than with liveness detection.
In the board’s view, the novelty requirement provides that no patent can be granted for anything that is already known. The inventive step requirement raises the bar to a patent by also excluding matter which is obvious over what is known. That which is obvious to the skilled person cannot depend on anything that the skilled person does not know yet. In particular, what is obvious at the filing date of a patent application cannot depend on the content of that patent application. Conversely, an argument that a skilled person having regard to some piece of prior art will find something to be obvious cannot be rebutted on the basis of what the application says. In particular, the application cannot be invoked to limit the prior art under consideration or the expertise of the skilled person (their "art") on the basis of the stated "field of the invention". That essentially any piece of prior art can be considered in an inventive step analysis has been stated several times in the case law. The definite articles in the phrase "the person skilled in the art" in Art. 56 EPC are not meant to limit the relevant "arts". Any successful rebuttal of an inventive step objection must address the obviousness argument directly, without reference to the application.
It is a matter of efficiency when assessing inventive step to consider only persons skilled in arts related to the claimed invention, and, consequently, only prior art which such a person may have regard to. The board considered that a person skilled in some art may well have regard to prior art from a field which is not, in a narrow sense, their "own field". It is reasonable to assume, for instance, that persons skilled in one field will typically keep themselves informed about developments in related fields, and in this sense have regard to prior art in related fields. The board disagreed with T 646/22 and held that in principle, all problems which the skilled person would have addressed (or been asked to address) based on the prior art alone are valid ones. In the present case, the board assumed a person skilled in liveness detection methods. Such a person was, generally, interested in improving, or finding alternatives to, known liveness detection methods, based on the knowledge that known methods have known pitfalls. Liveness detection for authentication and authentication were closely related technical areas. The board noted that it was typical to try adapting developments in neighbouring fields to the own area of interest. It was certainly common practice in image processing, in particular when the images were of the same type. Thus, in the board's judgement, the person skilled in the art in liveness detection would have regard to D1 and would have reason to adapt its solution to liveness detection in a way leading to the invention according to claim 1 of the main request before the examining division. The current requests differed from that request ("quality parameter").
Finally, the board noted that during examination a relatively large number of documents were cited, some of them concerned with liveness detection, but were not discussed in the decision. A positive decision on inventive step could not be issued before at least these documents have been discussed (Remittal).