1.6.2 Auswahl aus zwei Listen – Herausgreifen einer Kombination von Merkmalen
In T 1621/16 merkte die Kammer an, dass nach der ständigen Rechtsprechung Änderungen, die auf einer willkürlichen Mehrfachauswahl aus Listen basieren, unter bestimmten Umständen eine Erweiterung des Gegenstands der Anmeldung in der eingereichten Fassung darstellten. Allerdings ging es in den meisten der diesem Ansatz folgenden Entscheidungen um Änderungen, die auf Listen nicht konvergierender Alternativen (d. h. sich gegenseitig ausschließender oder sich teilweise überschneidender Elemente) basierten. Bei der Auswahl aus Listen konvergierender Alternativen (d. h. von Optionen, die von der am wenigsten bis zu der am stärksten bevorzugten Option reichen, wobei jede der stärker bevorzugten Alternativen vollständig von allen weniger bevorzugten und breiteren Optionen der Liste umfasst ist) waren die Schlussfolgerungen hingegen weniger einheitlich (s. T 812/09, T 2237/10, T 27/16 und T 615/95). Darüber hinaus hatten die Kammern generell Änderungen, die auf Mehrfachstreichungen von Elementen aus einer oder mehreren Listen von Alternativen basierten, als zulässige Beschränkung betrachtet, sofern diese Änderungen nicht dazu führten, dass bestimmte Kombinationen mit spezifischer Bedeutung herausgegriffen werden (s. T 615/95 und G 1/93, ABl. 1994, 541). Die Kammer befand, dass Auswahlvorgänge aus Listen konvergierender Alternativen aus den folgenden Gründen nicht genauso behandelt werden sollten wie Auswahlvorgänge aus Listen nicht konvergierender Alternativen: Bei nicht konvergierenden Alternativen führt die Auswahl spezifischer Elemente aus solchen Listen dazu, dass eine Erfindung aus mehreren unterschiedlichen Alternativen herausgegriffen wird, was möglicherweise einen ungerechtfertigten Vorteil darstellt. Wenn andererseits Auffangpositionen für ein Merkmal als Liste konvergierender Alternativen beschrieben werden, ist jedes der engeren Elemente vollständig von allen vorausgehenden weniger bevorzugten und breiteren Optionen umfasst. Somit führt die Änderung eines Anspruchs durch Auswahl eines Elements aus einer Liste konvergierender Alternativen nicht dazu, dass eine Erfindung aus einer Mehrzahl unterschiedlicher Optionen herausgegriffen wird, sondern einfach zu einem Gegenstand, der auf einer mehr oder weniger beschränkten Version dieses Merkmals basiert (s. auch T 933/22). Somit besteht eine Analogie zur Streichung von Optionen aus einer Liste nicht konvergierender Alternativen (wie in T 615/95). Wie die Kammer betonte, lassen die oben genannten Überlegungen nicht den Schluss zu, dass Änderungen, die auf einer Auswahl aus Listen konvergierender Alternativen basieren, zwangsläufig den Erfordernissen des Art. 123 (2) EPÜ entsprechen. Vielmehr muss geprüft werden, ob die spezifische Kombination durch den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung gestützt wird. Für die Kammer müssen mindestens die folgenden beiden Bedingungen erfüllt sein: i) die Kombination sollte nicht mit einem nicht offenbarten technischen Beitrag verbunden sein; und ii) die Kombination sollte durch einen Hinweis in der Anmeldung in der eingereichten Fassung gestützt sein. Solche Hinweise können in Form von Beispielen (wie in T 27/16 und T 615/95) oder spezifischen Ausführungsformen der Anmeldung geliefert werden, weil diese in der Regel die detailliertesten und bevorzugten Ausgestaltungen der Erfindung darstellen.
Auch in T 1482/17 sah dieselbe Kammer die infrage stehenden Änderungen als mit Art. 123 (2) EPÜ vereinbar an, da der betreffende Anspruch auf Kombinationen von mehr oder weniger bevorzugten Optionen von Listen konvergierender Alternativen beruhte, der sich ergebende Gegenstand nicht mit einem nicht offenbarten technischen Beitrag verbunden war und die ursprüngliche Anmeldung einen Hinweis auf die sich aus der Mehrfachauswahl ergebende Kombinationen von Merkmalen enthielt. Insbesondere fielen zwei der Beispiele in der Anmeldung unter den Gegenstand des betreffenden Anspruchs.
In T 1937/17 brachte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) vor, dass es sich bei den Listen der Parameterwerte und den Listen möglicher Strukturen im vorliegenden Fall um Listen konvergierender Alternativen im Sinne von T 1621/16 handle. Zudem verbinde die Beschreibung die in diesen Listen offenbarten Merkmale ausdrücklich in Bezug auf ihre Zwecke und Wirkungen. Damit würden, wie in T 1621/16 gefordert, ein technischer Beitrag offenbart und ein Hinweis gegeben. Die Kammer war anderer Meinung. Es müsse unterschieden werden zwischen dem, was der Fachperson im Lichte der Offenbarung mit bestimmten Hinweisen womöglich nahegelegt wurde, und dem, was die Fachperson anhand allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig – und sei es implizit – aus der Offenbarung ableiten konnte. Zu dem in T 1621/16 genannten Erfordernis, dass der aus der Kombination konvergenter Optionen aus Listen resultierende Gegenstand nicht mit einem nicht offenbarten technischen Beitrag in Zusammenhang stehen darf, erklärte die Kammer unter Verweis auf G 2/98 (ABl. 2001, 413) und G 2/10 (ABl. 2012, 376) Folgendes: Die Unterscheidung in G 1/93 (ABl. 1994, 541) sei explizit für den Fall gemacht worden, dass nicht offenbarte beschränkende Merkmale hinzugefügt wurden, die den Schutzbereich einschränken, und biete kein Kriterium dafür zu ermitteln, ob eine Änderung über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Die Kammer schloss daraus, dass ein "technischer Beitrag" außer für die in G 1/93 erläuterten Zwecke keine Relevanz hat, wenn über die Zulässigkeit von Änderungen nach Art. 123 (2) EPÜ entschieden wird. Stattdessen ist der in G 2/10 formulierte "Goldstandard" das einzige anzuwendende Kriterium. Siehe auch T 1465/15, wo auf ein auf T 1253/07 und T 1621/16 gestütztes Argument des Beschwerdeführers (Patentinhabers) hin ebenfalls auf den "Goldstandard" (G 2/10) verwiesen wurde; s. auch T 1261/21 und T 1824/22, die beide T 1937/17 stützen.
In T 1133/21 erinnerte die Kammer an die ständige Rechtsprechung, wonach der Inhalt einer Anmeldung nicht als Reservoir genutzt werden darf, aus dem Merkmale verschiedener Ausführungsformen kombiniert werden können, um künstlich eine Ausführungsform zu schaffen. In Ermangelung eines wie auch immer gearteten Hinweises auf die Kombination war die Mehrfachauswahl von Merkmalen für die Fachperson nicht unmittelbar und eindeutig aus dem Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableitbar. T 1621/16 lässt keine Ausnahme von dieser Regel zu, sondern fordert vielmehr, dass ein auf der Grundlage einer Mehrfachauswahl aus Listen konvergierender Alternativen geänderter Anspruch nur dann als mit den Erfordernissen des Art. 123 (2) EPÜ vereinbar erachtet werden kann, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung einen Hinweis auf die sich aus der Mehrfachauswahl ergebende Merkmalskombination enthielt. Dies bedeutet, dass die alleinige Tatsache, dass Merkmale anhand von Listen mehr oder weniger konvergierender Alternativen beschrieben waren, nicht dazu führte, dass der Patentinhaber nach Belieben Merkmale aus einer ersten Liste mit Merkmalen aus einer zweiten Liste kombinieren konnte, die in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbart waren. Eine solche Änderung ist nur dann nach Art. 123 (2) EPÜ zulässig, wenn sie mit dem "Goldstandard" vereinbar ist. Die Beurteilung, ob die Änderung dem Standard genügt, ist äußerst fallspezifisch. Sie erfordert die Berücksichtigung der Lehre der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung in ihrer Gesamtheit unter Vermeidung künstlicher semantischer Auslegungen. Faktoren, die bei der Beurteilung eine Rolle spielen könnten, sind u. a. die Zahl der in der Anmeldung offenbarten Alternativen, Länge, Konvergenz und etwaige Präferenzen in den Listen der aufgezählten Merkmale sowie das Vorhandensein von Beispielen, die auf eine Merkmalskombination hinweisen. Wenn sich z. B. die Werte in einer Reihe von Beispielen in bestimmten Bereichen ballen, kann dies einen Hinweis auf diese Bereiche liefern. Im vorliegenden Fall war die Streitanmeldung als großes Reservoir an Optionen und Alternativen abgefasst, die durch Auswahl und Kombination eine enorme Anzahl von Ausführungsformen zuließen. Auf T 1133/21 berief sich auch die Kammer in T 1261/21 und folgte ihr.
In T 1261/21 hob die Kammer den "Goldstandard" hervor und schloss sich T 1937/17 insoweit an, als bei der Klärung der Frage, ob die aus einer Mehrfachauswahl resultierende Merkmalskombination unmittelbar und eindeutig offenbart war, das erste Kriterium in Nr. 2 des Orientierungssatzes von T 1621/16 ("[wenn] der aus der Mehrfachauswahl resultierende Gegenstand nicht mit einem nicht offenbarten technischen Beitrag in Zusammenhang steht") unberücksichtigt bleiben sollte. Der Schlussfolgerung in Nr. 1 des Orientierungssatzes von T 1621/16 schloss sie sich insofern an, als die Wahl eines mehr oder weniger bevorzugten Elements aus einer Liste konvergierender Alternativen nicht als willkürliche Auswahl behandelt werden sollte, denn sie führt nicht zu einer "Abgrenzung"; für die Vereinbarkeit mit Art. 123 (2) EPÜ ist im Allgemeinen ein Hinweis auf die aus einer Mehrfachauswahl hervorgehenden Merkmalskombination erforderlich (s. zweites Kriterium in Nr. 2 des Orientierungssatzes von T 1621/16). In diesem Zusammenhang bevorzugte die Kammer den Begriff "konvergierende Elemente" gegenüber "konvergierende Alternativen", denn "Alternativen" suggerieren das Vorliegen echter, sich nicht überschneidender Alternativen. Des Weiteren stellte die Kammer fest, dass die Frage, ob die beanspruchte Merkmalskombination lediglich aus der Kombination von Ansprüchen mit entsprechendem Rückbezug aufeinander hervorgeht (s. T 2237/10), bei der Beurteilung der Einhaltung von Art. 123 (2) EPÜ eine Rolle spielt und insbesondere bei der Frage, ob es einen Hinweis auf die beanspruchte Merkmalskombination gibt.