5.4. Ausführung der Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich
Die Entscheidungen T 2773/18, T 500/20 und T 1983/19 haben eine Diskussion darüber entfacht, inwieweit die genannten Grundsätze für den Bereich der Mechanik anwendbar sind. Diese drei Entscheidungen schreiben der Mechanik vor allem gegenüber der Chemie eine Besonderheit zu. Der nachfolgende Unterabschnitt betrachtet diese Herangehensweise in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ebenso wie die Diskussion dieses Ansatzes insbesondere in der Entscheidung T 149/21; Letztere wird später in mehreren Entscheidungen zitiert und aufgegriffen. Angesichts der relativ jungen Rechtsprechung geht die vorliegende Ausgabe auf die relevanten Gründe in den jeweiligen Entscheidungen im Detail ein.
In T 2773/18 (Mechanik) betraf das Patent eine Windturbine insbesondere für Meeresumgebungen mit einer Kühlvorrichtung, die die Außenluft nutzt. In Bezug auf unzureichende Offenbarung durch den Begriff "oberer Teil des Turms" brachte der Beschwerdeführer (Einsprechende) vor, dass weder der Anspruch auf eine Offshore-Windturbine beschränkt sei noch die Maße des unteren und des oberen Teils auf eine Mindestgröße oder -höhe beschränkt seien. Der Schutzumfang des Anspruchs 1 umfasse somit Ausführungsformen, bei denen der Einlass sehr niedrig über dem Meeresspiegel liege und somit die technische Wirkung, Außenluft mit einem niedrigen Wasser- und Salzgehalt anzuziehen, nicht erreichen könne. Dieses Vorbringen konnte die Kammer schon allein deshalb nicht überzeugen, weil damit die auf dem Gebiet der Chemie entwickelte Rechtsprechung in Bezug auf eine Erfindung, die in einem Bereich von Zusammensetzungen oder einem anderen Bereich von Werten beansprucht wird, ohne dass die damit verbundene Wirkung für einen großen Teil dieses Bereichs bewiesen oder plausibel ist, in unzulässiger Weise auf eine Erfindung auf dem Gebiet der Mechanik übertragen wird, obwohl hier keine Bereiche beansprucht werden. Ein Anspruch auf einem Gebiet der Mechanik, der – oft mit funktionellen oder anderen generischen Begriffen – versuche, das Wesen einer konkreten Maschine oder mechanischen Konstruktion (oder deren Betrieb) zu erfassen, ist naturgemäß schematisch und lässt einen gewissen Auslegungsspielraum zu. Bei einer geschickten Auslegung könnte möglicherweise innerhalb dieses Spielraums ein Gegenstand gefunden werden, der die Aufgabe nicht löst oder die gewünschte Wirkung nicht erzielt. Dies ist normalerweise keine Frage der unzureichenden Offenbarung, sondern der Anspruchsauslegung. Ob Ansprüche, Beschreibung und Abbildungen der Fachperson ausreichende Informationen für die Ausführung der Erfindung an die Hand geben, ist eine rein technische Frage, die unabhängig von Erwägungen ist, die bei vernünftiger Betrachtung in den Bereich der Anspruchsformulierung fallen. Kann die Fachperson unter Berücksichtigung der gesamten Offenbarung und möglicherweise des allgemeinen Fachwissens erschließen, was funktioniert und was nicht, ist eine beanspruchte Erfindung hinreichend offenbart, auch wenn eine breite Auslegung auch einen Gegenstand einschließen könnte, der nicht funktioniert. Im vorliegenden Fall wäre die Fachperson in der Lage, Ausführungsformen direkt zu erkennen und auszuschließen, die offenkundig die angestrebte Wirkung nicht erzielen würden. Insbesondere würde die Fachperson einen oberen Teil, der viel niedriger als 30 Meter über dem Meeresspiegel liegt, ausschließen. Die Kammer bestätigte somit die positive Beurteilung der ausreichenden Offenbarung durch die Einspruchsabteilung, Art. 100 b) EPÜ.
In T 500/20 (Windturbine) befand die Kammer (Mechanik), dass in der Mechanik die angeblich unzureichende Offenbarung der Erfindung über die gesamte Anspruchsbreite oft fälschlicherweise mit einem Ansatz verargumentiert wird, der vor allem für beanspruchte Erfindungen aus der Chemie entwickelt wurde, bei denen ein Bereich von Zusammensetzungen oder Parameterwerten einen zentralen Aspekt darstellt. Bei beanspruchten Erfindungen, in denen es nicht um einen Bereich von Parameterwerten oder Zusammensetzungen geht, sondern die auf eine anhand grundsätzlicher struktureller oder funktioneller Merkmale einer Vorrichtung bzw. eines Verfahrens definierte Lehre gerichtet sind, genügt nicht der Beweis, dass ein unter den Anspruch fallendes Beispiel nicht funktioniert, weil es die beanspruchte Wirkung nicht oder nicht vollständig erzielt, um der Erfindung die ausreichende Offenbarung über die gesamte Breite des Anspruchs abzusprechen (s. Schlagwort). Die Kammer präzisierte weiterhin, dass in Fällen wie diesem für den Nachweis der unzureichenden Offenbarung eine sehr hohe Beweislast anfällt.
In T 1983/19 befasste sich die Mechanik-Kammer mit der Frage der Ausführbarkeit der Erfindung "über den gesamten beanspruchten Bereich" auf dem Gebiet der Mechanik. Der Beschwerdeführer II (Einsprechender) hatte vorgetragen, dass die Fachperson nicht in der Lage sei, für alle vom Anspruch abgedeckten Varianten die geltend gemachte Wirkung zu erzielen. Dieser Vortrag überzeugte die Kammer nicht. Entscheidend sei, dass das Patent der Fachperson einen Weg aufzeigt, die Erfindung auszuführen. Die vor allem im Kontext der Chemie entwickelte Rechtsprechung, der zufolge die Erfindung über den gesamten beanspruchten Bereich ausführbar sein muss, sei nicht ohne Abstriche auf die Mechanik übertragbar. Zu fast jedem Anspruch der Mechanik ließen sich beliebig viele Ausführungsbeispiele erdenken, die nicht ausführbar sind. Dies führe aber nicht dazu, dass die Erfindung als solche nicht ausgeführt werden könne (siehe auch T 2773/18). Wenn zum Beispiel, wie vom Beschwerdeführer II eingeräumt, für jede Fachperson offensichtlich sei, dass aus keramischem Material oder harten Metallen bestehende Gleit-Gegenringe durch ein balgartiges Federmittel nicht verformt werden können, dann würde die Fachperson eben keine solchen Gleit- oder Gegenringe verwenden, um die Erfindung in die Tat umzusetzen. Das bedeute aber nicht, dass sie außerstande wäre, die Erfindung auszuführen. Somit stand nach Auffassung der Kammer der Einspruchsgrund gemäß Art. 100 b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt nicht entgegen.
Die bloße Tatsache, dass ein Anspruch weit gefasst ist, ist an sich noch kein Grund, die Erfindung nicht als ausreichend offenbart zu betrachten (T 447/22). Die Kammer in T 447/22 betonte, dass Einwände gegen die ausreichende Offenbarung, die die Ausführbarkeit der Erfindung über die gesamte Breite bzw. den gesamten Bereich der Ansprüche infrage stellen, aus der im Kontext der Chemie entwickelten Rechtsprechung für beanspruchte Erfindungen stammen, bei denen ein Bereich von Zusammensetzungen oder Parameterwerten einen zentralen Aspekt darstellt (s. T 2773/18, T 1983/19 und T 500/20). Auf dem Gebiet der Mechanik jedoch greifen derartige Einwände selten. Im vorliegenden Fall würde die Fachperson ohne Weiteres exotische, in der Praxis nicht gängige Ausführungsformen, etwa in einem sehr kleinen Winkel zueinander verlegte Rohre, ausschließen, selbst wenn diese theoretisch unter den beanspruchten Gegenstand fielen.
In T 149/21 (Elektrotechnik-Kammer) betraf die Erfindung ein Verfahren zur Reduzierung des Energieverbrauchs einer Walzwerkanlage. Der Einspruch (Art. 100 b) EPÜ) wurde zurückgewiesen. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer argumentierte der Beschwerdegegner (Patentinhaber), dass es nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern hinreichend sei, dass zumindest ein Weg zur Ausführung der Erfindung in der ursprünglichen Anmeldung aufgezeigt werde, um das Erfordernis von Art. 83 EPÜ zu erfüllen. Ob auch andere "exotische" Szenarien unter den Schutzgegenstand fielen, sei in diesem Zusammenhang unerheblich. Die Kammer stimmte zu, dass das Streitpatent wenigstens einen Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung im Einzelnen angebe und somit zumindest R. 42 (1) e) EPÜ erfülle. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern müsse jedoch die Ausführbarkeit der beanspruchten Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich gegeben sein. Demnach sei die Angabe wenigstens eines Weges zur Ausführung der beanspruchten Erfindung zwar notwendig, aber nicht hinreichend für die Erfüllung des Erfordernisses von Art. 83 EPÜ. Die Kammer betonte zudem, dass diese Rechtsprechung in der Regel auch nicht auf das jeweilige Fachgebiet beschränkt sei: dasselbe Kriterium sei nämlich – neben dem Bereich der Chemie – auch auf dem Gebiet der Elektrotechnik, Physik, und Mechanik mehrfach bestätigt und angewandt worden. Eine Qualifizierung dieser Rechtsprechung nach verschiedenen technischen Feldern wäre nach Auffassung der Kammer schon allein aufgrund des Gebots einer harmonisierten Anwendung des EPÜ in Bezug auf das Erfordernis der Ausführbarkeit auch schwer vermittelbar.
Die Kammer in T 149/21 wies jedoch auch darauf hin, dass in kürzlich ergangenen Entscheidungen aus dem Bereich der Mechanik (vgl. T 2773/18, T 500/20 und T 1983/19) die Ansicht vertreten wurde, dass das aus dem Bereich der Chemie stammende Kriterium "im gesamten beanspruchten Bereich" nicht unbedingt auf andere technische Gebiete wie die Mechanik anwendbar sei. Insbesondere sei in diesem Zusammenhang z. B. in T 1983/19 betont worden, dass die vor allem im Kontext der Chemie entwickelte Rechtsprechung, der zufolge die Erfindung "über den gesamten beanspruchten Bereich" ausführbar sein muss, nicht ohne Abstriche auf die Mechanik übertragbar sei, da sich zu fast jedem Anspruch der Mechanik beliebig viele Ausführungsbeispiele erdenken ließen, die nicht ausführbar wären. Dies führe aber nicht dazu, laut T 1983/19, dass die "Erfindung als solche" nicht ausgeführt werden könne. Vielmehr genüge es, dass das Patent der Fachperson lediglich einen Weg aufzeigt, die Erfindung auszuführen. Auch der Beschwerdegegner hatte sich im vorliegenden Fall dieses Argument zu Nutze gemacht. Die Kammer war jedoch der Auffassung, dass die Angabe eines Weges zur Ausführung der beanspruchten Erfindung zwar für das Erfüllen des Erfordernisses nach R. 42 (1) e) EPÜ hinreichend sein mag, aber nicht notwendigerweise für das Erfüllen von Art. 83 EPÜ. Vielmehr sollte gemäß der Rechtsprechung der in diesem Artikel genannte Fachmann über alle technischen Gebiete hinweg durch das Streitpatent und sein allgemeines Fachwissen in die Lage versetzt werden, die beanspruchte Erfindung über den gesamten Bereich auszuführen, d. h. nach allen technisch möglichen Auslegungsvarianten, die der fachkundige Leser nach objektiven Kriterien aufgrund seines allgemeinen Fachwissens heranziehen würde. Mit anderen Worten sollten nach Ansicht der Kammer bei der Prüfung nach Art. 83 EPÜ alle "technisch sinnvollen" Anspruchsauslegungen berücksichtigt werden, wobei nicht nur jene Anspruchsauslegungen als "technisch sinnvoll" gelten könnten, bei denen die Erfordernisse des EPÜ als erfüllt gelten. Das Erfordernis, dass die Offenbarung die Ausführung der beanspruchten Erfindung "in ihrem gesamten Bereich" ermöglichen muss, steht auch im Einklang mit dem grundlegenden rechtspolitischen Anliegen, dass prinzipiell das durch ein Patent verliehene Ausschließungsrecht bezüglich seines Schutzbereichs durch den tatsächlichen Beitrag des Patents zum Stand der Technik begründet sein sollte. Der Meinung der Kammer nach war der vorliegende Fall in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Die angefochtene Entscheidung wurde letztendlich aufgehoben und das Patent widerrufen.
In T 174/21 betraf die Erfindung ein Verfahren zur Abschätzung einer akustischen Übertragungsgröße durch ein Hörgerät und ein Hörgerät dafür. Unter Verweis auf T 2773/18 brachte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) Zweifel an, ob das Erfordernis der Ausführbarkeit "über den gesamten beanspruchten Bereich" auf das Gebiet der Audiologie anzuwenden ist. Die Kammer hingegen sah diese Zweifel als unbegründet an und verwies diesbezüglich auf die Schlussfolgerungen in T 149/21.
In T 748/19 (Videoüberwachung) war sich die Kammer der Diskussionen in neueren Entscheidungen bewusst und kam wie T 149/21 zu dem Schluss, dass das EPÜ keine Grundlage für die Anwendung unterschiedlicher Standards bei der Erfüllung der Erfordernisse von Art. 83 EPÜ je nach Fachgebiet liefert. Die Kammer berücksichtigte dabei auch T 1983/19.