R 0003/15 (Verletzung des rechtlichen Gehörs) 28-11-2017
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Fernrohr mit großem Sehfeld und variabler Vergrößerung
Leica Camera AG
Analytik Jena AG
Carl Zeiss Sports Optics GmbH
Antrag auf Überprüfung - Rügepflicht
Verletzung des rechtlichen Gehörs (ja) - überraschende Entscheidungsbegründung
I. Der Überprüfungsantrag richtet sich gegen die am 1. Oktober 2014 verkündete und der Patentinhaberin/Beschwerdeführerin/Antragstellerin (im Folgenden nur Antragstellerin) am 5. Januar 2015 zugestellte Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.4.02, mit der die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung über die Aufrechterhaltung des europäischen Patents Nr. 1746451 aufgehoben und das Patent widerrufen worden ist.
II. Der Gegenstand der Erfindung betrifft ein Fernrohr oder Zielfernrohr mit fernoptischen Einrichtungen, insbesondere mit einem Umkehrsystem und einer verstellbaren Vergrößerungsoptik. Die Einspruchsabteilung hatte das Patent in geändertem Umfang gemäß einem in der mündlichen Verhandlung als Hilfsantrag 1 vorgelegten Anspruchssatz aufrechterhalten.
III. Als nächstkommender Stand der Technik bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit wurde die offenkundige Vorbenutzung des Fernrohrs IOR-1 geltend gemacht. Die Einspruchsabteilung hat in ihrer Entscheidung drei Unterscheidungsmerkmale des Gegenstands von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 gegenüber dem Fernrohr IOR-1 festgestellt, nämlich dass
i) die verstellbare Vergrößerungsoptik eine mehr als vierfache Vergrößerung aufweist,
ii) das subjektive Sehfeld bei allen Vergrößerungen - und nicht nur, wie dies bei dem Fernrohr IOR-1 der Fall sei, in einem Teilbereich der Vergrößerung mindestens 22° beträgt, und
iii) die optische Strahlumlenkeinrichtung auf der von dem Okular wegweisenden Seite der okularseitigen Bildebene des Fernrohrs angeordnet ist.
IV. Im Beschwerdeverfahren wurden diese drei Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem Fernrohr IOR-1 ausführlich schriftlich wie mündlich erörtert. Die Beschwerdekammer hat im Gegensatz zur Einspruchsabteilung die erfinderische Tätigkeit aberkannt und das Patent widerrufen.
V. Nach Zustellung der schriftlichen Entscheidung der Beschwerdekammer wurde am 5. März 2015 unter Entrichtung der Überprüfungsgebühr ein Überprüfungsantrag eingereicht und begründet. Er ist auf Artikel 112a (2) c) EPÜ (schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs) und Artikel 112a (2) d) EPÜ gestützt. Drei schwerwiegende Verfahrensmängel wurden geltend gemacht:
a) die Zulassung neuer Einwände in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer, nämlich die Kombination der Dokumente E27/E27a bzw. E1 mit dem vorbenutzten Fernrohr IOR-1 (nachstehend: Verfahrensmangel I);
b) eine neue und überraschende Anspruchsauslegung hinsichtlich des Begriffes bei allen Vergrößerungen (siehe oben Merkmal ii)) und eine nicht zu erwartende und überraschende Argumentationslinie bezüglich der erfinderischen Tätigkeit, die in der schriftlichen Entscheidung der Beschwerdekammer zum ersten Mal aufgeführt wurde (nachstehend: Verfahrensmangel II);
c) Widersprüche in der schriftlichen Entscheidung der Beschwerdekammer (nachstehend: Verfahrensmangel III).
VI. Mit Schreiben vom 25. Mai 2016 wurde die Antragstellerin zu einer mündlichen Verhandlung am 19. September 2016 geladen. Eine Mitteilung der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 13 und 14 (2) VOGBK wurde der Ladung beigefügt. In Vorbereitung auf die anberaumte mündliche Verhandlung reichte die Antragstellerin mit Schreiben vom 15. Juli 2016 eine Stellungnahme zur Ergänzung ihres Vorbringens ein.
VII. Mit Beschluss vom 16. September 2016 entschied die Große Beschwerdekammer in ihrer Besetzung nach Regel 109 (2) a) EPÜ, den Überprüfungsantrag der Großen Beschwerdekammer in der Besetzung nach Regel 109 (2) b) EPÜ vorzulegen. Daraufhin wurde der Termin zur mündlichen Verhandlung aufgehoben und die Besetzung der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 7 (1) ihres Geschäftsverteilungsplans auf fünf Mitglieder erweitert.
VIII. Die Einsprechende 01 (im Folgenden: Antragsgegnerin 01) und die Einsprechende 03 (im Folgenden: Antragsgegnerin 03) haben mit Schreiben vom 23. November 2016 und 21. November 2016 zu dem Überprüfungsantrag Stellung genommen. Am 22. März 2017 sind die Parteien des Beschwerdeverfahrens zu einer mündlichen Verhandlung geladen worden. Diese Verhandlung fand am 3. Mai 2017 statt. An ihrem Ende und nach Schließung der sachlichen Debatte wurde den Parteien mitgeteilt, dass das Verfahren schriftlich fortgesetzt wird.
IX. Zu dem Verfahrensmangel I:
A. Die von der Antragstellerin schriftlich und mündlich vorgetragenen Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Die Argumentationslinie, die auf den Dokumenten E27/E27a in Verbindung mit dem vorbenutzten Fernrohr IOR-1 als nächstliegendem Stand der Technik beruhte, wurde erstmals am Nachmittag des zweiten Tages der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer geltend gemacht. Diese Kombination sei weder im Einspruchsverfahren noch in einem früheren Stadium des Beschwerdeverfahrens behandelt worden. Die Dokumente E27/E27a seien im Beschwerdeverfahren zum ersten Mal im Schriftsatz der Einsprechenden 01 vom 23. Dezember 2013 genannt worden, und selbst dort habe jede Argumentation gefehlt, warum sich der Gegenstand des Anspruchs 1 in der von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Fassung - ausgehend von dem Fernrohr IOR-1 als nächstliegendem Stand der Technik - aus den Dokumenten E27/E27a ergeben soll. Die Zulassung dieser Argumentationslinie in der mündlichen Verhandlung stelle einen schweren Verstoß gegen das rechtliche Gehör der Patentinhaberin dar.
b) Eine mögliche Kombination des Dokuments E1 mit dem Fernrohr IOR-1 wurde erstmals im Beschwerdeverfahren vorgetragen. Folglich hatte die Einspruchsabteilung als erste Instanz keine Möglichkeit, sich mit diesen neu erhobenen Einwänden zu befassen. Insbesondere sei auch nicht ersichtlich, warum die Einsprechenden 01 und 03 in dem Verfahren vor der Einspruchsabteilung gehindert gewesen wären, diese neuen Einwände vorzutragen. Vielmehr hatte die Einsprechende 03 auf explizite Nachfrage der Einspruchsabteilung verkündet, im Verfahren keine weiteren Angriffe mehr vorzutragen, obwohl ihr dies ohne weiteres möglich gewesen wäre. Da es seitens der Einsprechenden keine Begründung dafür gab oder geltend gemacht worden ist, warum die neuen Einwände nicht schon vor der Einspruchsabteilung vorgetragen hätten werden können und die das verspätete Vorbringen im Beschwerdeverfahren gerechtfertigt hätte, stelle die Ausübung des Ermessens der Beschwerdekammer, die neuen Einwande zum Verfahren zuzulassen, einen schweren Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ und dem daraus abgeleiteten Recht auf ein faires Verfahren dar.
c) Am Ende der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer wurden von der Patentinhaberin zwei Rügen eingereicht (siehe Protokoll der mündlichen Verhandlung und dessen Anlage). Die erste Rüge lautete wie folgt:
1) Sollte dem Antrag auf Rückverweisung des Verfahrens an die erste Instanz (Einspruchsabteilung) auf Grund der im Beschwerdeverfahren neu erhobenen Einwände gegen die Erfinderische Tätigkeit nicht stattgegeben werden, so erachten wir das Recht der Patentinhaberin auf ein faires Verfahren Art 6 EMRK und rechtliches Gehör, welches über 2 Instanzen zu laufen hat als verletzt. Es handelt sich hierbei auch um einen Verfahrensmangel nach Art 112a EPÜ und Art 113 EPÜ. (Hervorhebung hinzugefügt).
Mit der ausdrücklichen Angabe neu erhobenen Einwände sei spezifisch der Verfahrensmangel, der die Kombinationen der Dokumente betrifft, gerügt worden.
B. Zum Verfahrensmangel I trugen die Antragsgegnerinnen im Wesentlichen vor, dass er nicht von den während der mündlichen Verhandlung eingereichten Rügen umfasst werde. Es sei deshalb gemäß der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer keine wirksame Rüge eingereicht worden, obwohl es in der mündlichen Verhandlung ausreichend Zeit hierfür gegeben habe. Die erste Rüge beziehe sich nicht spezifisch auf die in Frage stehenden Dokumente und befasse sich ausschließlich mit der Frage der Rückverweisung.
X. Zu dem Verfahrensmangel II:
A. Die von der Antragstellerin vorgetragenen Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Aus der schriftlichen Entscheidung wurde erstmalig ersichtlich, dass die Beschwerdekammer das wesentliche Merkmal des Anspruchs 1 bei allen Vergrößerungen (siehe Punkt 21.1.2 der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung - Merkmal (ii)) überraschend dahingehend auslegt habe, dass damit kleine Vergrößerungen bzw. die kleinste Vergrößerung des Fernrohres nicht mitumfasst sein sollen (Punkt 8.4.2 der Entscheidung der Beschwerdekammer). Während des gesamten Verfahrens wurde jedoch davon ausgegangen, dass der Begriff bei allen Vergrößerungen stets auch die kleinste Vergrößerung mitumfasse (siehe Punkt 21.1.2 der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung sowie IV.1.7.1 der Beschwerdebegründung der Einsprechenden 01 und VI.1.5.3 der Beschwerdebegründung der Einsprechenden 03).
b) So habe die Einsprechende 01 beispielsweise auf Seite 28, 2. Absatz, ihrer Beschwerdebegründung ausgeführt, dass der aktuelle Patentanspruch 1 gemäß Streitpatent ein Fernrohr beschreibt, welches bei allen Vergrößerungen ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° aufweist. Auf Seite 42, Absatz 3, führe die Einsprechende 01 in Bezug auf das Fernrohr IOR-1 weiter aus, dass beim Herausdrehen des Okulars die Verringerung des Tunneleffektes und somit die Vergrößerung des subjektiven Sehfeldes bei kleinen Vergrößerungen sichtbar und messbar werden.
c) Die Einsprechende 03 habe in Bezug auf das Fernrohr IOR-1 vorgetragen, dass bei einer bestimmten Dioptrieneinstellung das subjektive Sehfeld trotz Tunneleffekt auch bei der kleinsten Vergrößerung von 2-fach größer als 22° ist (siehe Seite 36, 2. Absatz der Beschwerdebegründung). Der gesamten Diskussion in Bezug auf die Messvorschriften liege das Verständnis zugrunde, dass der gesamte (kleinste bis größte) Vergrößerungsbereich des Fernrohrs IOR-1 maßgeblich sei (vgl. die Punkte IV.1.1.3.1 der Beschwerdebegründung der Einsprechenden 01 und VI.1.3 der Beschwerdebegründung der Einsprechenden 03).
d) Außerdem führe die Beschwerdekammer in Punkt 8.6.1, zweiter Absatz, der Entscheidung (siehe den die Seiten 37 und 38 überbrückenden Satz) aus, dass das Problem des Tunneleffektes bei dem Fernrohr IOR-1 bei Abbildungsmaßstäben zwischen 0,45 und 2,73 bereits gelöst sei. Diese zuvor weder im Einspruchs- noch im Beschwerdeverfahren geäußerte Sichtweise stehe ebenfalls in Widerspruch zu dem gesamten Sachvortrag in dem Verfahren (vgl. Seite 36, Absatz 1 der Beschwerdebegründung der Einsprechenden 03) und auch in Widerspruch zur Aussage der Zeugin Granciu selbst (vgl. Seite 24/31, Absatz 5 des Protokolls der Zeugeneinvernahme).
e) Die überraschende Auffassung der Beschwerdekammer habe zur Folge, dass bei der Beurteilung des Fernrohrs IOR-1 als nächstliegendem Stand der Technik - abweichend von dem im Verfahren etablierten Verständnis - völlig überraschend der Wertebereich ausgeblendet wurde, in welchem unbestritten ein Tunneleffekt auftritt (vgl. den die Seiten 33 und 34 der Entscheidung der Beschwerdekammer überbrückenden Absatz). Diese Ausklammerung eines Bereichs von Vergrößerungen des Fernrohrs IOR-1 bei seiner Erfassung als nächstliegenden Stand der Technik sei durch den Verfahrensverlauf jedoch nicht gerechtfertigt und während des ganzen Verfahrens weder in Betracht gezogen noch erörtert worden.
f) Darüber hinaus habe beispielsweise die Einsprechende 03 in ihrer Beschwerdebegründung in Bezug auf das Fernrohr IOR-1 selbst ausgeführt, dass ab einer Vergrößerung von etwas über 4-fach (etwa 4,5) bis zur größten Vergrößerung von 12-fach das subjektive Sehfeld konstant bei einem Wert von etwa 22,3° liegt und nicht weiter ansteigt, während unter der etwa 4-fachen Vergrößerung das subjektive Sehfeld abfällt (Punkt VI.1.5.2 der Beschwerdebegründung der Einsprechenden 03). Aus dem Vorbringen der Einsprechenden 03, die als einzige der Parteien Zugang zu dem Fernrohr IOR-1 habe, habe sich in dem Beschwerdeverfahren ergeben, dass der tatsächliche Zoombereich des Fernrohrs IOR-1, in welchem ein subjektives Sehfeld von größer als 22° gegeben ist, bei etwa 3 liegt, was einem Bereich der Gesamtvergrößerungen zwischen 12 und 4 entspricht. Die Auffassung der Beschwerdekammer, wonach der beschränkte Zoom des Fernrohrs IOR-1 größer als vierfach sein soll, lasse sich somit aus dem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten in dem Beschwerdeverfahren nicht begründen.
g) Weiterhin stehe die Entscheidung der Beschwerdekammer auch in Gegensatz zu dem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten, gemäß welchem die objektive Aufgabe ausgehend von dem Fernrohr IOR-1 bei gegebener Neuheit der Merkmale i), ii) und iii) darin besteht, einen Tunneleffekt zu beseitigen (siehe Punkte IV.1.2 und IV.1.7.1 der Beschwerdebegründung der Einsprechenden 01 sowie Punkte VI.1.5.3 der Einsprechenden 03).
h) Die neue und überraschende Sichtweise der Beschwerdekammer, die auch im gesamten Beschwerdeverfahren nicht erörtert wurde, stehe somit in Gegensatz zu der während des Verfahrens vorgetragenen Argumentation und stelle einen schweren Verfahrensverstoß dar, da sie in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Widerruf des Patents steht. Die neue Interpretation des Anspruchswortlauts und des technischen Gehalts des Fernrohrs IOR-1 stelle die Grundlage für die abgehandelte Argumentation der Beschwerdekammer in Bezug auf die mangelnde erfinderische Tätigkeit dar, zu welcher die Patentinhaberin auch nicht Stellung nehmen konnte, da sie ebenfalls nicht im Verfahren erörtert wurde, und sei eine notwendige Bedingung für die Schlussfolgerungen der Kammer (siehe Punkt 8.4.2, letzter Absatz i.V.m. Punkt 8.4.3 der Entscheidung der Beschwerdekammer).
B. Die von den Antragsgegnerin 01 vorgetragenen Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Weder habe die Beschwerdekammer ihre Auffassung zu dem Merkmal bei allen Vergrößerungen überraschend geändert noch habe dieser Punkt bei der Entscheidungsfindung eine wesentliche Rolle gespielt. Entscheidend für die Verneinung der erfinderischen Tätigkeit durch die Beschwerdekammer sei der Aspekt gewesen, dass es für den Fachmann äußert trivial ist, für das Fernrohr IOR das entsprechende Merkmal des Patentanspruchs zu ändern, wenn ein Bedarf zu einer alternativen Ausführungsform besteht. Gemäß gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdekammer bestehe die technische Aufgabe nur noch in der Auffindung einer Alternativlösung, wenn wie im vorliegenden Fall - zwischen den Einzelmerkmalen des Anspruchs kein Synergieeffekt bestehe.
C. Die von der Antragsgegnerin 03 vorgetragenen Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Das in Rede stehende Anspruchsmerkmal sei das sogenannte Unterscheidungsmerkmal ii). Die Einspruchsabteilung hatte in ihrer Zwischenentscheidung vom 18. April 2013, Seite 17, Ziffern 19.3.3 und 21.1.2 festgestellt, dass das Fernrohr IOR-1 bei Vergrößerungen zwischen 2.7 und 12 ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° aufweise. Diese Feststellung habe sich die Beschwerdekammer entgegen der Meinung der Antragstellerin zu Eigen gemacht (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.2, dritter Absatz) und die technische Auslegung des Merkmals durch die Einspruchsabteilung unverändert übernommen. Auch die Behauptung der Antragstellerin, die Einsprechende 03 habe in ihrer Beschwerdebegründung in Bezug auf das Fernrohr IOR-1 selbst ausgeführt, dass ein subjektives Sehfeld größer 22° dort nur bei einem Zoombereich von etwa 3 vorliege, sei unzutreffend. Vielmehr sei dort (vgl. Seite 35, Ziffer VI.1.5.2) in Einklang mit der Feststellung der Einspruchsabteilung und der Beschwerdekammer dargelegt worden, dass bei Vergrößerungen zwischen 2,7 und 12 (Zoom-Verhältnis etwa 4,4) das subjektive Sehfeld bei 22° oder größer liege; ab einer Vergrößerung von etwas über 4 erreiche es den Maximalwert von 22,3° und steige dann nicht weiter. Der Offenbarungsgehalt der Vorbenutzung des Fernrohrs IOR-1 sei somit von der Beschwerdekammer identisch beurteilt worden wie erstinstanzlich von der Einspruchsabteilung.
b) Die Beschwerdekammer sei zu einem anderen Ergebnis als die Einspruchsabteilung bei der Ermittlung der technischen Wirkungen der Unterscheidungsmerkmale und der daraus ableitbaren technischen Aufgabe gekommen. Die Einsprechende 03 habe schriftlich vorgetragen, dass die von der Einspruchsabteilung angenommenen technischen Effekte nicht erzielt werden und dementsprechend die angenommene Aufgabe (Vermeidung des Tunneleffekts) nicht gelöst werde. In der Mitteilung zur Ladung der mündlichen Verhandlung hätte die Beschwerdekammer ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die technische Wirkung und die objektive Aufgabe Thema der mündlichen Verhandlung sein werden. Beides sei ausführlich in der mündlichen Verhandlung diskutiert worden. Die Beschwerdekammer habe eine andere technische Aufgabe ermittelt als die Einspruchsabteilung. Dies begründe jedoch keinen schwerwiegenden Verfahrensmangel und keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Alle in der Entscheidung der Beschwerdekammer angesprochenen Gesichtspunkte seien Gegenstand des Beschwerdeverfahrens gewesen, sowohl der Schriftsätze als auch in der mündlichen Verhandlung.
XI. Zu dem Verfahrensmangel III:
A. Die Antragstellerin hat im Wesentlichen vorgetragen, dass die Begründungspflicht für Entscheidungen der Beschwerdekammern, die ausdrücklich in Regel 102 g) EPÜ vorgeschrieben ist, als Korrelat des Äußerungsrechts nach Artikel 113 (1) EPÜ anzusehen sei. Wie in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern und aus der Literatur zu entnehmen sei, müsse die Begründung eine logische Kette von Überlegungen enthalten, die das Ergebnis rechtfertigen. Die Begründungspflicht sei nicht erfüllt, wenn eine Begründung widersprüchliche Feststellungen enthalte. Allein sechs Textstellen in der Begründung der schriftlichen Entscheidung, die die gesamte Argumentationslinie enthalte, die zum Widerruf des Patentes geführt habe, beruhten auf einander widersprechenden Annahmen und stellten somit einen Verstoß gegen die Begründungspflicht dar. Dieser Verstoß stehe in einem ursächlichen Zusammenhang mit der schriftlichen Entscheidung der Beschwerdekammer und stelle einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar.
B. Die Antragsgegnerin 01 hat die Zulässigkeit dieser Rüge in Frage gestellt, da mangelnde bzw. widersprüchliche Begründung der schriftlichen Entscheidung nicht in der Auflistung der Überprüfungsgründe gemäß Artikel 112a (2) EPÜ in Verbindung mit Regel 104 EPÜ enthalten sei. Das Überprüfungsverfahren nach Artikel 112a EPÜ diene nicht dazu, die sachliche Richtigkeit der angefochtenen Beschwerdeentscheidung, also die Anwendung des materiellen Rechts und der im EPÜ festgelegten Verfahrensvorschriften, zu überprüfen, sofern es sich nicht um schwerwiegende Verfahrensmängel handle. Mit dem von der Antragstellerin geltend gemachten Verfahrensmangel III wende sich die Antragstellerin lediglich gegen die sachliche Begründung der Entscheidung der Beschwerdekammer, die nicht Gegenstand eines Überprüfungsverfahrens sein könne.
C. Die Antragsgegnerin 03 hat sich mit den einzelnen von der Antragstellerin geltend gemachten widersprüchlichen Feststellungen in der schriftlichen Entscheidung auseinander gesetzt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Widersprüche in der schriftlichen Entscheidung nicht vorhanden seien.
XII. Am Ende der mündlichen Verhandlung wurden abschließend vor der Großen Beschwerdekammer die bereits im schriftlichen Verfahren gestellten Anträge festgestellt:
Die Antragstellerin beantragte:
a) die Aufhebung der Entscheidung T 1225/13 vom 1. Oktober 2014 und die Wiedereröffnung des Verfahrens;
b) die Anordnung, die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen und
c) die Anordnung, die Überprüfungsgebühr zurückzuzahlen.
Die Antragsgegnerin 01 (Einsprechende 01) beantragte, den Antrag auf Überprüfung bezüglich der geltend gemachten Verfahrensmängel I und III als unzulässig zu verwerfen und bezüglich des Verfahrensmangels II als unbegründet zurückzuzuweisen. Die Antragsgegnerin 03 (Einsprechende 03) beantragte, den Antrag auf Überprüfung zurückzuweisen.
Zulässigkeit des Überprüfungsantrags - Antragsfrist
1. Die schriftliche Entscheidung der Beschwerdekammer wurde dem Vertreter der Antragstellerin mittels eingeschriebenen Briefs vom 5. Januar 2015 zugestellt und ging ihm am 8. Januar 2015 zu. Somit lief die Zweimonatsfrist zur Einreichung eines Überprüfungsantrags gemäß Artikel 112a (4) Satz 2 i.V. mit Regeln 126 (2) und 131 (1) und (4) EPÜ am Montag, dem 16. März 2015 ab. Mit einem am 5. März 2015 eingegangenen Schreiben reichte die Antragstellerin den Überprüfungsantrag ein und entrichtete am selben Tag die Überprüfungsgebühr. Der Antrag war mit einer Begründung versehen, die den Anforderungen der Regel 107 (2) EPÜ genügt. Der Überprüfungsantrag ist infolgedessen rechtzeitig gestellt worden.
Zu den einzelnen geltend gemachten Verstößen gegen Artikel 113 (1) EPÜ
VERFAHRENSMANGEL I: Zulassung neuer Einwände in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer: Kombination der Dokumente E27/E27a mit dem Fernrohr IOR-1 sowie Kombination des Dokuments E1 mit dem Fernrohr IOR-1
2. Zulässigkeit des Überprüfungsantrags - Rügepflicht gemäß Regel 106 EPÜ
2.1 Ein besonderes Zulässigkeitserfordernis enthält Regel 106 EPÜ. Die Vorschrift bestimmt, dass der Antrag auf Überprüfung nur dann zulässig ist, wenn der behauptete Verfahrensmangel während des Beschwerdeverfahrens beanstandet worden ist und die Beschwerdekammer den Einwand zurückgewiesen hat, es sei denn, der Einwand konnte im Beschwerdeverfahren nicht erhoben werden. Angesichts dieser vorgeschriebenen Rügepflicht ist es einem Beteiligten verwehrt, die Führung des Beschwerdeverfahrens kritiklos hinzunehmen und dann anschließend bei einer ungünstigen Entscheidung einen behaupteten Verfahrensverstoß zur Grundlage eines Überprüfungsantrags zu machen. Um wirksam zu sein, muss die Rüge nach ständiger Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer (siehe insbesondere R 4/08 vom 20. März 2009, Nr. 2.1) zum einen ausdrücklich und in einer von sonstigen Erklärungen abgehobenen Form vorgebracht werden, damit die Beschwerdekammer unmittelbar und zweifelsfrei erkennen kann, dass es sich um einen Einwand nach Regel 106 EPÜ handelt; zum anderen muss die Rüge spezifisch sein, d.h. sie muss eindeutig angeben, welcher der in Artikel 112a (2) a) bis c) und in Regel 104 EPÜ aufgeführten besonderen Verfahrensmängel geltend gemacht werden soll.
2.2 Wie unter Punkt IX.1 dargelegt, wurde in dem Überprüfungsantrag vorgetragen, dass die Argumentation, die auf den Dokumenten E27/E27a mit dem Fernrohr IOR-1 als nächstliegendem Stand der Technik beruhte, erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer geltend gemacht wurde. Die Kombination des Fernrohrs IOR-1 als nächstliegenden Standes der Technik und der Dokumente E27/E27a sei weder im Einspruchsverfahren noch zuvor im Beschwerdeverfahren behandelt worden. Weiterhin wurde auch gerügt, dass die Kombination des Dokuments E1 mit dem Fernrohr IOR-1 erstmals im Beschwerdeverfahren vorgetragen wurde, obwohl die Einsprechenden nicht gehindert waren, diese neuen Einwände früher vorzutragen. Die Ausübung des Ermessens der Beschwerdekammer, die neuen Einwände zuzulassen, stelle einen schweren Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ und eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren dar. Diese Verstöße gegen Artikel 113 (1) EPÜ wurden in Zusammenhang mit der am Ende der mündlichen Verhandlung eingereichten ersten Rüge geltend gemacht, da in dieser ausdrücklich auf neu erhobene Einwände Bezug genommen wurde.
2.3 Die Große Beschwerdekammer vermag der Rechtsauffassung der Antragstellerin nicht beizutreten:
Wie von der Antragstellerin vorgetragen, wurde die Argumentation hinsichtlich einer Kombination der Dokumente E27/E27a mit dem Fernrohr IOR-1 sowie des Dokuments E1 mit dem Fernrohr IOR-1 in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer zugelassen und erörtert. Aus dem Vortrag der Antragstellerin ist nicht zu entnehmen, dass sie sich zu diesen neuen Einwänden nicht äußern konnte. Am Ende der mündlichen Verhandlung wurden zwei Rügen gemäß Regel 106 EPÜ eingereicht und Einwände bezüglich Verstöße gegen Artikel 113 (1) EPÜ diskutiert. Die erste Rüge betrifft den Antrag auf Rückverweisung des Verfahrens an die erste Instanz (Einspruchsabteilung) auf Grund der im Beschwerdeverfahren neu erhobenen Einwände gegen die erfinderische Tätigkeit. Die zweite Rüge betrifft die Einreichung von Hilfsanträgen während des Beschwerdeverfahrens und die Zusammenbehandlung mehrerer Beschwerden in einem einzigen Beschwerdeverfahren. Weder die erste noch die zweite Rüge erwähnt die Kombination der Dokumente E27/E27a bzw. E1 mit dem Fernrohr IOR-1 und die diesbezügliche Argumentation. Insofern wurde die Zulassung der Argumentation weder ausdrücklich noch spezifisch gerügt. Die Antragstellerin hätte bei der Diskussion der Kombination dieser Dokumente in der mündlichen Verhandlung ohne weiteres vortragen können, dass das rechtliche Gehör durch die Zulassung neuer und überraschender Argumentation schwerwiegend verletzt sei. Dies ist aber nicht geschehen. Wenn die Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt der Auffassung war, dass die späte Zulassung der Argumentation eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellte, so hätte sie dies unverzüglich in der mündlichen Verhandlung nach Regel 106 EPÜ rügen müssen, spätestens jedenfalls zusammen mit den zwei schriftlich eingereichten Rügen.
2.4 Der Überprüfungsantrag ist daher hinsichtlich des geltend gemachten schwerwiegenden Verfahrensmangels I nicht zulässig.
VERFAHRENSMANGEL II: überraschende neue Anspruchsauslegung des Begriffes bei allen Vergrößerungen und Argumentationslinie bezüglich erfinderischer Tätigkeit in der schriftlichen Entscheidung der Beschwerdekammer
3. Rügepflicht gemäß Regel 106 EPÜ
Die Große Beschwerdekammer stimmt mit der Antragstellerin überein, dass der behauptete Verfahrensmangel II einen Mangel betrifft, der erst mit der Zustellung und der Lektüre der schriftlich begründeten Entscheidung erkennbar wurde. Deshalb war die Antragstellerin nicht in der Lage, entsprechende Einwände schon im Beschwerdeverfahren bzw. in der mündlichen Verhandlung gemäß Regel 106 EPÜ zu erheben. Der Antrag ist daher insoweit zulässig.
4. Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 113 (1) EPÜ - überraschende Entscheidungsbegründung
4.1 Allgemeines
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 113 (1) EPÜ erfordert es, dass die Entscheidung nur auf Gründe gestützt werden darf, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Dies bedeutet insbesondere, dass ein Beteiligter nicht durch bisher unbekannte Gründe und Beweismittel in der Entscheidungsbegründung überrascht werden darf (vgl. z.B. R 15/09 vom 5. Juli 2010, R 21/10 vom 15. Juni 2012, R 3/13 vom 30. Januar 2014). Unter Gründe im Sinne des Artikels 113 (1) EPÜ werden die wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründe verstanden, auf denen eine Entscheidung beruht. Dies bedeutet aber nicht, dass das entscheidende Organ verpflichtet ist, den Beteiligten im Voraus alle Entscheidungsgründe im Einzelnen darzulegen. In den Entscheidungen R 3/10 vom 29. September 2011, R 15/11 vom 13. Mai 2013 und R 16/13 vom 8. Dezember 2014 wurde dem Überprüfungsantrag wegen einer in den Entscheidungsgründen enthaltenen überraschenden Begründung, zu der die Beteiligten sich nicht hatten äußern können, stattgegeben.
4.2 Zum vorliegenden Fall
4.2.1 Zur Beantwortung der Frage, ob der Antragstellerin (Patentinhaberin) in dem Verfahren vor der Beschwerdekammer das rechtliche Gehör nach Artikel 113 (1) in Verbindung mit Artikel 112a (2) c) EPÜ in schwerwiegender Weise versagt worden ist, ist eine sorgfältige Bewertung der getroffenen schriftlichen Entscheidung vor dem Hintergrund des Einspruchs- bzw. des Einspruchsbeschwerdeverfahren notwendig (vgl. z.B. R 16/13 vom 8. Dezember 2014, Entscheidungsgründe Nr. 2; R 8/13 vom 15. September 2015, Entscheidungsgründe Nr. 9; R 4/14 vom 6. Juni 2016, Entscheidungsgründe Nr. 2-7; R 1/15 vom 3. Juni 2016, Entscheidungsgründe Nr. 3).
4.2.2 Die Einspruchsabteilung ist unter Würdigung der Beweismittel bezüglich der offenkundigen Vorbenutzung des Fernrohrs IOR-1 zu dem Schluss gekommen, dass das beanspruchte Fernrohr sich hiervon durch folgende Merkmale unterscheidet:
i) Während das Umkehrsystem des Fernrohrs IOR einen variablen Abbildungsmaßstab zwischen 0,45 und 2,73 hat, weist die verstellbare Vergrößerungsoptik des beanspruchten Fernrohrs eine mehr als vierfache Vergrößerung auf;
ii) während die objektivseitige und die okularseitige Feldblende des Fernrohrs IOR-1 bewirken, dass das Fernrohr ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° bei einer Vergrößerung von 2,7 bis 12 und von kleiner 22° bei einer Vergrößerung von 2,0 bis 2,7 hat, weist das beanspruchte Fernrohr bei allen Vergrößerungen ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° auf (Unterstreichung von der Großen Beschwerdekammer hervorgehoben), und
iii) während die optische Strahlumlenkeinrichtung des Fernrohrs IOR-1 in der okularseitigen Bildebene des Fernrohrs liegt und sie nur unter besonderen Voraussetzungen - z. B. für Objektentfernungen kleiner 96,5 m und bei einer Vergrößerung von 12 - auf der vom Okular wegweisenden Seite der okularseitigen Bildebene liegt, ist die Strahlumlenkeinrichtung bei dem beanspruchten Fernrohr auf der vom Okular wegweisenden Seite der okularseitigen Bildebene des Fernrohrs angeordnet.
4.2.3 Ein wesentlicher Diskussionspunkt im Verfahren vor der Einspruchsabteilung war wie in dem Überprüfungsantrag von der Antragstellerin geltend gemacht die Auslegung des Begriffs bei allen Vergrößerungen in dem Unterscheidungsmerkmal ii).
4.3 Vor der Einspruchsabteilung
In ihrer Entscheidung (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 21.1.2) hat die Einspruchsabteilung diesen Begriff so ausgelegt, dass alle möglichen Vergrößerungen des Fernrohrs IOR-1 darunter fallen. Die Neuheit des Merkmals ii) gegenüber diesem Stand der Technik wurde dann von der Einspruchsabteilung als gegeben angesehen, da das Sehfeld des Fernrohrs IOR-1 im Bereich von Vergrößerungen zwischen 2 und 2.7 kleiner als 22° sei.
4.4 Beschwerdeverfahren Verfahren vor der schriftlichen Entscheidung
4.4.1 Im Bescheid der Beschwerdekammer vom 30. Juni 2014 zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung wurde zuerst auf die Argumente der Einsprechenden Bezug genommen (Seite 10, erster Absatz), nach denen auch Merkmal ii) aus dem o.g. Stand der Technik bekannt sei. Dann wurde von der Beschwerdekammer darauf hingewiesen, dass sich die bereits in der Entscheidung der Einspruchsabteilung (vgl. unter Nr. 22.1 Absatz (d)) aufgeworfene Frage stelle, ob eine Beschränkung des effektiven Zoombereichs des Fernrohrs IOR-1 zum Merkmal ii) führen könnte und ob eine solche technische Maßnahme für den Fachmann naheliegend wäre (vgl. Seite 11 letzter Absatz).
4.4.2 Hieraus folgt, dass Fragen in Bezug auf das Unterscheidungsmerkmal ii) und den Stand der Technik IOR-1 vor der Beschwerdekammer noch zu diskutieren waren, insbesondere ob dieses Merkmal bekannt oder unter Berücksichtigung aller möglichen Vergrößerungen des Standes der Technik nahegelegt war.
4.5 Beschwerdeverfahren - schriftliche Entscheidung
4.5.1 Nachdem die Beschwerdekammer das Fernrohr IOR-1 als Stand der Technik anerkannte (vgl. auch Protokoll der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer, Seite 5, zweiter Absatz: die Kammer zur Auffassung gelangt sei, dass das Zielfernrohr IOR mit den von der Einspruchsabteilung festgestellten optischen Eigenschaften und dem festgestellten Aufbau Stand der Technik sei.), hat sie die Neuheit des Unterscheidungsmerkmals ii) mit der Erwägung bejaht, dass seine Neuheit darin liege, dass die beanspruchte Erfindung auf den Zoom-Teilbereich 2,0-2,7 (...) verzichtet (vgl. Entscheidungsgründe 8.6.2). Dieser Verzicht stelle aber eine naheliegende Maßnahme dar.
4.5.2 Bei der Beurteilung der Frage der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von dem Stand der Technik IOR-1 hat sich die Beschwerdekammer mit der Frage auseinandergesetzt, welche objektive technische Aufgabe gelöst wird. Die durch die drei oben angegebenen Unterscheidungsmerkmale erreichten Wirkungen wurden analysiert.
4.5.3 Zuerst hat die Beschwerdekammer sich mit der Auslegung des Wortlauts des Anspruchs 1 auseinandergesetzt und festgestellt, dass Anspruch 1 nicht die Bedingung enthält, dass ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° auch bei niedrigsten Vergrößerungen erreicht wird (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.2 erster Absatz: Laut Patentschrift wird durch die Erfindung ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° erreicht, und zwar bei allen Vergrößerungen des Fernrohrs und insbesondere bei niedrigen Vergrößerungen bzw. bei der niedrigsten Vergrößerung (Absatz [0009]). Die letzte Bedingung findet sich allerdings nicht im Patentanspruch 1.) und dass der Bereich von Vergrößerungen in der beanspruchten Erfindung nur durch das Merkmal mit einem maximalen Zoom größer vierfach beschränkt sei (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.2 erster Absatz: So wird der Bereich von Vergrößerungen des Fernrohrs in der beanspruchten Erfindung nur durch das Merkmal "mit einem maximalen Zoom größer vierfach" beschränkt,...). Die Beschwerdekammer kommt dann zu dem Ergebnis, dass die tatsächlich erzielte technische Wirkung der Erfindung daher sei, ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° in einem Bereich von Vergrößerungen des Fernrohrs, der einem Zoom-Verhältnis größer vierfach entspricht, zu erreichen (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.2 zweiter Absatz).
4.5.4 Aus dem Vorstehenden ist zu entnehmen, dass aus der Sicht der Beschwerdekammer bei sachgemäßer Auslegung des Wortlauts des Anspruchs 1 das Erreichen eines subjektiven Sehfeld von mindestens 22° losgelöst von der niedrigsten Vergrößerung anzusehen ist. In anderen Worten: es ist für die Feststellung der technischen Wirkung der Unterscheidungsmerkmale nicht notwendig, alle möglichen Vergrößerungen zu berücksichtigen. Es genügt, einen Bereich von Vergrößerungen zu berücksichtigen, in dem das Zoomverhältnis größer vierfach ist.
4.5.5 Diese Auslegung wendet die Beschwerdekammer entsprechend bei der Feststellung der technischen Wirkung gegenüber dem Stand der Technik IOR-1 an. Die Kammer kommt zu dem Ergebnis, dass die Wirkung hinsichtlich des subjektiven Sehfelds von mindestens 22° bereits im Stand der Technik erzielt wird, da dort in dem Bereich von Vergrößerungen zwischen 2,7 und 12 sowohl ein Sehfeld größer 22° als auch ein Zoom-Verhältnis von etwa 4,4 vorhanden ist (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.2 dritter Absatz: Das Fernrohr IOR weist aber bereits ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° in dem Bereich von Vergrößerungen zwischen 2,7 und 12 (vgl. Nr. 8.3 oben), d. h. in einem Bereich von Vergrößerungen, der einem Zoom-Verhältnis von etwa 4,4, und damit größer vierfach entspricht.).
4.5.6 Die Beschwerdekammer kommt dann zu dem Schluss, dass die objektiv gelöste Aufgabe lediglich darin besteht, eine alternative Ausführungsform des Fernrohrs IOR-1 bereitzustellen (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.3: Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass der Auffassung der Einspruchsabteilung, wonach die beanspruchte Merkmalskombination gegenüber dem Fernrohr IOR das Problem eines Tunneleffekts löse, nicht gefolgt werden kann. Es lässt sich mit Blick auf die technische Wirkung der Unterscheidungsmerkmale auch keine andere technische Aufgabe ermitteln, die durch die beanspruchten Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem nächstkommenden Stand der Technik eindeutig gelöst würde. Ausgehend von dem Fernrohr IOR kann daher die durch die beanspruchte Erfindung objektiv gelöste technische Aufgabe lediglich darin gesehen werden, eine alternative Ausführungsform des Fernrohrs IOR bereitzustellen.).
4.5.7 Durch diese neue Auslegung des Patentanspruchs 1 wird das Unterscheidungsmerkmal ii) zum Fernrohr IOR-1 (während die objektivseitige und die okularseitige Feldblende des Fernrohrs IOR bewirken, dass das Fernrohr ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° bei einer Vergrößerung von 2,7 bis 12 und von kleiner 22° bei einer Vergrößerung von 2,0 bis 2,7 hat, weist das beanspruchte Fernrohr bei allen Vergrößerungen ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° auf, vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.3) in Betracht auf die erfinderische Tätigkeit vollständig außer Acht gelassen, weil alle Vergrößerungen nur auf den Bereich von 2,7 bis 12 (oder z.B. 2,7-10,8 oder 3-12) bezogen wird.
4.5.8 Die von der Beschwerdekammer vorgenommene neue Formulierung der Aufgabe ausgehend von einer zum ersten Mal in der Begründung der schriftlichen Entscheidung eingeführten Auslegung des Patentanspruchs 1 war bisher sowohl im Einspruchverfahren als auch im Beschwerdeverfahren von keinem der Beteiligten vorgetragen worden. Aus dem Vorbringen der Parteien ist abzuleiten, dass nicht nur die Antragstellerin, sondern auch die Antragsgegnerinnen bei der Diskussion bezüglich des Merkmals ii) von einer anderen Interpretation des Patentanspruchs 1 ausgingen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdekammer ihre neue Sichtweise während der mündlichen Verhandlung erwähnt hat. Dies hat zur Folge, dass die Antragstellerin von dieser Argumentation in der Entscheidung überrascht wurde und zu dieser neuen Argumentation der Beschwerdekammer zur erfinderischen Tätigkeit nicht Stellung nehmen konnte. Hierin liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs.
4.5.9 Zwar wurden - wie von der Antragsgegnerin 03 schriftlich und mündlich vorgetragen - in der oben genannten Mitteilung der Kammer vom 30. Juni 2014 die Fragen aufgeworfen, ob eine Beschränkung des effektiven Zoombereichs des Fernrohrs IOR zum Merkmal ii) führen könnte und ob eine solche technische Maßnahme für den Fachmann naheliegend wäre (vgl. Seite 11, letzter Absatz: ... Während der mündlichen Verhandlung wird daher zu erörtern sein, wie die möglichen Unterscheidungsmerkmale mit den übrigen Merkmalen des beanspruchten Fernrohrs zusammenwirken und welche der technischen Wirkungen, die die Beteiligten in Betracht gezogen haben (d.h. ein größerer Geländeausschnitt, der überblickt werden kann, eine Reduzierung des so genannten Tunneleffekts, ein größeres subjektives Sehfeld, usw.), sich aus dieser Zusammenwirkung tatsächlich ergeben. Es stellt sich auch die Frage, ob eine Beschränkung des effektiven Zoombereichs des Fernrohrs IOR zum Merkmal ii) führen könnte ... und ob eine solche technische Maßnahme für den Fachmann naheliegend wäre.).
4.5.10 Diese Fragen wurden aber im Verfahren vor der Beschwerdekammer nicht in dem Kontext der von ihr vorgenommenen und erst aus den schriftlichen Entscheidungsgründen erkennbaren neuen Auslegung des Patentanspruchs 1 angesprochen, nämlich dass bei der Auslegung des Merkmals ii) nicht alle möglichen Vergrößerungen zu berücksichtigen sind und folglich dem Merkmal ii) keine weitere Wirkung, die nicht bereits vom Stand der Technik IOR-1 erreicht wird, zuzuordnen ist. Die wesentlichen Überlegungen, die die Beschwerdekammer in ihrer schriftlichen Entscheidung hinsichtlich des Naheliegens des Merkmals ii) zugrunde gelegt hat, waren deshalb für die Antragstellerin nicht erkennbar und somit überraschend.
4.5.11 Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist auch schwerwiegend, da diese neue Interpretation des Patenanspruchs 1 zu einer neuen Betrachtung der erfinderischen Tätigkeit geführt hat (objektiv gelöste Aufgabe sei lediglich, eine alternative Ausführungsform des Fernrohrs IOR-1 bereitzustellen) und somit zu einem negativen Ergebnis für die Antragstellerin wesentlich beigetragen hat. Dies bedeutet, dass die Antragstellerin zu einer Argumentation nicht Stellung nehmen konnte, die dazu geführt hat, dass ihr Patent widerrufen wurde. Die gesamte Diskussion über das Naheliegen der Erfindung hätte voraussichtlich anders verlaufen und durchaus zu einem anderem Ergebnis führen können, wenn die neue Auslegung des Patentanspruchs 1 mit den Beteiligten erörtert worden wäre.
4.5.12 Die Große Beschwerdekammer kommt somit zu der Schlussfolgerung, dass im Hinblick auf Verfahrensmangel II der in Artikel 112a (2) c) EPÜ in Verbindung mit Artikel 113 (1) EPÜ genannten Grund vorliegt und die angefochtene Entscheidung deshalb aufgehoben werden muss.
VERFAHRENSMANGEL III: Widersprüche in der schriftlichen Entscheidung der Beschwerdekammer (Art. 113 (1) EPÜ i.V.m. Art. 112a (2) c) EPÜ; Regel 102 g) EPÜ)
5. Aufgrund des gerügten Verfahrensfehlers II ist die Große Beschwerdekammer zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die zu überprüfende Entscheidung aufzuheben und das Verfahren vor der Beschwerdekammer wiederzueröffnen ist. Eine Auseinandersetzung mit dem behaupteten Verfahrensfehler III, der nach dem Vorbringen der Antragstellerin aus Widersprüchen in der schriftlichen Entscheidung besteht, erübrigt sich deshalb. Auch die Frage, ob diese Rüge überhaupt zulässig ist, weil sie nicht offensichtlich auf einen im EPÜ genannten Überprüfungsgrund abzielt, kann dahingestellt bleiben.
Ersetzung der Mitglieder der Beschwerdekammer
6. Wird einem Überprüfungsantrag stattgegeben, so kann die Große Beschwerdekammer ... anordnen, dass Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen sind (Regel 108 (3) Satz 2 EPÜ). Die Entscheidung, eine Ersetzung von Kammermitgliedern anzuordnen oder nicht, liegt im Ermessen der Großen Beschwerdekammer. Dieses Ermessen ist unter Berücksichtigung des Sachverhalts gerecht und verhältnismäßig auszuüben (siehe R 21/11 vom 15. Juni 2012, Entscheidungsgründe Nr. 27; R 15/11 vom 13. Mai 2013, Entscheidungsgründe Nr. 9).
7. Im vorliegenden Fall wurde der gestellte Antrag auf Ersetzung der Mitglieder der Beschwerdekammer weder in dem mit Schreiben vom 5. März 2015 eingereichten Überprüfungsantrag noch in dem späteren Schreiben der Antragstellerin vom 15. Juli 2016 begründet. Auch in der mündlichen Verhandlung vor der Großen Beschwerdekammer wurden von der Antragstellerin keine substantiellen Gründe vorgetragen; vielmehr wurde ausschließlich der Antrag auf Ersetzung der Mitglieder wiederholt. Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass die fehlende Substantiierung des Antrags als solche schon ausreichen würde, dem Antrag nicht stattzugeben (vgl. auch R 16/13 vom 8. Dezember 2014, Entscheidungsgründe Nr. 7). Die Große Beschwerdekammer sieht im Übrigen auch inhaltlich keine Veranlassung, in Ausübung ihres Ermessens nach Regel 108 (3) Satz 2 EPÜ eine Ersetzung der Mitglieder anzuordnen. Das Beschwerdeverfahren wird daher vor der Beschwerdekammer, die gemäß der Geschäftsverteilung zuständig ist, wiedereröffnet, d.h. vor der Beschwerdekammer in der Besetzung, die die zu überprüfende Entscheidung erlassen hat. Die Notwendigkeit einer Änderung der Zusammensetzung der Beschwerdekammer ergibt sich jedoch aus der Tatsache, dass zwei ihrer bisherigen Mitglieder in der Zwischenzeit aus dem Dienst ausgeschieden sind. Es obliegt dem Vorsitzenden der Kammer, die neue Zusammensetzung der Kammer zu bestimmen.
Rückzahlung der Gebühr für den Überprüfungsantrag
8. Gemäß Regel 110 EPÜ ordnet die Große Beschwerdekammer die Rückzahlung der Gebühr für einen Antrag auf Überprüfung an, wenn das Verfahren vor den Beschwerdekammern wiedereröffnet wird. Die Anordnung der Rückzahlung der Überprüfungsgebühr ist nach Regel 110 EPÜ zwingend vorgeschrieben. Ein Ermessen nach Billigkeitsgesichtspunkten wie bei der Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 103 (1) a) EPÜ ist nicht vorgesehen. Da im vorliegenden Fall die Bedingung der Wiedereröffnung des Beschwerdeverfahrens erfüllt ist, ist die Rückzahlung der Überprüfungsgebühr anzuordnen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Beschwerdekammer 3.4.02 wird angeordnet.
3. Die Gebühr für den Antrag auf Überprüfung wird zurückgezahlt.
4. Der Antrag, die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen, wird zurückgewiesen.