9.2. Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz bei Mischerfindungen
9.2.10 Computerprogramme
Zum technischen Charakter von Computerprogrammen siehe auch Kapitel I.A.6.5 "Computerimplementierte Erfindungen".
Rein konzeptionelle Aspekte der Planung und Entwicklung von Software tragen nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern normalerweise nicht zur erfinderischen Tätigkeit bei (T 983/10; s. z. B. T 49/99, T 1171/06 und T 354/07).
In T 1173/97 (ABl. 1999, 609) stellte die Kammer fest: Ein Computerprogrammprodukt fällt nicht unter das Patentierungsverbot nach Art. 52 (2) und (3) EPÜ 1973, wenn es beim Ablauf auf einem Computer einen weiteren technischen Effekt bewirkt, der über die "normale" physikalische Wechselwirkung zwischen dem Programm (Software) und dem Computer (Hardware) hinausgeht (s. Nr. 9.4 der Gründe).
In T 2825/19 befand die Kammer, dass die Stellungnahme G 3/08 vom 12. Mai 2010 date: 2010-05-12 die Auslegung der Technizität in Bezug auf Computerprogramme im Vergleich zur Entscheidung T 1173/97 neu ausrichtete. In G 3/08 date: 2010-05-12 (Nrn. 13.5 und 13.5.1 der Gründe) wurde die Haltung ausdrücklich zurückgewiesen, dass technische Überlegungen genügten, um einem beanspruchten Gegenstand technischen Charakter zu verleihen. Eine solche engere Auslegung des Begriffs "technisch" in Bezug auf Computerprogramme ist eine normale Entwicklung für die Auslegung einer auslegungsoffenen Rechtsvorschrift (s. Stellungnahme G 3/19), und dies ist der Fall bei Computerprogrammen "als solchen" in Art. 52 (2) c) und (3) EPÜ. Die Kammer sah keine Stütze für die Ansicht des Beschwerdeführers, dass das Konzept der "weiteren technischen Überlegungen" in einem breiteren Sinn auszulegen sei, der auch Überlegungen zur Lösung von Aufgaben abdecken würde, die "bloß" die Programmierung beträfen, wie etwa die Wartungsfähigkeit, Wiederverwendbarkeit und Verständlichkeit des Programmcodes oder, wie in diesem Fall, die Verwendung einer universellen Vorlage für die Übersetzung von natürlicher Sprache in ausführbare Ausdrücke in externen Betriebsumgebungen. Eine solche breitere Auffassung von "weiteren technischen Überlegungen" erschien problematisch angesichts des Gebots, Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der Rechtsprechung durch einheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten (s. Stellungnahme G 3/08 date: 2010-05-12, Nr. 7.2.3 der Gründe), weil keine Kriterien erkennbar waren, auf deren Grundlage klar zwischen "technischen" und "nichttechnischen" Aspekten von Computerprogrammen unterschieden werden könnte.
In T 1370/11 stellte die Kammer fest, dass die verbesserte Geschwindigkeit eines Computerprogramms für sich genommen kein technischer Beitrag zum Stand der Technik sei (s. auch T 42/10). Hierfür muss ein computerimplementiertes Verfahren oder ein Computerprogramm nachweislich eine "weitere" technische Wirkung haben und unabhängig von seiner absoluten oder relativen Rechenzeit eine technische Aufgabe lösen. Nur dann und nur, wenn die angebliche Beschleunigung Einfluss auf eine nachgewiesene technische Wirkung hat, kann argumentiert werden, dass die Beschleunigung zur technischen Wirkung und damit zur erfinderischen Tätigkeit beiträgt (T 641/00).
In T 354/07 stellte die Kammer fest, dass konzeptionellen Verfahren und Meta-Methoden der Softwareerstellung in der Regel keine für die Patentierbarkeit relevanten technischen Merkmale aufweisen und daher die erfinderische Tätigkeit nicht begründen können, es sei denn, dass im Einzelfall ein direkter Kausalzusammenhang mit einem für die Lösung eines technischen Problems relevanten technischen Effekt nachgewiesen werden kann. Softwareentwicklung und -erstellung erfolgt in mehreren Phasen, beginnend bei der Anforderungsanalyse über diverse Entwurfsphasen bis hin zu der Implementierung der Software. In all diesen Phasen ist sie dem Wesen nach eine gedankliche Tätigkeit, vergleichbar mit der Konstruktionstätigkeit eines Ingenieurs, auch wenn zu ihrer Unterstützung Programmierwerkzeuge zum Einsatz kommen und Gegenstand der Konstruktion ein technisches System ist. Die Konzipierung und Programmierung insbesondere komplexer Systeme erfordern zwar ingenieurmäßiges Handeln und die Anwendung technischer Fachkenntnisse, der unmittelbar angestrebte und erzielte Erfolg in jeder dieser Entwicklungsphasen ist jedoch nicht die technische Lösung eines technischen Problems, sondern eine Anforderungsspezifikation, ein Daten-, Prozess- und/ oder Funktionsmodell, oder ein Programmcode. Erst recht gilt diese Beurteilung für Meta-Methoden, die auf einem noch abstrakteren Niveau den Prozess der Softwareerstellung selbst zum Gegenstand haben, indem sie beispielsweise dem Softwareentwickler eine Handlungsanleitung geben, wie der Entwurfsprozess strukturiert und organisiert oder welche Modellierungsmethoden angewendet werden sollen.
In T 1539/09 richtete sich die Erfindung auf eine grafische Programmiersprache und umgebung, die es einem Anwender ermöglichen sollte, ohne großen Lernaufwand oder besondere Expertise Programmcode zu erzeugen. Die Wirkung, den mentalen Aufwand des Anwenders bei der Programmerstellung zu reduzieren, war an sich nach Ansicht der Kammer keine technische. Das galt umso mehr, als sie für alle Programme gleichermaßen angestrebt wurde, also unabhängig davon, welchem Zweck das entwickelte Programm dienen sollte (s. T 741/11). Die Kammer stellte fest, dass die Tätigkeit des Programmierens – im Sinne des Formulierens von Programmcode – ein mentaler Vorgang ist, wenigstens soweit sie nicht im Rahmen einer konkreten Anwendung oder Umgebung in kausaler Weise der Erzielung einer technischen Wirkung dient. Die Definition und Bereitstellung einer Programmiersprache trägt daher per se nicht zur Lösung eines technischen Problems bei, selbst wenn die Wahl der programmiersprachlichen Ausdrucksmittel dazu dient, den mentalen Aufwand des Programmierers zu reduzieren (s. auch T 2270/10).
In T 790/14 vertrat die Kammer die Auffassung, dass Programmiersprachenkonstrukte noch abstrakter als Programme sind und als solche von der Patentierung ausgeschlossen sind. Darüber hinaus sei Programmieren eine gedankliche Tätigkeit, und das wesentliche Ziel von Programmiersprachenkonstrukten bestehe darin, die Arbeit eines Programmierers, die selbst keinen technischen Charakter habe, zu ermöglichen und zu erleichtern (siehe T 423/11 und T 1539/09). In T 1105/17 wies die Kammer darauf hin, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe z. B. T 1539/09 und T 790/14) der Entwurf oder die Bereitstellung von Programmiersprachenkonstrukten per se nicht zur Lösung einer technischen Aufgabe und daher nicht zum Vorliegen erfinderischer Tätigkeit beitragen können. Die Kammer in T 1105/17 befand, dass das Schreiben eines weniger ausführlichen Quellcodes dem Programmierer zwar durchaus einige Mühen und den mechanischen Aufwand der Eingabe dieses Codes in einen Computer ersparen kann, dass dies jedoch keine technische Aufgabe darstellt. Die Erfindung hatte keine Auswirkungen auf den letztlich ausgeführten kompilierten Code.
In T 42/10 und T 1281/10 definierte Anspruch 1 ein Verfahren, das abhängig vom Ausgang von Spielen Angaben zur Geschicklichkeit der Spieler berechnete, indem Nachrichten zwischen den Knoten eines Faktorgraphen übermittelt wurden. Die Kammer hatte darüber zu befinden, inwieweit die Merkmale des Anspruchs technischen Charakter hatten und so zur erfinderischen Tätigkeit beitragen konnten. Die Kammer verwies auf die Entscheidung des Court of Appeal of England and Wales in der Sache Gale's Application [1991] RPC 305. Der Ansatz der Kammer zur Beurteilung der Frage, was bei einem computerimplementierten Verfahren technisch ist und was nicht, bestand im vorliegenden Fall darin, dieselben Fragen zu stellen wie Lord Justice Nicholls in Gale's Application. So lautete die erste Frage: Was bewirkt das Verfahren als Ganzes, und erzielt es ein technisches Gesamtergebnis? Die zweite Frage lautete: Falls es kein technisches Gesamtergebnis gibt, hat das Verfahren dann zumindest eine technische Wirkung innerhalb des Computers? Wenn beide Fragen verneint werden, wurde keine technische Aufgabe gelöst, und eine erfinderische Tätigkeit liegt nicht vor. Der Standpunkt der Kammer in Bezug auf die Technizität lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das übergeordnete Ziel, das Interesse der Spieler aufrechtzuerhalten, hat keinen technischen Charakter. Das Zwischenziel, die Spielleistung zu beurteilen und zu vergleichen, hat keinen technischen Charakter. Die Darstellung der Leistung anhand von Wahrscheinlichkeitsverteilungen und deren Aktualisierung sind mathematische Verfahren. Die Verwendung von Faktorgraphen mit Übermittlung von Nachrichten fällt in die Mathematik oder in die abstrakte Informatik. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass das einzige in diesem Anspruch definierte technische Merkmal der Prozessor (des Computers) war. Der Gegenstand von Anspruch 1 beruhte somit nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, wenn es für die Fachperson, die das Verfahren umsetzen sollte, naheliegend gewesen wäre, einen Computerprozessor zu verwenden.
In T 1630/11 wurde ein Verfahren zur Simulierung eines Mehrprozessorsystems in einer elektronischen Vorrichtung für nicht erfinderisch befunden. Der Beschwerdeführer hatte argumentiert, die Erfindung befähige die Nutzer zur effizienten Modellierung und Simulierung eines Mehrprozessorsystems. Die Kammer befand, dass Anspruch 1 großteils Darstellungen einer grafischen Programmierungsumgebung betrifft, zu denen in T 1539/09 (Nr. 5 der Gründe) festgestellt wurde, dass sie nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen (s. auch T 2270/10, Nr. 7 der Gründe). Die Kammer folgte ihrer früheren Rechtsprechung, derzufolge Änderungen an einer Programmiersprache oder an einem System, die eine einfachere und damit wohl auch schnellere und präzisere Programmentwicklung ermöglichen, keinen technischen Beitrag zum Stand der Technik leisten.
In T 2147/16 erklärte die Kammer, dass die bloße Annahme, wonach ein Algorithmus für die Computer-Hardware optimiert ist und einen technischen Beitrag leisten könnte, nicht ausreichend ist. Die Ausführung eines Algorithmus in einem Verfahren zum Filtern von Spam-Nachrichten muss eine nachgewiesene weitere technische Wirkung oder spezifische technische Überlegungen aufweisen; diese weitere technische Wirkung muss spezifisch und ausreichend in der Offenbarung der Erfindung dokumentiert sein und sich im Wortlaut der Ansprüche widerspiegeln; der Algorithmus muss einem technischen Zweck dienen.
In T 761/20 vertrat die Kammer die Auffassung, dass G 1/19 sich zwar auf computerimplementierte Simulationen bezieht, ihre Entscheidungsgründe aber auch für andere computerimplementierte Verfahren als Simulationen gelten. Auch wenn die Große Beschwerdekammer in G 1/19 feststellte, dass eine unmittelbare Verbindung zur physischen Realität für das Vorliegen einer technischen Wirkung nicht erforderlich ist, bestätigte sie aus Sicht der Kammer, dass es durchaus einer zumindest mittelbaren Verbindung zur physischen Realität bedarf, sei es innerhalb oder außerhalb des Computers. Diese Verbindung könne durch die beabsichtigte Verwendung oder den Zweck der Erfindung ("bei ihrer Ausführung" oder wenn sie "wie beabsichtigt verwendet" wird) vermittelt werden.
In T 1959/20 erkannte die Kammer an, dass die Umsetzung nichttechnischer Anforderungen an ein technisches System des Stands der Technik Änderungen erfordern kann, die auf den ersten Blick nicht naheliegend erscheinen, da in Anbetracht des Stands der Technik an sich kein technischer Beweggrund dafür vorliegt. Da jedoch nach den Grundsätzen des Comvik-Ansatzes nichttechnische Merkmale nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen können, müssen die nichttechnischen Anforderungen als gegeben angesehen werden, und die Fachperson, die sie umsetzt, muss die notwendigen Änderungen gegenüber dem Stand der Technik vornehmen.