2.8. Allgemeines Fachwissen
2.8.5 Nachweis zum allgemeinen Fachwissen
Wird die Behauptung, etwas gehöre zum allgemeinen Fachwissen, bestritten, so ist es an demjenigen, der dies behauptet, zu beweisen, dass der betreffende Gegenstand tatsächlich zum allgemeinen Fachwissen gehört (T 438/97, T 329/04, T 941/04, T 690/06, T 2132/16). Der Umfang des einschlägigen allgemeinen Fachwissens muss im Streitfall – wie jede andere strittige Tatsache auch – z. B. durch schriftliche oder mündliche Beweismittel belegt werden (T 939/92, ABl. 1996, 309, s. dazu auch T 766/91, T 1242/04, ABl. 2007, 421; T 537/90, T 329/04 und T 811/06). Der Beweis wird in der Regel durch Anführung der entsprechenden Literatur geliefert (T 475/88). Nach T 766/91 und T 919/97 müssen Beweismittel für allgemeines Fachwissen erst vorgelegt werden, wenn dessen Existenz bestritten wird. In Ausnahmefällen genügt auch die Angabe triftiger Gründe auf der Grundlage leicht überprüfbarer Tatsachen, z. B. im Falle von Wissen, das "notorisch" ist, unstreitig dem allgemeinen Fachwissen zugerechnet wird oder zum "geistigen Rüstzeug" der Fachperson gehört (T 415/21).
Im Ex-parte-Fall T 1090/12 verwies der Beschwerdeführer auf die Richtlinien G‑VII, 3.1 – Stand November 2016, ("Eine Behauptung, dass etwas allgemeines Fachwissen ist, braucht nur dann belegt zu werden (z. B. durch ein Handbuch), wenn dies bestritten wird") und machte geltend, dass diese Passage für die Beschwerdekammern bindend sei, wenn diese im Rahmen der Zuständigkeit der Prüfungsabteilung tätig werde. Im vorliegenden Fall verneinte die Kammer ihre Verpflichtung, schriftliche Nachweise vorzulegen, und erklärte in der mündlichen Verhandlung, ihre Mitglieder wüssten aufgrund ihrer Tätigkeit in früheren Fällen, dass die strittigen Merkmale der Fachperson bekannt seien. Es wäre daher Aufgabe des Beschwerdeführers gewesen, der Kammer einen Fehler in ihrer Auffassung nachzuweisen, wie z. B. dass eines der strittigen Merkmale erst nach dem Prioritätstag der angefochtenen Anmeldung in den Stand der Technik eingeführt worden wäre. Es besteht auch keine allgemeine Verpflichtung einer Kammer, Nachweise für das allgemeine Fachwissen vorzulegen. Im Verfahren vor dem EPA muss eine Beschwerdekammer den Anspruch auf rechtliches Gehör respektieren und ihre Entscheidung begründen. In Fällen, in denen eine Kammer das allgemeine Fachwissen als Stand der Technik anführt, ist sie nicht in jedem denkbaren Fall zur Vorlage von Unterlagen verpflichtet. Eine Kammer kann auch ausführen, was ihrer Meinung nach bekannt ist und eventuell woher, sodass es dann dem Beschwerdeführer obliegt, der Kammer einen möglichen Irrtum nachzuweisen. Mit diesem Vorgehen wird der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör respektiert. Der Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer wurde daher abgelehnt. Gemäß T 1370/15 gilt dies auch für Inter-partes-Verfahren.
Im Ex-parte-Fall T 1540/14 schloss die Kammer nach einer ausführlichen Begründung und einem Überblick über die Rechtsprechung zur Bestimmung des allgemeinen Fachwissens, dass die Gründe für die Zurückweisung wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit aufgrund des Naheliegens der Unterscheidungsmerkmale von Anspruch 1 gegenüber D6, das angesichts des allgemeinen Fachwissens laut D1 und D2 (Patentliteratur) den nächstliegenden Stand der Technik darstellte, nicht durch ausreichende und überzeugende Nachweise gestützt waren.
Im Ex-parte-Fall T 2101/12 war das allgemeine Fachwissen der nichttechnische Prozess einer Vertragsunterzeichnung beim Notar. Dem Beschwerdeführer zufolge lag die Beweislast für den Inhalt des herangezogenen allgemeinen Fachwissens beim EPA. Der Beschwerdeführer hatte zu keinem Zeitpunkt bestritten, dass der von der Kammer erwähnte Prozess tatsächlich allgemeines Fachwissen darstellte. Es waren keine druckschriftlichen Beweismittel zum Nachweis des Umfangs des angeführten allgemeinen Fachwissens erforderlich.
In T 1110/03 (ABl. 2005, 302) stellte die Kammer fest, dass bei der Würdigung von Beweismitteln zu Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit zu unterscheiden ist zwischen einer Druckschrift, die als Stand der Technik nach Art. 54(2) EPÜ 1973 vorgelegt wird – in dem Sinne, dass sie selbst dem zugeordnet wird, was der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag des Streitpatents zugänglich gemacht wurde –, und einer Druckschrift, die selbst nicht zum Stand der Technik gehört, aber als Beweismittel für den Stand der Technik oder zur Stützung einer anderen Tatsachenbehauptung in Bezug auf Neuheit oder erfinderische Tätigkeit vorgelegt wird. Nur eine Druckschrift der ersten Kategorie kann allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, dass sie eine Nachveröffentlichung ist; bei Druckschriften der zweiten Kategorie ist der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung – auch wenn es um Neuheit oder erfinderische Tätigkeit geht – dafür nicht das entscheidende Kriterium. So ist ein technischer Übersichtsartikel definitionsgemäß ein Bericht über das allgemeine Fachwissen vor dem Datum seiner Veröffentlichung, der sich unter anderem auf die ausreichende Offenbarung einer Vorveröffentlichung und damit auf die Neuheit des beanspruchten Gegenstands auswirken könnte (T 1625/06, T 608/07, T 777/08).
In T 608/07 versuchte der Beschwerdegegner, die Relevanz der Druckschrift D6 infrage zu stellen, weil sie nach dem Prioritätstag des Streitpatents veröffentlicht worden war. Die Kammer befand, dass D6 veröffentlichtes Unterrichtsmaterial einer Universität sei und einen Gegenstand betreffe, der im Stand der Technik seit vielen Jahren bekannt war. Trotz der Veröffentlichung nach dem Prioritätstag des Streitpatents sei D6 somit ein indirekter Beweis für das allgemeine Fachwissen.
Siehe auch T 2196/15 als Beispiel für Schwierigkeiten das allgemeine Fachwissen zu beweisen.
- T 1249/22
In T 1249/22 the application related to the development – including the training – of an analytical model (e.g. a machine learning model) and the deployment of the trained analytical model on a "compute engine" so as to process live incoming data. The examining division found that the independent claims of the main request lacked an inventive step in view of common general knowledge evidenced by D5.
D5 was a book comprising a collection of individual papers on grid computing, all from different groups of authors, referred to as "chapters" by the editors of the book. The appellant argued that D5 was not evidence of common general knowledge and that each of the chapters of D5 represented a separate piece of prior art; the examining division combined several distinct elements from these chapters without providing any reasoning. The board agreed with the appellant that each of the "chapters" represented a separate piece of prior art, as they appeared to be self-contained papers which did not build on each other, unlike chapters of a textbook. Definitions given in one of these papers did not necessarily apply to the others. D5 rather resembled a conference proceedings volume including a collection of separate papers on a common topic. The mere fact that the papers were published in the same book with a single ISBN did not imply that the whole content of the book formed a single piece of prior art.
As to whether D5, or its individual chapters, were generally suitable as evidence for common general knowledge, the board noted that an allegation that a teaching was common general knowledge might be supported by specific evidence. The deciding body evaluates such evidence by applying the principle of free evaluation of evidence on a case-by-case basis (G 2/21). The board explained that while it might be relevant that the cited evidence was a "book" or a "textbook", this could not, on its own, be decisive, as no firm rules dictate which types of evidence are convincing.
The board further observed that information often appears in a textbook because it was common general knowledge when the book was drafted. However, this did not mean that all textbook content necessarily was common general knowledge or became so upon publication. In the decision under appeal, the examining division referred to Part G, Chapter VII, 3.1 of the Guidelines, in which it was stated that "[i]nformation does not become common general knowledge because it has been published in a particular textbook, reference work, etc.; on the contrary, it appears in books of this kind because it is already common general knowledge (see T 766/91). This means that the information in such a publication must have already become part of common general knowledge some time before the date of publication". The board noted however, that the cited decision T 766/91 only described what is "normally" accepted and what is "usually" the case. In a statement according to Art. 20(2) RPBA, the board explained that the Guidelines had lost this nuance when saying "must" in the passage cited above.
Regarding the examining division's reliance on chapters of D5 as evidence of alleged common general knowledge, the board considered the examining division's reasoning to be insufficient regarding what alleged common general knowledge it was relying on (R. 111(2) EPC). For instance, the examining division referred merely to the "known paradigm of message-based grid computing" without indicating which features of this paradigm were considered to be common general knowledge, despite appearing to rely on more than the knowledge of the existence of that paradigm when considering that all the features relating to the processing pipeline "form part of the common general knowledge of the skilled person".
Thus, the board concluded that the first-instance decision was not sufficiently reasoned within the meaning of R. 111(2) EPC. The case was remitted to the examining division for further prosecution under Art. 111(1), second sentence, EPC and Art. 11 RPBA and the appeal fee was reimbursed under R. 103(1)(a) EPC.