5.4. Ausführung der Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich
Da die Beurteilung in der Rechtsprechung bereits aus anderen Abschnitten hervorgeht, liefert dieser Abschnitt weitere Beispiele der Rechtsprechung.
In T 1064/15 betraf die Erfindung Kombinationen aus Nadeln und Nahtmaterial mit Widerhaken, die sich zum Verbinden von Gewebe bei verschiedenen chirurgischen Eingriffen eignen. Die Erfordernisse von Anspruch 1 konnten für kreisförmige Querschnitte umgesetzt werden, doch stellte sich die Frage der ausreichenden Offenbarung im Zusammenhang mit nicht kreisförmigen Querschnitten. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) selbst wollte die Lehre des Patents sowohl auf kreisförmige als auch auf nicht kreisförmige Querschnitte anwenden und begehrte Schutz für beide Ausführungsformen. Da nur offenbart wurde, wie die Erfindung mit länglichen Grundkörpern mit kreisförmigem Querschnitt auszuführen ist, wäre es unzureichend und unverhältnismäßig, wenn dies den Erfordernissen der ausreichenden Offenbarung genügen würde. Das kann der Gesetzgeber nicht beabsichtigt haben, weil es nach Auffassung der Kammer gegen den allgemeinen Grundsatz verstößt, dass der Patentschutz der offenbarten Lehre entsprechen muss. Beim streitigen Patent war dies für nicht kreisförmige Querschnitte nicht der Fall. Auf der Grundlage der Offenbarung als Ganzem und des allgemeinen Fachwissens konnte die Fachperson für einen wesentlichen Teil des Anspruchs nicht feststellen, welche Abmessung mit dem Durchmesser (SD) gemeint war, d. h., bei einer Nadel mit einem bestimmten Durchmesser wusste sie nicht, welchen Durchmesser eines nicht kreisförmigen Nahtmaterials sie wählen sollte, um die Festigkeit der Naht zu verbessern, was einen wesentlichen Teil der Lehre des Streitpatents darstellte (T 1064/15, angeführt und zusammengefasst in T 1756/16).
Im Fall T 1128/22 berief sich der Beschwerdeführer (Einsprechende) zur Stützung seiner Argumentation gegen das Patent auf T 1064/15. Die Kammer urteilte, dass T 1064/15 nicht auf den vorliegenden Fall zutraf, da der Beschwerdeführer keinen im Anspruch enthaltenen Parameter angeführt hatte, der in bestimmten, von besagtem Anspruch gedeckten Fällen nicht identifizierbar wäre. Die Kammer gelangte darüber hinaus zu der Auffassung, dass die Argumente des Einsprechenden lediglich veranschaulichten, dass Anspruch 1 weit gefasst war (s. dieses Kapitel II.C.6.3).
In T 623/16 (OLEDs) sollten laut Beschreibung mehrere Parameter variiert werden, um eine weißes Licht emittierende Vorrichtung zu erhalten. Die Ansprüche enthielten keinen Hinweis darauf, dass mehrere Parameter wie die Konzentration und die Dicke einerseits und die Hinzufügung einer Sperrschicht (oder andere Parameter) andererseits gleichzeitig variiert werden sollten. Die Fachperson, die bei einem ersten Versuch eine Vorrichtung erhalten würde, die kein weißes Licht emittiert, könnte dem Patent keinen ausdrücklichen Anhaltspunkt dafür entnehmen, wo sie ansetzen sollte, damit weißes Licht emittiert wird. Deshalb mussten die Ansprüche einen Anhaltspunkt dafür vorgeben, welche Merkmale für die Ausführung der Erfindung im gesamten Bereich wesentlich sind, damit eine Vorrichtung erzielt wird, die weißes Licht emittiert. Sobald die Fachperson wüsste, dass diese Merkmale für die Ausführung der Erfindung ausschlaggebend sind, stellte es keinen unzumutbaren Aufwand mehr dar, lediglich die Konzentration und die Dicke zu ändern. Die Beschreibung war detailliert genug für die Ausführung der Erfindung. Anspruch 1 des Hauptantrags enthielt keine Merkmale, die für die Erfindung wesentlich und die ausschlaggebend dafür waren, die Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich auszuführen. Das Weglassen dieser Merkmale führte zu einer Vorrichtung, die kein weißes Licht emittierte (Verstoß gegen Art. 83 EPÜ). Mit der Aufnahme der wesentlichen Merkmale bestand für die Fachperson kein unzumutbarer Aufwand mehr (neuer erster Hilfsantrag erfüllte Art. 83 EPÜ).
In T 2728/16 befand die Kammer, dass selbst unter der Annahme, dass die Fachperson zur Optimierung und Auswahl geeigneter Parameter veranlasst und in der Lage gewesen wäre, um (praktisch) nicht funktionierende Systeme zu vermeiden, die Fachperson keinerlei Hinweis hatte, wie sich ein funktionierendes System mit zwei Öffnungen, von denen eine nicht abgedichtet ist, ohne Weiteres ausführen lässt. Ebenso lag kein Hinweis vor, wie ein System mit zehn Öffnungen, von denen mindestens eine nicht abgedichtet ist, funktionieren sollte. Daher fielen unter Anspruch 1 Systeme mit zwei oder zehn Öffnungen mit einem mittleren Dichtungswiderstand von weniger als 30 MOhm, die im Allgemeinen als nicht funktionsfähig galten und unter keinen Umständen so optimiert oder verbessert werden konnten, dass sie funktioniert hätten. Die Veranschaulichungsbeispiele waren nur einige wenige unter vielen Ausführungsformen, die nicht funktionierten, aber in den Schutzbereich von Anspruch 1 fielen. Dieser Argumentation folgend galt dies damit auch für jedes System mit zwei und zehn Öffnungen pro Probenmulde. Die Kammer urteilte, dass das Patent keine verallgemeinerungsfähige technische Lehre offenbart, wodurch der Großteil der von Anspruch 1 umfassten Systeme der Fachperson nicht zur Verfügung stand. Die Fachperson erhielt auch nach dem Lesen des Patents keinerlei Lehre, wie die nicht funktionierenden Ausführungsformen funktionsfähig hätten gemacht werden können.
In T 239/13 vom 5. Juli 2017 date: 2017-07-05 enthielt Anspruch 1 in der erteilten Fassung nicht das Erfordernis, dass das "Granulat" sauer sein muss. Nach Auffassung der Kammer hat eine Lösung des beanspruchten Granulats an sich trotz einiger saurer Komponenten möglicherweise einen alkalischen pH-Wert. In Bezug auf saures Granulat lieferte die Beschreibung – die ausschließlich auf saures Granulat einging – der Fachperson hinreichend technische Informationen und Leitlinien, die sie in die Lage versetzten, ohne unzumutbaren Aufwand saures Granulat mit "verbesserten Lagerungseigenschaften" innerhalb des gesamten Schutzbereichs von Anspruch 1 herzustellen. In Bezug auf alkalisches Granulat, zu dem es keine konkrete Lehre gab, müsste die Fachperson ein Forschungsprogramm durchführen. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Fachperson anhand der Lehre der Beschreibung keine hinreichenden technischen Informationen und Leitlinien erhielt, um das beanspruchte Granulat ohne unzumutbaren Aufwand und innerhalb des gesamten Schutzbereichs von Anspruch 1 herstellen zu können.
In T 2224/08 bezog sich der Beschwerdeführer (Einsprechende) hinsichtlich der Standards zur Beurteilung des Offenbarungsgehalts auf Entscheidung T 10/86. Diese Entscheidung betraf jedoch eine Situation, in der das einzige zur Lösung der technischen Aufgabe offenbarte Mittel als ungeeignet, d. h. nicht funktionsfähig, betrachtet wurde und der Fachperson ausgehend von ihrem allgemeinen Fachwissen keine alternativen Mittel zur Verfügung standen. Im Gegensatz dazu offenbarte das beschwerdegegenständliche Patent in Beispiel 4 eine funktionierende Ausführungsform, listete in Beispiel 1 bis 3 verschiedene alternative Ausführungsformen auf und schlug mehrere, für die beanspruchte Verwendung geeignete Stämme vor. Der Beschwerdeführer verwies weiterhin auf den Fall T 32/85, bei dem die Fachperson in dem Versuch, ein funktionell definiertes Ergebnis zu erzielen, durch Versuch und Irrtum zahlreiche Parameter prüfen musste, was als unzumutbar betrachtet wurde. Der vorliegende Fall betraf nur einen Parameter, der nach Auffassung der Kammer ohne Weiteres mithilfe verschiedener Verfahren ermittelt werden konnte.
In T 1583/17 betraf die Erfindung die Verwendung beschichteter Folien. Die Kammer hob hervor, es müsse unterschieden werden, ob ein Erzeugnis ein vorgegebenes Qualitätserfordernis, hier die Abwesenheit glänzender Flecken, (nicht) erfüllt oder ob es die in einem Anspruch enthaltenen Erfordernisse (nicht) erfüllt. Dass die Qualität der erzeugten Beschichtungen dem beabsichtigten Qualitätsniveau nicht entspreche, bedeute nicht, dass diese Beschichtungen den Erfordernissen des Anspruchs 1 nicht genügten, und dies allein sei ausschlaggebend für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung. Die angebliche mangelnde Ausführbarkeit im gesamten Bereich sei nicht gegeben.