7. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung auf dem Gebiet der Biotechnologie
7.3. Erforderlicher Umfang der Offenbarung bei Antikörpern
In T 431/96 hätte die Fachperson, die die Erfindung nacharbeiten wollte, monoklonale Antikörper in Routineverfahren gewinnen und einzeln testen müssen. Dies mochte zwar mit einigem Arbeits- und Zeitaufwand verbunden sein, war jedoch nichts Außergewöhnliches, da es sich bei den Techniken zur Herstellung und Selektion von Hybridomen am Prioritätstag des Streitpatents um gängige Routinetechniken handelte.
In T 435/20 bestätigte die Kammer unter Verweis auf T 431/96, dass es sich bei der Erzeugung und dem Screening von Antikörpern nur um Routineversuche handelt. Dies sei jedoch nur dann der Fall, wenn die Fachperson anhand der Offenbarung des Patents oder aufgrund ihres allgemeinen Fachwissens wisse, (i) welche Antigene sich für die Erzeugung von Antikörpern mit den gewünschten Eigenschaften eignen und (ii) welche Screening-Verfahren zur Auswahl dieser Antikörper ohne unzumutbaren Aufwand anzuwenden sind. In T 435/20 erklärte die Kammer, dass die Schlussfolgerung aus T 431/96, wonach die Herstellung von Antikörpern gegen bekannte Antigene Routine sei, nicht zutreffe.
In der Entscheidung T 1103/22 (Definition des aktiven Zentrums ("active site"), die von den Parteien im Zusammenhang mit der ausreichenden Offenbarung bestritten wurde) stellte die Kammer unter Bezugnahme auf T 435/20 insbesondere fest, dass es zum allgemeinen Fachwissen gehört, dass die Herstellung von Antikörpern gegen bestimmte Epitope (insbesondere nichtlineare) keine Routine ist und erhebliches erfinderisches Zutun erfordern kann. Da eine unzureichende Offenbarung nicht durch nachveröffentlichte Dokumente behoben werden könne, wurden diese nicht zugelassen.
Bezüglich der Screening-Verfahren zur Auswahl von Antikörpern befand die Kammer in T 326/22 entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers (Einsprechenden), dass sich der Fall von T 435/20, T 1466/05 und T 657/10 unterschied. Die Kammer hielt es für glaubhaft, dass die Fachperson ohne unzumutbaren Aufwand zu weiteren, in den Anwendungsbereich von Anspruch 1 fallenden Antikörpern gelangen würde. Sie verwies zudem auf T 431/96.
In T 2164/21 lieferten weder die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung noch das allgemeine Fachwissen der Fachperson Informationen, anhand derer sie zuverlässig zu den Aminosäuresubstitutionen gelangen würde, die zu einem den beanspruchten funktionellen Anforderungen entsprechenden Antikörper führten würden. Die Tatsache, dass Verfahren zur Erzeugung eines Antikörpers mit einer bestimmten Mutation, Verfahren zur Bewertung der Deamidierung und Verfahren zur Bestimmung der Antigenbindungsaktivität in der Anmeldung beschrieben wurden, der Fachperson bekannt sind und am Prioritätstag der Anmeldung Routine waren, bedeute nicht, dass die Erfindung ohne unzumutbaren Aufwand ausführbar sei. Die Kammer befasste sich daraufhin mit der ständigen Rechtsprechung zur Frage, wann Experimente und Tests angemessen sind.
Nach Auffassung der Kammer in T 601/05 vom 2. Dezember 2009 date: 2009-12-02 war die entscheidende Frage, ob das Patent die Herstellung von menschlichen monoklonalen Antikörpern ermöglichte, die wie beansprucht mit hoher Affinität an lösliches TNF binden, d. h., ob die Fachperson die Erfindung im Schutzbereich des Anspruchs praktisch umsetzen konnte oder nicht (im Anschluss an T 792/00). Nach den der Kammer vorliegenden Beweisen war dies nicht der Fall.
In T 1466/05 stellte sich die Frage, ob die Verfügbarkeit eines einen spezifischen Antikörper produzierenden Hybridoms in Verbindung mit einer allgemeinen Beschreibung des von diesem Antikörper erkannten Epitops die Fachperson in die Lage versetzt, weitere Antikörper mit der gleichen Spezifität zu gewinnen. Die Kammer stellte fest, dass ähnliche Fragen bereits Gegenstand verschiedener Verfahren vor den Beschwerdekammern gewesen seien und die einzelnen Beschwerdekammern diese Fragen je nach den konkreten Umständen unterschiedlich beantwortet hätten (T 510/94, T 513/94, T 349/91, T 716/01).
In T 1466/05 war der Anspruch nicht auf monoklonale Antikörper beschränkt, die durch Bezugnahme auf das hinterlegte Hybridom definiert waren. Da die Anmeldung kein spezifisches Antigen zur Gewinnung weiterer der beanspruchten Antikörper offenbare, müsste die Fachperson, die solche Antikörper herstellen wollte, nach Auffassung der Kammer eine Forschungsreihe durchführen, der Anmeldung aber keinerlei Lehre darüber entnehmen könnte, wie sich die gewünschte Spezifität erzielen lässt, was einen unzumutbaren Aufwand darstellte (in diesem Zusammenhang zitiert in T 760/12; siehe auch T 435/20 und die sehr ausführlichen Begründungen zu technischen Aspekten, wo die Kammer den Sachverhalt als mit demjenigen in T 1466/05 vergleichbar ansah).
In T 424/21 (therapeutische Antikörper und Fc-Fusionsproteine) war der streitige Anspruch in Form einer ersten medizinischen Verwendung abgefasst. Die Kammer stellte fest, dass die Große Beschwerdekammer in G 5/83 sich zwar nicht ausdrücklich zu Art. 83 EPÜ äußerte, die ausreichende Offenbarung für einen weit gefassten Anspruch auf eine erste medizinische Verwendung aber auch nicht grundsätzlich in Frage stellte und keine Notwendigkeit für den Erfinder sah, „auf eine bestimmte therapeutische Anwendung […] beschränkt zu sein". Die Kammer konnte im vorliegenden Fall aus dem EPÜ kein Erfordernis ableiten, wonach ein Patent zeigen müsse, dass eine Verbindung für jede einzelne Krankheit geeignet ist, damit eine erste medizinische Verwendung ausreichend offenbart ist. Stattdessen genüge es nachzuweisen, dass die Verbindung für mindestens eine bestimmte medizinische Verwendung geeignet ist, wie es bei dem fraglichen Patent der Fall war. Der vorliegende Fall unterscheide sich von der T 604/04 zugrundeliegenden Situation (Verneinung einer ausreichenden Offenbarung in Bezug auf eine erste medizinische Verwendung).
Hinsichtlich der Ansprüche auf eine zweite medizinische Verwendung (Anspruch 6 in der "schweizerischen" Anspruchsform, Anspruch 7 in der Form zweckgebundener Erzeugnisansprüche) in T 760/12 wurde die technische Wirkung (d. h. die therapeutische Wirkung) im Anspruch angegeben. Ist die technische Wirkung im Anspruch angegeben, ist es eine Frage der ausreichenden Offenbarung, ob diese Wirkung im gesamten beanspruchten Bereich tatsächlich erzielt wird (G 1/03, ABl. 2004, 413, Nr. 2.5.2 der Gründe). Folglich muss die Anmeldung nach Art. 83 EPÜ offenbaren, dass das herzustellende Erzeugnis sich für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, wenn dies der Fachperson am Prioritätstag nicht bereits bekannt ist (T 609/02, Nr. 9 der Gründe). Die Kammer kam zu dem Schluss, dass im Patent nicht hinreichend offenbart wurde, dass ein einzelner anspruchsgemäßer monoklonaler Antikörper potenziell die beanspruchte therapeutische Wirkung haben kann.
In T 405/06 war der fragliche Anspruch auf Immunglobuline mit bestimmten vorgegebenen Merkmalen gerichtet. Es stellte sich die Frage, ob eine Fachperson der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung am Anmeldetag eine so deutliche und vollständige Offenbarung der genauen Struktur eines solchen Immunglobulins entnommen hätte, dass es ihr möglich gewesen wäre, das Immunglobulin im gesamten, breiten Bereich des Anspruchs herzustellen. Obwohl der Anspruch nicht auf Immunglobuline von Kameliden beschränkt war, handelten der experimentelle Teil der Beschreibung als Ganzes und die dazugehörigen Zeichnungen ausschließlich von Kameliden-Immunglobulinen, und auch der allgemeine Teil der Beschreibung enthielt keine vollständige Offenbarung irgendeines Immunglobulins von Nicht-Kameliden. Die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ 1973 waren somit nicht erfüllt, da es der Fachperson überlassen blieb, mühsam herauszufinden, wie die auf Kameliden-Immunglobuline bezogene Lehre auf Erzeugnisse anderen Ursprungs (z. B. menschliche Immunglobuline), die in den breiten Schutzbereich des Anspruchs fielen, ausgeweitet werden konnte.
Die Anmeldung, die Gegenstand des Verfahrens in T 433/07 war, betraf breitreaktive opsonische Antikörper, die mit gemeinsamen Antigenen von Staphylococcus reagierten. Nach Auffassung der Kammer war die Erfindung unzureichend offenbart; die Anmeldung offenbarte weder Serotyp-kreuzreaktive monoklonale Antikörper noch die Isolierung eines Antigens, das mit der anspruchsgemäß erforderlichen Serotyp-kreuzprotektiven Reaktion assoziiert ist. Umfasst eine europäische Patentanmeldung einen Anspruch, der sich auf ein Herstellungsverfahren bezieht, so muss sie der Fachperson die Mittel zur Herstellung des gewünschten Erzeugnisses zur Verfügung stellen. Ist dies nicht der Fall, kann dieser Mangel nicht dadurch behoben werden, dass der Fachperson genau mitgeteilt wird, wie das gewünschte Erzeugnis aussehen muss und mit Hilfe welcher Screening-Kriterien es gefunden werden kann.
In T 617/07 betraf der Anspruch monoklonale Antikörper sowie synthetische und biotechnologische Derivate davon, die durch strukturelle und funktionelle Merkmale definiert waren. Die Kammer urteilte, dass es der Fachperson mit Hilfe ihres allgemeinen Fachwissens möglich wäre, auf unter Umständen zeitraubende, aber einfache Weise Antikörper-Varianten bereitzustellen, die die im Anspruch angegebenen funktionellen Erfordernisse erfüllten. Sicherlich schloss die strukturelle Definition im Anspruch Antikörper ein, welche die gewünschte Funktion nicht aufwiesen, doch wäre es der Fachperson, die die Erfindung nacharbeiten wollte, aufgrund ihres Wissens möglich, nicht-funktionelle Varianten zu vermeiden. Weil die Fachperson wusste, wie sie von einem bestimmten bekannten Antikörper ausgehend Antikörper mit der gewünschten Funktion erhalten konnte, war sie nicht in einer Situation, in der sie mühsam nicht-funktionelle Varianten hätte aussondern müssen.
In T 386/08 betraf das Patent humanisierte Antikörper mit Framework-Sequenzen. Es offenbarte nicht nur ein Beispiel, sondern viele Beispiele. Die Kammer wies darauf hin, dass der Begriff der im gesamten beanspruchten Bereich ausreichenden Offenbarung nicht bedeutet, dass eine Offenbarung nur dann als ausreichend anzusehen ist, wenn es nachweislich möglich ist, alle nur denkbaren Ausführungsformen eines Anspruchs zu erhalten; s. G 1/03 (ABl. 2004, 413). Es kann Situationen geben, in denen die Patentschrift genügend Informationen zu den Kriterien enthält, mit deren Hilfe sich im beanspruchten Bereich mit zumutbarem Aufwand geeignete Alternativen ("Varianten") finden lassen. Unter diesen Umständen ist es für die ausreichende Offenbarung unerheblich, dass einige unter den Anspruch fallende Varianten am Prioritätstag nicht verfügbar waren. Für ein Beispiel, bei dem dies nicht der Fall war, s. T 601/05 date: 2009-12-02. Die vorliegende Situation unterschied sich hiervon jedoch dadurch, dass das Patent eine ganze Anzahl geeigneter Alternativen beschrieb und dass es sich bei den angeblich nicht erzielbaren Varianten um "hypothetische" Varianten handelte. Die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ waren erfüllt.
Die Entscheidung T 941/16 (Anti-PSMA-Antikörper) betraf einen Verstoß gegen Art. 83 EPÜ. Die Kammer entschied, dass ohne Beispiele für einen beanspruchten Antikörper/ein beanspruchtes Fragment die allgemeinen Informationen in der Patentanmeldung und das allgemeine Fachwissen zusammengenommen nicht ausreichten, um die erforderlichen Informationen bereitzustellen, damit die Fachperson im Wesentlichen alle beanspruchten Antikörper/Fragmente zuverlässig erzeugen kann, die die funktionellen Erfordernisse des Anspruchs erfüllen. Für bestimmte Kombinationen von CDRs sei es nicht glaubhaft, dass ein humanisierter Antikörper/humanisiertes Fragment mit den in Anspruch 1 definierten Merkmalen erzeugt würde. Die problemlose Ausführung der Erfindung über den gesamten beanspruchten Bereich wäre für die Fachperson ohne unzumutbaren Aufwand nicht möglich. Schließlich befasste sich die Kammer unter Bezugnahme auf G 1/03 (ABl. 2004, 413, Nr. 2.5.2 der Gründe) mit der Behauptung des Beschwerdeführers (Anmelders), Patentanmeldungen auf dem Gebiet der Biochemie sollten nicht schlechter behandelt werden als auf den anderen Gebieten der klassischen Chemie (Vorliegen nicht funktionsfähiger Ausführungsformen in einer generischen chemischen Formel).
Die Fassung der Richtlinien vom März 2022 enthält einen 2021 eingefügten neuen Abschnitt über Antikörper (siehe G‑II, 5.6). Was Ansprüche anbelangt, die auf durch funktionelle Eigenschaften definierte Antikörper (d. h. definiert durch eine bestimmte Fähigkeit) gerichtet sind, besagen die Richtlinien in Abschnitt G‑II, 5.6.1.3: "Wird ein Antikörper ausschließlich durch funktionale Eigenschaften definiert, so ist sorgfältig zu prüfen, ob die Anmeldung eine ausreichende Offenbarung für den gesamten beanspruchten Schutzbereich enthält". In den folgenden Entscheidungen erachteten die Kammern Art. 83 EPÜ nicht für erfüllt: T 1466/05, T 601/05 date: 2009-12-02, T 1389/13. Beispiele, in denen auf ausreichende Offenbarung erkannt wurde, sind T 2045/09 und T 845/19 (wo der Antikörper nach einer Beschränkung durch strukturelle und funktionelle Merkmale definiert war). S. auch die Fassung der Richtlinien vom April 2025, EPÜ Richtlinien G‑II, 6.
Weitere Entscheidungen zu Antikörpern: s. T 32/17 (Definition eines Antikörpers durch ein hinterlegtes Hybridom – R. 31 EPÜ); T 1708/18 (zahlreiche Aspekte zu Antikörpern, die im Rahmen der Neuheit erörtert wurden).