9.2. Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz bei Mischerfindungen
9.2.9 Die fiktive Geschäftsperson
In T 1463/11 führte die Kammer die fiktive Geschäftsperson ein. Bei der Formulierung der objektiven technischen Aufgabe in Form nichttechnischer Anforderungen stellt sich die Frage, welche Vorgaben (beispielweise) die Geschäftsperson der Fachperson tatsächlich machen kann. Naturgemäß können darunter auch rein geschäftliche Belange fallen. Allerdings ist für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit die Geschäftsperson genauso fiktiv wie die Fachperson gemäß Art. 56 EPÜ. Die fiktive Geschäftsperson würde somit möglicherweise Dinge nicht tun, die eine realer Geschäftsperson tun würde. Er würde kein Internet benötigen. Mit diesem Ansatz wird sichergestellt, dass gemäß dem Comvik-Grundsatz alle technischen Gegenstände, einschließlich bekannter oder sogar notorisch bekannter Gegenstände, auf Naheliegen geprüft werden und zur erfinderischen Tätigkeit beitragen können.
In T 144/11 folgte die Kammer T 1463/11 und befand, dass die Fachperson eine vollständige Beschreibung der Geschäftsanforderung erhalten muss, ansonsten kann sie diese nicht implementieren, und sie sollte keinen Beitrag auf nichttechnischem Gebiet leisten.
In T 1082/13 befand die Kammer, dass die fiktive Geschäftsperson gemäß der Interpretation im Rahmen von T 641/00 umfassend über die geschäftsbezogene Anforderungsspezifikation informiert ist und weiß, dass solche geschäftsbezogenen Konzepte in einem Computersystem implementiert werden können. Die Wahl des Orts, an dem eine Berechnung in einem verteilten System erfolgt, ist nicht unbedingt technisch, sondern kann auch durch administrative Überlegungen motiviert sein. Die fiktive Geschäftsperson weiß allerdings nicht, wie dies in einem Computersystem genau umgesetzt werden kann. Dies gehört in die Sphäre des technischen Experten und ist im Rahmen der erfinderischen Tätigkeit zu prüfen. In Bezug auf Vorurteile ist sorgfältig zu analysieren, ob wirklich ein technisches oder vielmehr ein geschäftliches Vorurteil vorliegt.
In T 1408/18 stellte die Kammer Folgendes fest: Eine Geschäftsperson, der ein Produkt anbieten möchte, welches die Durchführung einer Transaktion mit nur einem Endgerät ermöglicht, würde vorgeben, dass diese erst nach einer Autorisierung durch den Benutzer ausgeführt wird und dass es außerdem – dem Trend der Zeit entsprechend – wünschenswert wäre, wenn der Benutzer alle erforderlichen Eingaben auf seinem Smartphone vornehmen könnte. Demgegenüber fällt die Verwendung eines TAN-basierten Verfahrens einschließlich der Frage, wie eine sichere Übertragung der TAN ermöglicht werden kann, in die Sphäre der technischen Fachperson. Denn ausgehend von einer traditionellen PINbasierten Passwortauthentifizierung bildet die Verwendung einer TAN, d. h. eines Einmalpasswortes, eine zweite Sicherheitsebene. Die damit verbundene Interaktion von zwei Applikationen und Kommunikationskanälen zum Erhalten und Bereitstellen einer TAN führt zu einer Zwei-Faktor-Authentisierung, die eine erhöhte Sicherheit gewährleistet. Damit liegen dem TAN-Verfahren unabhängig von seiner konkreten Anwendung technische Überlegungen zugrunde, die über das hinausgehen, was von einer Geschäftsperson an technischem Verständnis erwartet werden kann.
In T 2455/13 schloss sich die Kammer der vorstehenden Begründung in T 1082/13 an und fügte hinzu, dass wenn Merkmale lediglich auf einer abstrakten Meta-Ebene als Module spezifiziert sind und Funktionen repräsentieren, wie sie der "nicht-technische Fachmann" in seinem Konzept zugrunde legen würde, so gibt dieser damit auch keine technischen Merkmale vor. Erst durch die Angabe von tatsächlichen Implementierungsschritten im Anspruch werden diese Module zu technischen Merkmalen qualifiziert.
In T 926/20 versuchte der Beschwerdeführer, seine Erfindung, bei der es um die Nutzung ortsabhängiger Dienste für die Zuweisung von Aufgaben an Nutzer wie z. B. Reinigungskräfte ging, von der Situation in T 1082/13 abzugrenzen, wo der Faktor Zeit als nichttechnische "Timeout"-Bedingung verwendet wurde. Er vertrat die Auffassung, dass die Zeit in seiner Erfindung nicht nur ein administrativer Parameter sei, sondern auch eine technische Wirkung habe, die in den Dokumenten des Stands der Technik nicht zu finden sei. Die Kammer befand, dass der Begriff "Zeit" im fraglichen Anspruch in seiner gewöhnlichen Bedeutung der Organisation von Aufgaben auf der Grundlage der Nutzerverfügbarkeit verwendet wurde. Dies sei anhand eines Zeitplans umsetzbar und daher als administrative Funktion anzusehen.
In T 737/14 befand die Kammer, dass die richtige Anwendung von T 641/00 eine gründliche Analyse der geschäftlichen Zwänge bei der Formulierung der zu lösenden Aufgabe erfordert, bevor untersucht wird, was die Fachperson zur Lösung der Aufgabe getan hätte.
In T 817/16 erklärte die Kammer, ein sinnvoller Test zur Bestimmung, ob solche technischen Überlegungen vorliegen, bestehe in der Frage, ob die nichttechnischen Merkmale eher von einer technischen Person als von einer oder mehreren nichttechnischen Personen formuliert worden wären (T 1214/09, T 1321/11, T 1463/11, T 136/13). Dies sei keine Frage nach dem tatsächlichen Stand des technischen oder nichttechnischen Wissens am wirksamen Anmeldetag; die Frage sei vielmehr, ob das Wissen, das erforderlich sei, um auf die nichttechnischen Merkmale in dem konkreten Fall zu kommen, nur eine technische Person besitzen könne, d. h. eine Person, die nicht ausschließlich in unter Art. 52 (2) EPÜ fallenden Bereichen arbeite.
In T 1902/13 befand die Kammer, dass ein Unternehmensberater, der die Kompetenz einer Organisation beurteilen will, bestimmte Regeln und Fragen erarbeiten würde, die für eine andere Organisation wiederverwendet werden könnten. Die Automatisierung von Teilen dieses Prozesses macht diesen nicht technisch. Die Kammer war nicht der Ansicht, dass sich der Unternehmensberater und der qualifizierte Programmierer zusammensetzen müssten, um zu einer praktikablen Lösung zu gelangen. Vielmehr würde dem Programmierer das zugrunde liegende administrative Konzept als Anforderungsspezifikation vorgelegt.
In T 1749/14 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die fiktive Geschäftsperson zwar auf den abstrakten Gedanken kommen könnte, die Angabe von PIN und Kontoinformationen durch den Kunden zu vermeiden, die Erfindung aber eine neue Infrastruktur, neue Geräte und ein neues Protokoll erfordere, die auf technischen Überlegungen zu modifizierten Geräten und deren Funktionen beruhten, sowie sicherheitsrelevante Änderungen bei der Übertragung vertraulicher Informationen unter Ausnutzung neuer Möglichkeiten, die durch Modifikationen der bisher bekannten mobilen POS-Infrastruktur erreicht werden. Dies übersteigt die Kenntnisse der fiktiven Geschäftsperson und betrifft Einzelheiten der technischen Umsetzung, die über eine einfache 1:1-Programmierung einer abstrakten Geschäftsidee hinausgehen. Es gehört in die Sphäre des technischen Experten und ist im Rahmen der erfinderischen Tätigkeit zu prüfen (s. T 1082/13).
In T 698/19 schlug die Erfindung ein System zur automatischen Auszahlung von Versicherungsprämien vor. Das System umfasste einen Netzcomputer für die Berechnung der Wahrscheinlichkeit einer Risikoexposition, den Empfang und die Speicherung von Zahlungen, die Unterteilung eines Risikos in einen parametrisierbaren und einen nicht parametrisierbaren Teil und den Transfer von Zahlungen aus beiden Risikopools an die Versicherungsnehmer im Schadensfall. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass es sich bei der Zahlung an sich zweifellos um einen technischen Vorgang handelte, der jedoch durch einen Geschäftsplan motiviert war bzw. (bei Gegenüberstellung von "fiktiver Geschäftsperson" und "technischer Fachperson") von der fiktiven Geschäftsperson in Auftrag gegeben und von der Fachperson auf einfache Weise ausgearbeitet wurde. Die fiktive Geschäftsperson benötige – im Gegensatz zur realen Geschäftsperson – keine technischen Fähigkeiten oder Kenntnisse darüber, wie ein Algorithmus in ein Computersystem implementiert werden kann.
In T 524/19 bestand eine Aufgabe der Erfindung in der Bereitstellung eines automatisierten Systems zum Verhindern einer drohenden Betriebseinstellung einer Flugzeugflotte aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln nach Risikoereignissen und zum Ermöglichen eines systematischen und automatisierten Risikomanagements. Die Erfindung schlug vor, auf der Grundlage vorgegebener Geschäftsregeln die automatische Zahlung eines finanziellen Ausgleichs an die betroffenen Geschäftseinheiten (Fluggesellschaften und ihre Flotten) zu ermitteln. Diese Aufgabe wurde durch die Überwachung relevanter Flughafendaten, die Definition kritischer Schwellenwerte und die Automatisierung der Deckungszahlungen im Falle von Flughafenschließungen gelöst. Aus Sicht der Kammer bestand die primäre technische Wirkung des Merkmals (T) in der Erkennung einer Naturkatastrophe; folglich lasse sich nicht behaupten, dass die technische Wirkung dadurch "geschmälert" wurde, dass sie im Endeffekt ausschließlich der Auszahlung einer Versicherungsprämie diente. Generell könne die primäre technische Wirkung eines nichttechnischen Merkmals nicht dadurch geschmälert werden, dass es im Endeffekt ausschließlich einem nichttechnischen oder geschäftlichen Zweck dient. Damit würde der fiktiven Geschäftsperson Fachwissen zugeschrieben. Wenn nichttechnische Merkmale sowohl eine technische als auch eine nichttechnische Wirkung haben, müsse die technische Wirkung bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden (T 698/19). Siehe auch T 1439/21.
In T 2626/18 hatte der Beschwerdeführer argumentiert, dass die Anspruchsmerkmale, die sich auf das abstrakte Geschäftskonzept bezogen, von der Geschäftsperson nicht der Fachperson zur Programmierung hätten vorgelegt werden können. Auch hätte die Fachperson – ausgehend von einem standardmäßigen vernetzten Computersystem – nicht über das entsprechende Wissen verfügt. Daher sei ein imaginärer Dritter in Betracht zu ziehen, der das Konzept der in einem Computersystem umzusetzenden Erfindung entwickelt habe. Die Kammer stellte fest, dass bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auf dem Gebiet computerimplementierter geschäftsbezogener Erfindungen nach dem COMVIK-Ansatz und der entsprechenden Rechtsprechung kein Raum für einen solchen dritten Sachverständigen besteht. Bei der Analyse der Anspruchsmerkmale und der Beantwortung der Frage, ob sie einen technischen Beitrag leisten, sei jedes der Merkmale entweder als Beitrag der technischen Fachperson oder der nichttechnischen Geschäftsperson zu werten, um festzustellen, ob ein erfinderischer technischer Beitrag vorliegt oder nicht.
In T 1026/17 vertrat die Kammer die Auffassung, dass es zur nichttechnischen Anforderungsspezifikation gehört, Schlüssel (seien es analoge oder elektronische Schlüssel) von nicht vertrauenswürdigen Personen fernzuhalten. Dafür bedürfe es keiner technischen Überlegungen einer technischen Fachperson. Aus Sicht der Kammer handelte es sich dabei um administrative Überlegungen, die in die Sphäre einer Geschäftperson fallen, die an einem sicheren Ausschreibungsverfahren interessiert ist. Individuelle Schlüssel zu verwenden, sie möglichst lange zurückzuhalten und so spät wie möglich zu übergeben, sei nicht als technische Innovation, sondern als logische Entscheidung der Bieter anzusehen.
In T 909/14 erklärte die Kammer, dass nach T 1463/11 (CardinalCommerce) bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit die Umstände, unter denen Erfindungen in der realen Welt entwickelt werden, bis zu einem gewissen Grad außer Acht gelassen werden müssen. Die fiktive Geschäftsperson kann Geschäftsanforderungen formulieren, würde in diese jedoch keine technischen Gegenstände einbeziehen. Bei der fiktiven Geschäftsperson handelt es sich um eine Rechtsfiktion, die ein Hilfskonstrukt zur Differenzierung geschäftlicher und fachlicher Überlegung darstellt. Die Zuhilfenahme dieser Rechtsfiktion ist aus Sicht der Kammer in T 1463/11 der Preis einer objektiven Bewertung; der reale Erfinder stellt solche Überlegungen nicht getrennt voneinander an. Nach dem in T 1463/11 etablierten Ansatz wird zur Beurteilung der Technizität eines Merkmals geprüft, ob die fiktive Geschäftsperson zu dieser Idee hätte gelangen können. Letztlich geht es darum festzustellen, ob es wenigstens eine Möglichkeit gegeben hätte, das Merkmal ohne technische Überlegungen zu entwickeln. Falls ja, hat es keinen technischen Charakter und kann Teil der Anforderungsspezifikation sein, unabhängig davon, welche alternativen Wege zu diesem Ergebnis in der Anmeldung offenbart wurden oder denkbar waren. Dies ist zwar bedauerlich für einen Anmelder, der tatsächlich auf dem technischen Weg zu dem Merkmal gelangt ist, gilt jedoch nicht nur für den Ausschluss geschäftsbezogener Merkmale. Ein weiteres Beispiel wären, wie in G 1/19 angemerkt, Verfahren zur Behandlung des menschlichen Körpers mit sowohl nicht therapeutischen als auch therapeutischen Wirkungen, bei denen Letztere unter den Patentierbarkeitsausschluss nach Art. 53 c) EPÜ fallen (siehe z. B. T 1635/09, ABl. EPA 2011, 542). Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass die Bereitstellung einer für einige Benutzer eingeschränkten Funktionalität, wie z. B. die Nichtermöglichung der Erstellung von Dokumenten, eine geschäftliche Entscheidung ist, die nicht auf technischen Erwägungen beruhen muss.
In T 1117/19 stellte die Kammer fest, dass die Verbesserung der Nutzerzufriedenheit z. B. bei einer TV-Live-Übertragung im Allgemeinen eine nicht-technische, administrative Aufgabe ist, für die üblicherweise ein TV-Stationsmanager als Fachperson zuständig ist.
In T 288/19 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Geschäftsperson den Rahmen der mit ihrem Geschäftsmodell zu lösenden Aufgabe vorgibt und so – durch die Festlegung bestimmter Randbedingungen – den Freiraum des qualifizierten Computerspezialisten einschränkt. Die mit der objektiven technischen Aufgabe betraute Fachperson habe daher bei der Wahl der entsprechenden (physikalischen) Parameter keinen Spielraum.
- T 1439/21
In T 1439/21 the application related to an automated elderly insurance scheme. The board emphasised that for deciding whether a feature is technical or not for assessing inventive step under the EPC, it is not relevant which person makes the contribution in real life. In real life, a person skilled in financial mathematics will have some notions of technical aspects, and the computer expert working for an insurance company will have some notions of business aspects of insurance schemes.
Instead, it is relevant whether the feature provides a technical effect and thus contributes to the solution of a technical problem or not or, in other words, whether it falls into the realm of the fictitious business person or the fictitious technically skilled person.
The board also noted that the use of technical terminology did not confer technical character. The terms "components", "measurement parameters" or "triggers" may sound technical. Similarly, the "dynamic monitoring" of these parameters or triggers by means of "measurement systems" conveys the impression that physical parameters are measured by technical devices.
In the context of the application, however, these terms do not represent any technical features. For instance, the "risk exposure components" are, in the context of the application, insured persons. In a similar manner, the "measurement systems" are not technical measuring devices. Instead, they may simply be hospital entities reporting patient data to the insurer.
Thus, the terms used in the application that in a technical context would have had a technical meaning instead have, in the insurance context of the application, a non-technical meaning. Therefore, the "technical" terminology used in the application for some aspects of the insurance scheme does not lend any technical character to the respective features in substance. Instead, it only creates a misleading appearance or perception of technical character.
As a result, the board could not see any interaction between the features defining the dynamic insurance scheme and the networked computer system used to automate it. However, an interaction between these features such that a technical problem is solved would have been required in order to acknowledge a contribution to technical character by non-technical features (G 1/19).
It follows from the above that the networked computer system is the only technical feature of claim 1.