T 0597/92 (Umlagerungsreaktion) 01-03-1995
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Im EPÜ findet sich keine Rechtsgrundlage dafür, daß ein Disclaimer zu erfinderischer Tätigkeit verhelfen könnte. Auf einen Disclaimer darf nur ausnahmsweise zur Vermeidung einer neuheitsschädlichen Vorwegnahme zurückgegriffen werden, wenn sich der Gegenstand eines Anspruchs auf der Grundlage der ursprünglichen Offenbarung nicht durch eine positive Formulierung beschränken läßt, ohne seine Klarheit und Knappheit ungebührend zu beeinträchtigen.
Ein hypothetischer Neuheitsangriff in einem möglichen Verfahren vor einem nationalen Gericht, der nicht durch beim EPA aktenkundige Schriftsätze oder Beweismittel belegt ist, ist nach dem EPÜ kein hinreichender Grund für die Zulassung eines Disclaimers.
Hauptantrag - kein Disclaimer ohne konkreten Neuheitsangriff
Erster Hilfsantrag - Neuheit (bejaht)
Erfinderische Tätigkeit (bejaht) - nicht naheliegende Lösung
I. Auf die am 23. Februar 1981 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 81 200 211.1, für die die Priorität der beiden italienischen Voranmeldungen Nr. 2 018 780 vom 26. Februar 1980 und Nr. 2 404 580 vom 7. August 1980 beansprucht worden war, wurde das europäische Patent Nr. 0 035 305 mit 13 Ansprüchen erteilt.
II. Gegen das europäische Patent legten drei Parteien Einspruch ein, von denen zwei ihren Einspruch allerdings später zurücknahmen, so daß letztlich nur die Ansprüche 1 bis 4 des Patents unter Berufung auf Artikel 100 a) EPÜ angefochten wurden, auf dessen Grundlage der einzige verbliebene Einsprechende den Widerruf des Patents beantragte.
Von der Vielzahl der im Einspruchsverfahren angezogenen Entgegenhaltungen erwiesen sich nur die folgenden Dokumente als relevant:
(1) eine experimentelle Dissertation von Graziano Castaldi mit dem Titel "Synthese von pharmazeutisch interessanten Arylessigsäuren: Reaktionen von -Halogenalkylarylketonen und ihrer Methylketale mit Silber(i)-Salzen"
(2) J. Am. Chem. Soc., 93, 711 - 716 (1970)
(3) Tetrahedron Letters, Nr. 32, 3 013 - 3 016 (1973)
(4) Tetrahedron, 30, 141 - 149 (1974)
III. Mit einer am 24. April 1992 ergangenen begründeten Entscheidung, die am 12. März 1992 bereits mündlich verkündet worden war, wurde das Patent gemäß dem vom Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gestellten Hauptantrag in geändertem Umfang aufrechterhalten.
Anspruch 1 gemäß dem Hauptantrag lautete wie folgt:
"1. Verfahren zur Herstellung von Verbindungen der allgemeinen Formel:
FORMEL
worin
R ein
Wasserstoff- oder ein Bromatom bedeutet und
Y einen Alkylrest mit 1 bis 6 Kohlenstoffatomen, einen Halogenalkylrest mit 2 bis 6 Kohlenstoffatomen oder einen Benzylrest bedeutet,
wobei man Verbindungen der allgemeinen Formel:
FORMEL
worin
R die oben angegebene Bedeutung besitzt,
R' einen Alkylrest mit 1 bis 6 Kohlenstoffatomen oder einen Benzylrest bedeutet,
R" einen Alkylrest mit 1 bis 6 Kohlenstoffatomen oder einen Benzylrest bedeutet,
R' und R" zusammen einen Alkylenrest mit 2 bis 6 Kohlenstoffatomen bedeuten, der zusammen mit der
FORMEL
Gruppe einen heterocyclischen Ring bildet,
und X ein Halogenatom darstellt,
in Gegenwart einer Lewis-Säure mit Ausnahme von Ag+ umlagert".
Die Ansprüche 2 bis 5 hingen von Anspruch 1 ab, die Ansprüche 6 bis 13 betrafen als Ausgangsmaterialien für das beanspruchte Verfahren geeignete Ketale.
IV. Die Einspruchsabteilung vertrat im wesentlichen die Auffassung, daß die frühere Priorität nur für die besondere Ausführungsform gemäß Anspruch 5, wonach es sich bei der Lewis-Säure um CuCl handle, wirksam beansprucht werden könne und daß die Entgegenhaltung 1, die vor dem Anmeldetag, nämlich am 10. April 1980, öffentlich zugänglich gemacht worden sei, demnach als Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ gelte.
Die Ansprüche 1 bis 4 wurden dennoch für neu und erfinderisch befunden.
Die Einspruchsabteilung wertete die Dissertation (Entgegenhaltung 1), die eine ähnliche Umlagerungsreaktion beschreibe, wie sie bei Verwendung eines aktiven Silbersalzes im Rahmen des beanspruchten Verfahrens ablaufe, als relevantesten Stand der Technik. Eine erfinderische Tätigkeit erkannte sie vor allem deshalb an, weil i) bei der entsprechenden Umlagerungsreaktion gemäß der Dissertation wohl kein Ketal als Zwischenprodukt entstehe und weil beim beanspruchten Verfahren erstmals erkannt worden sei, daß ii) sich die betreffende Umlagerungsreaktion nicht nur mit Silbersalzen, sondern auch mit anderen Lewis-Säuren erreichen lasse und iii) bei Verwendung dieser Lewis-Säuren ein Umlagerungsmittel in kleineren als stöchiometrischen Mengen verwendet werden könne.
Die Entgegenhaltungen 2 bis 4 enthielten nach Einschätzung der Einspruchsabteilung keine relevanten zusätzlichen Informationen.
V. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer (Einsprechende) Beschwerde ein.
Am 1. März 1995 wurde eine mündliche Verhandlung abgehalten, in der der ordnungsgemäß geladene Beschwerdeführer nicht vertreten war.
In seinen Schriftsätzen machte der Beschwerdeführer im wesentlichen geltend, daß sich das beanspruchte Verfahren ganz offensichtlich aus dem Stand der Technik herleiten lasse, weil i) aus der Dissertation durch Silber(i)-Ionen unterstützte Umlagerungsreaktionen von Ketalen bekannt seien, die mit denjenigen des beanspruchten Verfahrens strukturell verwandt seien, und ein Fachmann erkannt hätte, daß ii) Silbersalze Lewis-Säuren sind und iii) somit auch andere Lewis-Säuren als Silber(i)-Salze zur Unterstützung des beanspruchten Umlagerungsverfahrens verwendet werden könnten.
Zur Untermauerung dieses Vorbringens legte der Beschwerdeführer eine Erklärung von Professor R. Gompper vor, der ebenso wie der Beschwerdeführer auf zahlreiche weitere Dokumente verwies.
Darüber hinaus argumentierte der Beschwerdeführer, es sei bekannt, daß die Umlagerung von alpha-Halogenketonen durch die Reaktion des Umlagerungsmittels mit dem alpha-Halogenatom ausgelöst werde und daß Silberhalide praktisch nicht löslich seien. Daher habe es nahegelegen, als Umlagerungsmittel statt Silber Lewis-Säuren zu verwenden, die mit Haliden besser lösliche Salze bildeten, so daß der Katalysator weiterhin in Lösung zur Verfügung stehe und das Umlagerungsmittel in geringeren als stöchiometrischen Mengen verwendet werden könne.
Schließlich habe ein Vergleichsversuch den Nachweis erbracht, daß Kupfer- und Silberoxid für die beanspruchte Umlagerungsreaktion eine ähnliche katalysierende Wirkung hätten.
VI. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) brachte in seinen Schriftzsätzen und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor, daß das beanspruchte Verfahren erfinderisch sei, weil i) sich keine der Entgegenhaltungen auf dasselbe Ausgangsketal oder dieselben Reaktionsprodukte wie das beanspruchte Verfahren erstrecke und ii) auch keiner der Entgegenhaltungen zu entnehmen sei, daß das Silbersalz in dem in der Dissertation beschriebenen Verfahren als Lewis-Säure fungiere und durch eine ganze Klasse von Verbindungen oder gar eines der in Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags genannten Metallsalze ersetzt werden könnte.
Da es nicht naheliege, das Silbersalz durch ein anderes chemisches Mittel zu ersetzen, seien die vom Beschwerdeführer vorgelegten Vergleichsdaten ohne Belang.
VII. Die beiden Einsprechenden, die ihren Einspruch zurückgenommen hatten, nach Artikel 107 EPÜ aber am Verfahren beteiligt waren, reichten im Beschwerdeverfahren keine Stellungnahmen oder Anträge ein.
VIII. Der Beschwerdeführer hielt an seinem schriftlichen Antrag auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Widerruf des europäischen Patents fest.
Der Beschwerdegegner beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent entweder auf der Grundlage der in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegten Ansprüche (Hauptantrag) oder auf der Grundlage eines der in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 1. März 1995 eingereichten Anspruchssätze nach dem ersten oder zweiten Hilfsantrag aufrechtzuerhalten.
IX. Anspruch 1 gemäß dem ersten Hilfsantrag entspricht dem Wortlaut des Anspruchs 1 gemäß dem Hauptantrag mit dem Unterschied, daß am Ende die Worte "in Gegenwart einer Lewis-Säure mit Ausnahme von Ag+" durch folgende Formulierung ersetzt wurden:
"in Gegenwart einer Lewis-Säure, die als Katalysator wirkt und aus den organischen und anorganischen Salzen von Kupfer, Magnesium, Calcium, Zink, Cadmium, Barium, Quecksilber, Zinn, Antimon, Wismut, Mangan, Eisen, Kobalt, Nickel und Palladium ausgewählt wird".
X. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Kammer ihre Entscheidung, das Patent auf der Grundlage des ersten Hilfsantrags aufrechtzuerhalten.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Da der Einspruch des Beschwerdeführers nur gegen die Ansprüche 1 bis 4 des Streitpatents gerichtet war, ist die Kammer nicht befugt, hier auf die Erzeugnisansprüche 6 bis 13 einzugehen. Die Änderung des abhängigen Anspruchs 5 gemäß dem Haupt- oder dem ersten Hilfsantrag hat der Beschwerdegegner vorgenommen, um den Einspruchsgründen vor dem Hintergrund einer unsicheren Prioritätslage wirkungsvoll zu begegnen; daher wird auch geprüft, ob Anspruch 5 den Erfordernissen des EPÜ genügt (s. G 9/91, ABl. EPA 1993, 408, insbesondere Nrn. 7, 10 und 11 der Entscheidungsgründe).
3. Hauptantrag
Das Verfahren gemäß Anspruch 1 ist durch einen Disclaimer beschränkt worden, der die Ausführung des beanspruchten Verfahrens in Gegenwart von Silber(i)-Ionen ausschließt.
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann ein Disclaimer jedoch nur ausnahmsweise zugelassen werden, um einem Anspruch, der eine Überschneidung mit dem Stand der Technik aufweist, die Neuheit zu sichern, und zwar auch dann, wenn sich in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung keine Stützung für den Ausschluß des Überschneidungsbereichs findet (s. T 4/80, ABl. EPA 1982, 149 und T 433/86 vom 11. Dezember 1987, die nicht im ABl. EPA veröffentlicht ist); ein Disclaimer darf aber in anderen als solchen Ausnahmefällen nicht dazu benutzt werden, einem Anspruch zu erfinderischer Tätigkeit zu verhelfen, da die Einführung eines Disclaimers dann faktisch auf nichts anderes als auf die Aufnahme eines neuen, in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung nicht vorhandenen (negativen) Merkmals des Gegenstands hinausläuft, was gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt (s. T 170/87, ABl. EPA 1989, 441). Auf einen Disclaimer darf also, wie bereits in der Entscheidung T 4/80 festgestellt wurde, nur ausnahmsweise zur Vermeidung einer neuheitsschädlichen Vorwegnahme zurückgegriffen werden, wenn sich der Gegenstand eines Anspruchs auf der Grundlage der ursprünglichen Offenbarung nicht durch eine positive Formulierung beschränken läßt, ohne seine Klarheit und Knappheit ungebührend zu beeinträchtigen; dies deutet unmißverständlich darauf hin, daß der Patentinhaber in der Regel mit positiven technischen Merkmalen arbeiten sollte, wenn sich angesichts einer Offenbarung im Stand der Technik eine Beschränkung des Anspruchs als unumgänglich erweist.
Ein dem unveränderten, d. h. dem erteilten Anspruch 1 entsprechendes hypothetisches Verfahren ist im vorliegenden Fall in der Entgegenhaltung 1 nicht offenbart, die deshalb nicht als neuheitsschädlich angesehen werden kann. Der Disclaimer klammert also nicht einen aus der Entgegenhaltung 1 bekannten Gegenstand aus, sondern soll dem beanspruchten Verfahren in der geänderten Fassung zu erfinderischer Tätigkeit gegenüber dem bereits bekannten Verfahren verhelfen, wofür das EPÜ nach Auffassung der Kammer keine Rechtsgrundlage bietet.
Der Beschwerdegegner hat die Auffassung vertreten, daß solche Disclaimer grundsätzlich auch dann zugelassen werden sollten, wenn keine Einwände gegen die Neuheit des unveränderten Anspruchs bestehen, wenn der Disclaimer also einzig und allein die erfinderische Tätigkeit sichern soll. Er macht geltend, eine solche Vorgehensweise sei durchaus vertretbar, weil sich die Beschwerdekammern nicht auf die im Beschwerdeverfahren vorliegenden Schriftsätze und Beweismittel beschränken, sondern auch das voraussichtliche Schicksal des erteilten Bündels europäischer Patente bedenken und insbesondere Neuheitseinwänden Rechnung tragen sollten, die möglicherweise später vor einem nationalen Gericht auf ein Dokument gestützt werden könnten, das nie Gegenstand des Verfahrens vor dem EPA oder den Beschwerdekammern gewesen sei. Demnach sollen Disclaimer der vom Beschwerdegegner gewünschten Art zur vorbeugenden Abwehr eines hypothetischen oder möglichen Angriffs auf die Neuheit, für den es nach Aktenlage beim EPA keinerlei Anhaltspunkte gibt, zulässig sein.
Die Kammer weiß das Bemühen des Beschwerdegegners zu würdigen, die Rechtsbeständigkeit des Patents in Erwartung seiner gerichtlichen Anfechtung in einem oder mehreren der Vertragsstaaten zu stärken. Ein solches verständliches Anliegen darf jedoch nach der gegebenen Rechtslage die Überlegungen und das Urteil der Beschwerdekammern nicht beeinflussen, die unabhängig sind und sein müssen (s. G 9/91 und G 10/91) und bei ihrer Entscheidungsfindung stets und ausschließlich von den Schriftsätzen und Beweismitteln auszugehen haben, die im Rahmen der Beschwerde als solcher eingereicht worden sind. Aus diesem Grund geht das Vorbringen des Beschwerdegegners von vornherein fehl.
4. Erster Hilfsantrag
4.1 Änderungen
Der Anspruchssatz gemäß dem ersten Hilfsantrag unterscheidet sich vom erteilten Anspruchssatz durch die in Anspruch 1 aufgenommene Aussage, daß die Lewis-Säure "als Katalysator wirkt", und durch die Beschränkung der verwendeten Lewis-Säuren auf organische und anorganische Salze einer bestimmten Gruppe von Metallen. Anspruch 2 ist nunmehr als abhängiger Anspruch abgefaßt. In Anspruch 5 wurde das als Lewis-Säure eingesetzte Kupferderivat auf CuCl beschränkt.
Durch eine solche Eingrenzung der verwendeten Lewis-Säuren, die Umwandlung eines unabhängigen Anspruchs in einen abhängigen und die Aussage, daß die Lewis-Säuren als Katalysator wirken, wird der Schutzbereich des Patents eindeutig nicht erweitert.
Da bereits in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung erwähnt war, daß die Lewis-Säuren als Katalysatoren wirken (s. S. 3, Zeilen 3 - 7), und die gemäß Anspruch 1 und 5 bei der Umlagerungsreaktion eingesetzten anorganischen und organischen Salze bestimmter Metalle schon auf Seite 3, Zeilen 15 bis 20 und 24 beschrieben waren, wird auch nichts hinzugefügt, was über den Inhalt der Anmeldung hinausgeht.
Die Ansprüche 3 und 4 decken sich mit den entsprechenden erteilten Ansprüchen. Sie wurden weder geändert noch vom Beschwerdeführer angefochten.
Damit sind die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ erfüllt.
4.2 Priorität
Für das Streitpatent wird die Priorität der am 26. Februar 1980 bzw. am 7. August 1980 eingereichten italienischen Patentanmeldungen Nr. 2 018 780 und 2 404 580 beansprucht.
Da nach Artikel 87 (1) EPÜ ein Prioritätsrecht nur für dieselbe Erfindung gewährt werden kann, muß vor der Entscheidung darüber, ob dem Streitpatent die Priorität dieser Anmeldungen zusteht, ermittelt werden, ob in ihnen jeweils dieselbe Erfindung, d. h. derselbe Gegenstand beschrieben wird wie im nun vorliegenden Anspruchssatz. Hauptkriterium hierfür ist, ob die beanspruchte Erfindung in den Prioritätsunterlagen entweder ausdrücklich oder durch einen unmittelbaren, eindeutigen Hinweis im Text als Ganzem inhaltlich offenbart ist.
Die italienische Patentanmeldung Nr. 2 018 780 betrifft zwar eine Umlagerungsreaktion nach Art des beanspruchten Verfahrens, nennt als Voraussetzung aber nur die Gegenwart eines Kupfer(i)-Salzes (s. S. 4, letzter Absatz, S. 6, Absatz 2 und letzter Absatz, S. 7, Zeilen 2 - 5 und 9 - 11, Beispiele 9 - 31 sowie Ansprüche 1 und 17), ohne die mögliche Verwendung eines Kupfer(II)-Salzes oder irgendeines anderen Metallsalzes für die Umlagerungsreaktion zu erwähnen.
Zudem enthalten die beiden italienischen Patentanmeldungen Nr. 2 018 780 und 2 404 580 anders als das Verfahren gemäß Anspruch 1 keinerlei Hinweis auf die mögliche Substitution des Naphthylrests in seiner 5-Stellung durch Brom.
Aufgrund dieser Unterschiede ist im beanspruchten Verfahren nicht "dieselbe Erfindung" zu erkennen wie die in den Prioritätsunterlagen beschriebene (Art. 87 (1) EPÜ). Dies bedeutet, daß für das Streitpatent auf keinen der Prioritätstage Anspruch besteht.
Infolgedessen gilt die Entgegenhaltung 1, die am 10. April 1980 öffentlich zugänglich gemacht wurde, als Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ. Dies wurde im Beschwerdeverfahren auch nicht mehr bestritten.
4.3 Neuheit
Von allen im Einspruchs- und im Beschwerdeverfahren angezogenen Druckschriften ist die Entgegenhaltung 1 die einzige, die die Umlagerung von Ketalen des 2-Halogen-1-(2'-naphthyl)-1-propanons in 2-(6'-Methoxy-2'-naphthyl)-propionsäure und einen Ester derselben betrifft.
Da es in der Entgegenhaltung 1 aber nur um Umlagerungsreaktionen in Gegenwart von Silber(i)-Salzen geht (s. beispielsweise S. 32, Zeilen 1 und 2 sowie letzter Absatz) und von anderen Metallsalzen keine Rede ist, nimmt diese Schrift den Anspruch 1, der sich nicht auf die Verwendung eines Silbersalzes erstreckt, nicht neuheitsschädlich vorweg. Dem hat der Beschwerdeführer auch nicht mehr widersprochen.
4.4 Erfinderische Tätigkeit
4.4.1 BeimStreitpatent geht es um ein Verfahren zur Herstellung von 2-(6'-Methoxy-2'-naphthyl)-propionsäure und deren Ester durch Umlagerung eines Ketals des 2-Halogen-1-(6'-methoxy-2'-naphthyl)-1- propanons (s. S. 2, Zeilen 3 und 4).
Da die Entgegenhaltung 1 zum Stand der Technik gehört (s. Nr. 4.2), wurde von den Beteiligten nicht mehr bestritten, daß die dort beschriebene Umlagerungsreaktion in Gegenwart von Ag+-Ionen der relevanteste Stand der Technik ist.
Gegenstand dieser Vorveröffentlichung sind Reaktionen zur Herstellung von 2-(6'-Methoxy-2'-naphthyl)-propionsäure oder von Estern derselben durch Umlagerung eines 1-(6'-Methoxy-2'-naphthyl)- 2-halogenpropanons in Gegenwart eines Silberions, wie auf Seite 58, Absatz 2 in Kombination mit der vorletzten Verbindung in Tabelle 9 auf Seite 59 der Entgegenhaltung 1 beschrieben.
4.4.2 Ausgehend von der Entgegenhaltung 1 kann die zu lösende Aufgabe in der Bereitstellung eines alternativen Verfahrens zur Herstellung von 2-(6'-Methoxy-2'-naphthyl)-propionsäure oder von Estern derselben gesehen werden.
4.4.3 Diese Aufgabe wird durch Umwandlung des Ketons in ein Ketal gelöst, wobei die Umlagerungsreaktion gemäß Anspruch 1 in Gegenwart eines Metallsalzes abläuft. Die im Streitpatent enthaltenen Beispiele zeigen nach Auffassung der Kammer, daß diese Aufgabe durch das nun beanspruchte Verfahren tatsächlich glaubhaft gelöst wird.
4.4.4 Aus der Zusammenfassung der Literaturstellen über Umlagerungsreaktionen von -Halogenalkylarylketonen im letzten Absatz auf Seite 30 der Entgegenhaltung 1 geht klar hervor, daß i) Ketale von sekundären - Halogenalkylarylketonen wie die Ausgangsketale im beanspruchten Verfahren in Gegenwart von Silber(i)-Ionen selektiv umgelagert werden, ohne daß es zu einer Solvolyse kommt, und daß ii) eine solche Selektivität bei Behandlung von Ketonen mit Silber(i)-Ionen nicht zu beobachten ist.
Demnach kann es nicht überraschen, wenn ein Fachmann, der ein Keton, wie in Tabelle 9 der Entgegenhaltung 1 beschrieben, in eine 2-(6'-Methoxy-2'-naphthyl)-propionsäure oder einen Ester derselben umwandeln und jegliche andere Reaktion wie etwa eine Solvolyse vermeiden wollte, das Keton vor der Umlagerungsreaktion in ein Ketal umwandeln würde.
4.4.5 Somit bleibt nur noch die Frage zu beantworten, ob es für den Fachmann nahegelegen hätte, das Silber(i)-Salz durch eines der in Anspruch 1 als Umlagerungsmittel genannten Metallsalze zu ersetzen.
Der Beschwerdeführer hat im wesentlichen geltend gemacht, daß ein Fachmann genau das getan hätte, weil er das Silbersalz, das bei der in der Entgegenhaltung 1 beschriebenen Umlagerungsreaktion zum Einsatz kommt, als Lewis-Säure erkannt hätte und davon hätte ausgehen können, daß sich andere Lewis-Säuren wie die im beanspruchten Verfahren verwendeten Metallsalze zur Förderung der Umlagerung eignen würden.
In keiner der im Einspruchs- und im Beschwerdeverfahren angezogenen Entgegenhaltungen wird jedoch eine Umlagerungsreaktion eines - Halogenalkylarylketons beschrieben oder gar empfohlen, in der das Umlagerungsmittel wegen seiner Eigenschaft als Lewis-Säure verwendet würde; dies gilt auch für die Reaktionen, bei denen ein Silbersalz zum Einsatz kam.
Da es ausgewiesenes Ziel der Entgegenhaltung 1 war zu überprüfen, ob durch die Reaktion von -Halogenalkylarylketonen mit Silber(i)- Salzen tatsächlich Ester gewonnen werden können (s. S. 32, Zeilen 1 und 2), läßt sich aus dem Beschreibungs- und Versuchsteil der Dissertation überdies keinesfalls eine Anregung zur Verwendung anderer Mittel als der genannten Silber(i)-Salze ableiten, an die zweifellos auch nie gedacht war, zumal die Dissertation die Aussage enthält, daß "anhand der gewonnenen Informationen ein allgemeines Verfahren (Hervorhebung durch die Kammer) für die Synthese von Arylessigsäureestern aus primären und sekundären - Halogenalkylarylketonen und den Methylketalen von primären - Halogenalkylarylketonen gefunden werden konnte" (S. 4, Zeilen 1 - 5). Auch auf den Seiten 19 bis 30 der Entgegenhaltung 1, die einen Überblick über die Literaturstellen zur Umlagerung von - Halogenalkylarylketonen geben, sowie in den Entgegenhaltungen 2, 3 und 4 werden sämtliche Umlagerungsreaktionen durch Silberionen unterstützt und findet sich kein Hinweis darauf, daß für solche Reaktionen ein anderes chemisches Mittel verwendet werden könnte (s. Zusammenfassung auf S. 711 der Entgegenhaltung 2, den Absatz der Entgegenhaltung 3 auf S. 3 014 unten und S. 3 015 oben sowie die Zusammenfassung auf S. 141 der Entgegenhaltung 4).
Nach Ansicht der Kammer hat der Beschwerdeführer daher nicht nachgewiesen, daß auch nur eine der Entgegenhaltungen irgendwie darauf hingedeutet hätte, daß sich ein anderes Mittel als Silber(i)-Salze als Umlagerungsmittel für die Ausgangsketale des beanspruchten Verfahrens eignen würde.
4.4.6 Es ist nie bestritten worden, daß Silber(i)-Ionen Lewis- Säuren sind und ein Fachmann daher die auf Seite 58 der Entgegenhaltung 1 beschriebene Unterstützung der Umlagerungsreaktion durch Silber(i)-Salz im Sinne einer Unterstützung durch eine Lewis-Säure hätte verstehen können. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern genügt es für den Nachweis mangelnder erfinderischer Tätigkeit aber nicht, wenn ein Fachmann aus der Entgegenhaltung 1 hätte herauslesen können, daß es sich bei dem Silber(i)-Salz um eine Lewis-Säure handelte; vielmehr muß glaubhaft gemacht werden, daß der Fachmann die Entgegenhaltung tatsächlich so ausgelegt hätte (s. T 2/83, ABl. EPA 1984, 265).
Da sich im vorliegenden Fall im Stand der Technik nicht die geringste Andeutung findet, daß eine Umlagerungsreaktion von - Halogenalkylarylketonen oder von deren Ketalen durch ein anderes Umlagerungsmittel als ein Silbersalz unterstützt werden könnte, konnte der Fachmann aus der Entgegenhaltung nur schließen, daß für die Umlagerungsreaktion Silberionen notwendig waren; es ist nicht ersichtlich, weshalb ein Fachmann die Reaktion so ausgelegt hätte, daß das Silber(i)-Ion als Lewis-Säure wirkt.
Aufgrund dessen gelangt die Kammer zu dem Schluß, daß es nicht nahegelegen hat, das Silber(i)-Salz in der auf Seite 58 der Entgegenhaltung 1 beschriebenen Reaktion durch eine beliebige Lewis-Säure oder gar ein Salz eines der in Anspruch 1 des Streitpatents genannten spezifischen Metalle zu ersetzen.
4.4.7 Da sich aus den vorstehenden Ausführungen nur der Schluß ergibt, daß am Anmeldetag des Streitpatents der Austausch des Silber(i)-Salzes in der in der Entgegenhaltung 1 beschriebenen Reaktion nicht nahelag, sind die Vergleichsdaten, die zeigen, daß Kupfer- und Silberoxid die beanspruchte Reaktion in ähnlicher Weise unterstützen, als Beweismittel für den behaupteten Mangel erfinderischer Tätigkeit ohne Belang.
4.4.8 Zur Entkräftung der Argumente, mit denen die Einspruchsabteilung die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang begründet hat, hat der Beschwerdeführer in seinen Schriftsätzen auf eine Vielzahl von Literaturstellen verwiesen, die den Einsatz von Silbersalzen und anderen Mitteln bei Umlagerungsreaktionen ganz allgemein betreffen und die auch von Professor R. Gompper genannt wurden. Da aber keine dieser Literaturstellen relevanter als die Entgegenhaltungen 1 bis 4 war, wurden sie nicht zum Beschwerdeverfahren zugelassen.
4.4.9 Die Kammer kommt daher zu dem Schluß, daß das Verfahren gemäß Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags durch den entgegengehaltenen Stand der Technik nicht nahegelegt wurde.
Die Patentfähigkeit der Verfahrensansprüche 2 bis 5 leitet sich aus der des Anspruchs 1 ab, von dem sie abhängig sind.
5. Somit stehen die Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents in dem durch den ersten Hilfsantrag abgegrenzten geänderten Umfang nicht entgegen.
Eine Prüfung des zweiten Hilfsantrags erübrigt sich demnach.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent gegebenenfalls nach entsprechender Anpassung der Beschreibung auf der Grundlage des Hilfsantrags 1 aufrechtzuerhalten.