9. Beweisfragen
9.8. Auswirkungen einer Erfindung, die gegen allgemein anerkannte wissenschaftliche Grundsätze verstößt
In T 541/96 kam die Kammer zu dem Schluss, dass, wenn eine Erfindung scheinbar gegen allgemein akzeptierte physikalische Gesetze und anerkannte Theorien verstößt, die Offenbarung so ausführlich sein muss, dass eine Fachperson, die mit der Standardlehre in Naturwissenschaft und Technik vertraut ist, sich davon überzeugen kann, dass die Erfindung tatsächlich ausführbar ist, wobei die Beweislast beim Anmelder liegt (s. auch T 1023/00, T 1785/06, Ex-parte-Fall T 1842/06 (Gedächtnis des Wassers), T 1329/07, T 1796/07, T 1620/12, T 1603/13 (Verstoß gegen physikalische Gesetze – Thermodynamik – Energieerhaltung), T 1485/17 (nur biologischen Systemen innewohnende niederfrequente elektrische Signale), T 2345/19 (Hydrinos)). Je mehr eine neue Erfindung mit bislang gültigem technischen Wissen bricht, desto höher sind die Anforderungen an den Umfang der in der Patentanmeldung gegebenen technischen Informationen und Erläuterungen, um die Durchschnittsfachperson, der eben nur das konventionelle Fachwissen zur Verfügung steht, in die Lage zu versetzen, die Erfindung auszuführen (T 1785/06).
Im Ex-parte-Verfahren T 2340/12 bezog sich die Anmeldung auf eine Raumenergie-Implosionseinheit. Die Kammer bemerkte, ihr sei nicht klar, wie das Torsionsfeld oder die Raumenergie zu messen sei. Der Beschwerdeführer (Anmelder) machte geltend, dass über 40 000 Internetveröffentlichungen im Zusammenhang mit "Raumenergie" zu finden seien. Es wurden jedoch keine konkreten Internetveröffentlichungen angeführt, die zur Erläuterung der Begriffe Torsionsfeld oder Raumenergie beigetragen hätten. Der Anmelder verwies lediglich auf durchgeführte "indirekte" Messungen, ohne auf die Art dieser Versuche oder ihre Bedeutung für die beanspruchte Erfindung näher einzugehen, obwohl er in der vorläufigen Stellungnahme der Kammer dazu aufgefordert worden war. Die Prüfungsabteilung kritisierte die Versuche. Der Beschwerdeführer betonte, dass das EPÜ keine experimentellen Nachweise verlange. Des Weiteren stellte der Beschwerdeführer die Kompetenz der Prüfungsabteilung angesichts der Forderung solcher Nachweise infrage. Die Kammer wies darauf hin, dass die Anmeldung bei Erfindungen auf technologischen Gebieten ohne anerkannte theoretische oder praktische Grundlage nach der gängigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern sämtliche Details der Erfindung enthalten sollte, die erforderlich sind, um die Wirkung zu erzielen (vgl. T 541/96, Nr. 6.2 der Gründe). Dies ergebe sich als direkte Folge aus der Tatsache, dass die Fachperson bei Erfindungen auf solchen Gebieten nicht auf allgemeines und anerkanntes Fachwissen zurückgreifen kann. Die Kammer erklärte, das EPÜ enthalte keine Vorschrift, nach der die Patenterteilung davon abhängig ist, dass der Anmelder durch Versuchsergebnisse nachweist, dass die beanspruchte Erfindung zufriedenstellend funktioniert. Das Einreichen solcher Ergebnisse sei nicht als eine Pflicht des Anmelders zu betrachten, sondern vielmehr als ein Recht, das dem Anmelder Gelegenheit gebe nachzuweisen, dass sich die Prüfungsabteilung (oder die Beschwerdekammer) bei ihren ersten Feststellungen geirrt hat. Die Entscheidung enthält Ausführungen zur Beweislast in den Ex-parte-Verfahren (s. beispielsweise T 967/09, Nr. 6 der Gründe, für eine Zusammenfassung der Grundsätze der Rechtsprechung in den Inter-partes-Verfahren).
In T 518/10 ging es um die Beweislast im Falle eines Offenbarungsmangels, die in der Regel beim Einsprechenden liegt. In der vorliegenden Sache hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) behauptet, dass die Anwendung des im Streitpatent beschriebenen Extraktionsverfahrens es der Fachperson – entgegen der vorherrschenden technischen Meinung – ermögliche, aus maritimem und aquatischem Tiermaterial einen Extrakt zu gewinnen, der die Verbindung (II) enthalte. Die Beschwerdegegner bestritten dies und wiesen nach, dass sich die Verbindung (II) nicht durch Anwendung des im Patent beschriebenen allgemeinen Verfahrens herstellen lässt. Somit lag die Beweislast beim Patentinhaber, der belegen musste, dass das Verfahren wie im Patent angegeben funktioniert. Mit der bloßen Behauptung, dass die Verbindung (II) aufgrund der Ernährung des Krills durch Algen theoretisch im Extrakt enthalten sein könnte, hat der Beschwerdeführer keinen Beweis erbracht, der die Versuchsergebnisse der Beschwerdegegner hätte widerlegen können, und seiner Beweislast nicht genügt. Ebenso wenig teilte die Kammer die Auffassung des Beschwerdeführers, dass die Beschwerdegegner, nachdem es ihnen nicht gelungen war, den Extrakt anhand der patentgemäßen Lehre zu gewinnen, nun eine Forschungsreihe durchführen und versuchen müssten, eine Verbindung zu finden, die – nach der vorherrschenden technischen Meinung – vermutlich gar nicht zu finden sein dürfte und für deren Existenz noch nicht einmal das Streitpatent einen schlüssigen Beweise lieferte.
Die Kammer in T 1273/09 bezweifelte ernstlich, dass die beanspruchte homöopathische Behandlung von Bluthochdruck verlässlich und reproduzierbar durch das beanspruchte Gemisch erzielbar war, und zwar aus folgenden Gründen: i) nach den Maßstäben der "konventionellen" Medizin und Wissenschaft sei es unvorstellbar, dass ein homöopathisches Medikament, das keinerlei aktiven Wirkstoff enthält, bestimmte therapeutische Wirkungen erzielt, und ii) nach den Maßstäben der homöopathischen Medizin sei es unvorstellbar, dass ein homöopathisches Medikament, das nicht nach homöopathischen Grundsätzen angewendet wird, bestimmte therapeutische Wirkungen entfalten kann. Die Kammer war nicht überzeugt, dass die Offenbarung in der Anmeldung – die in diesem Fall die einzige Informationsquelle war – die Fachperson in die Lage versetzen würde, die beanspruchte Behandlung von Bluthochdruck verlässlich und reproduzierbar zu vollziehen. Die Begründung war nicht, wie von den Beschwerdeführern vorgebracht, ein bloßer nicht substantiierter "Unglaube", sondern die Schlussfolgerung beruhte auf der Auswertung des verfügbaren qualitativen und quantitativen Beweismaterials.
Im Ex-Parte-Verfahren T 1164/11 erklärte die Kammer, dass ihr kein physikalischer Mechanismus bekannt sei, dem zufolge Licht in der Lage wäre, Moleküle eines in einer verfestigten Medikamentenlösung vorliegenden Medikaments in die Haut hineinzudrücken. Sie hatte erhebliche Zweifel an der beanspruchten Wechselwirkung des Energieemitters (Laserlicht) mit den Molekülen und an dem beanspruchten Ergebnis einer Penetration der Moleküle in die Haut. Der Beschwerdeführer (Anmelder) räumte eine möglicherweise fehlende wissenschaftlicher Erklärung ein, machte aber geltend, dass sich durch die beanspruchte Vorrichtung dennoch eine "unerwartete Wirkung" erzielen lasse, "ohne die in der Haut tatsächlich auftretenden Phänomene zu kennen". Die Kammer gestand zu, dass die Phänomene vielleicht wissenschaftlich nicht stichhaltig erklärbar seien und die Erfindung dennoch ausreichend offenbart sein könnte, falls diese unerwartete Wirkung überzeugend nachgewiesen würde. Doch enthielt die ursprüngliche Anmeldung keinerlei Versuchsergebnisse oder experimentelle Nachweise, die auf eine lichtinduziert gesteigerte Penetration der Medikamentenmoleküle in die Haut schließen ließen. Es sei nicht der Zweck des Patentsystems, ein Ausschlussrecht für technische Spekulationen zu erteilen, die zum Zeitpunkt der Anmeldung nicht realisierbar sind.
In T 2015/20 stellte die Kammer fest, dass nach ständiger Rechtsprechung keine ausreichende Offenbarung zuerkannt werden kann, wenn eine Erfindung der vorherrschenden technischen Meinung widerspricht und das Patent nicht wenigstens ein nacharbeitbares Beispiel liefert (T 792/00, T 1164/11, T 1273/09).
Bei einem Patent, das zum Beleg der ausreichenden Offenbarung nur ein Beispiel mit einem hypothetischen Versuchsprotokoll aufweist, liegt die Beweislast dafür, dass dieses Protokoll in der Praxis wie angegeben ausführbar ist, beim Patentinhaber. Der Nachweis, dass eine Variante des Protokolls ausführbar ist, ist wahrscheinlich nicht ausreichend (T 792/00). Jedoch offenbarte das Patent in T 397/02 eine spezifische humanisierte Version eines Maus-Antikörpers sowie zahlreiche spezifische Alternativen dazu. Der Fall war daher nicht vergleichbar mit demjenigen in T 792/00 (oder in T 984/00), in dem kein einziges konkretes Beispiel für den beanspruchten Gegenstand gegeben wurde. Somit war der Beschwerdeführer (Einsprechende) dafür beweispflichtig, dass die Erfindung nicht ausgeführt werden konnte.