T 1216/12 14-12-2017
Download und weitere Informationen:
Elektrolytkondensatoren mit polymerer Aussenschicht
Rücknahme des Einspruchs - keine unmittelbaren verfahrensrechtlichen Folgen
Einwendungen Dritter - Berücksichtigung anonymer Einwendungen (nein)
Einwendungen Dritter - Berücksichtigung weiterer Einwendungen (ja)
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - nach Änderung (ja)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. EP-B-1 524 678 zu widerrufen (Artikel 101 (2) und (3) b) EPÜ).
II. Der Einspruch war gegen das Patent im gesamten Umfang gerichtet und darauf gestützt, dass das Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne (Artikel 100 b) EPÜ 1973) und dass der Gegenstand des Patents nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe (Artikel 100 a) EPÜ 1973 in Verbindung mit Artikel 52(1) EPÜ und Artikel 56 EPÜ 1973).
III. Folgende Dokumente wurden im Beschwerdeverfahren zitiert:
E4: US-A-6,001,281,
E5: JP 2002-25862 A,
E12: Eidesstattliche Erklärung ("affidavit") von Herrn Udo Merker, datiert vom 20. Juli 2012,
E13: Erklärung von Herrn Toshiya Sawai, datiert vom 11. Dezember 2012,
E14: Erklärung von Herrn Toshiya Sawai, datiert vom 21. Juni 2013.
IV. Die ehemalige Beschwerdegegnerin (ehemalige Einsprechende) nahm mit Schreiben vom 13. Oktober 2017 den Einspruch zurück und ist folglich nicht mehr am Verfahren beteiligt.
V. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer beantragte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin), die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
- Ansprüche 1-29 des Hauptantrags, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,
- Seiten 2-19 der Beschreibung, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,
- Figuren 1-3 wie im erteilten Patent.
VI. Der Wortlaut der unabhängigen Ansprüche 1, 17 und 29 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"1. Elektrolytkondensator enthaltend
einen porösen Elektrodenkörper eines Elektrodenmaterials,
ein Dielektrikum, das die Oberfläche dieses Elektrodenmaterials bedeckt,
einen Feststoffelektrolyten enthaltend ein leitfähiges Material, der die Dielektrikumsoberfläche ganz oder teilweise bedeckt,
eine Schicht auf der ganzen oder einem Teil der äußeren Oberfläche des mit einem Dielektrikum sowie ganz oder teilweise mit einem Feststoffelektrolyten bedeckten porösen Elektrodenkörpers enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substituiertes Polyanilin und/oder wenigstens ein Polythiophen mit wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II),
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
worin
A für einen gegebenenfalls substituierten C1-C5-Alkylenrest steht,
R für einen linearen oder verzweigten, gegebenenfalls substituierten C1-C18-Alkylrest, einen gegebenenfalls substituierten C5-C12-Cycloalkylrest, einen gegebenenfalls substituierten C6-C14-Arylrest, einen gegebenenfalls substituierten C7-C18-Aralkylrest, einen gegebenenfalls substituierten C1-C4-Hydroxyalkylrest oder einen Hydroxylrest steht,
x für eine ganze Zahl von 0 bis 8 steht und
für den Fall, dass mehrere Reste R an A gebunden sind, diese gleich oder unterschiedlich sein können,
dadurch gekennzeichnet, dass die Schicht enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substituiertes Polyanilin und/oder wenigstens ein Polythiophen mit wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II) wenigstens einen Binder enthält, wobei der Binder ein polymerer organischer Binder ist."
"17. Verfahren zur Herstellung eines Elektrolytkondensators gemäß wenigstens einem der Ansprüche 1 bis 7 und 9 bis 16, dadurch gekennzeichnet, dass der Feststoffelektrolyt enthaltend wenigstens ein leitfähiges Polymer hergestellt wird, indem Vorstufen zur Herstellung leitfähiger Polymere, ein oder mehrere Oxidationsmittel und gegebenenfalls Gegenionen, zusammen oder nacheinander gegebenenfalls in Form von Lösungen, auf ein - gegebenenfalls mit weiteren Schichten belegtes - Dielektrikum eines porösen Elektrodenkörpers aufgebracht und chemisch oxidativ bei Temperaturen von -10°C bis 250°C polymerisiert werden, oder dass Vorstufen zur Herstellung leitfähiger Polymere und Gegenionen gegebenenfalls aus Lösung durch elektrochemische Polymerisation bei Temperaturen von -78°C bis 250°C auf einem - gegebenenfalls mit weiteren Schichten belegten - Dielektrikum eines porösen Elektrodenköpers polymerisiert werden, und gegebenenfalls nach Aufbringen weitere Schichten auf den Kondensatorkörper die Schicht enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substituiertes Polyanilin und/oder ein Polythiophen mit wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II)
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
worin
A, R und x die in Anspruch 1 oder 8 genannte Bedeutung haben, und wenigstens einem polymeren organischen Binder aus einer Dispersion enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substituiertes Polyanilin und/oder ein Polythiophen mit wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II) und wenigstens einen polymeren organischen Binder aufgebracht wird."
"29. Verwendung von Elektrolytkondensatoren gemäß wenigstens einem der Ansprüche 1 bis 16 in elektronischen Schaltungen."
VII. Die Beschwerdeführerin und die ehemalige Beschwerdegegnerin haben im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
a) Verfahrensbelange
Nach Ansicht der Beschwerdeführerin sollten die anonymen Einwendungen Dritter nicht in das Verfahren zugelassen werden. Zwei der zitierten Dokumente entsprächen den bereits im Einspruchsverfahren zitierten Dokumenten E4 bzw. E5 und ein weiteres Dokument sei weniger relevant als Dokument E5. Schließlich sei lediglich eine partielle Übersetzung des Dokuments E5 eingereicht worden, die nur Seiten mit ungerader Seitenzahl aufweise.
Die ehemalige Beschwerdegegnerin trug vor, dass Dokument E12 lediglich zum Nachweis der Komplexität von Kondensatoren eingereicht worden sei und für die Streitpunkte der Beschwerde nicht relevant sei und daher nicht in das Verfahren zugelassen werden solle.
b) Hauptantrag - Offenbarung
Die ehemalige Beschwerdegegnerin brachte vor, dass die bloße Anwesenheit eines Binders nicht die Reduzierung des Wertes des äquivaltenten Serienwiderstandes ("equivalent series resistance" - ESR) des Kondensators gewährleiste. Dies gehe aus den mit den Einspruchsgründen eingereichten Vergleichsversuchen hervor, welche belegten, dass wenigstens Binderanteile von 54%, 80% und 90% nicht zu einem niedrigen ESR-Wert führten. Gegen den Einwand, die Vergleichsversuche seien falsch oder unsolide, werde Dokument E13 eingereicht, welches eine Erklärung des Urhebers der Vergleichsversuche enthalte. Außerdem sei die Anwesenheit eines Binders lediglich einer der Paramter, welche den ESR-Wert beeinflussten. Dokument E12 zeige, dass der ESR-Wert auch stark durch die Formierspannung, die Größe des porösen Elektrodenkörpers, die spezifische Kapazität der Tantalpulverkörnchen und die Anzahl der Beschichtungsvorgänge zur Herstellung der inneren leitenden Polymerschicht beeinflusst werde. Weder in den Ansprüchen noch in der Beschreibung des Patents seien jedoch Werte oder Bereiche von Werten für diese Parameter angegeben.
Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, dass die Versuchsergebnisse, auf die sich die Beschwerdegegnerin stütze, aufgrund der Erklärung E14 des Herrn Toshiya Sawai, keine Bedeutung hätten und dass die Anwesenheit des Binders immer zu einem reduzierten ESR-Wert führe im Vergleich zu einem ansonsten baugleichen Kondensator, welcher nicht den Binder aufweise.
c) Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dass die Analyse der Einspruchsabteilung ex-post-facto sei, welche insbesondere die Komplexität von Kondensatoren ignoriere wie sie aus E12 hervorgehe. Die Wirkung des Binders sei es, den ESR-Wert zu verringern im Vergleich zu baugleichen Kondensatoren, die den Binder nicht aufwiesen. Dies gehe auch aus dem Testbericht E12 und aus den im Einspruchsverfahren vorgelegten Testergebnissen hervor, wonach der Zusatz eines Binders bei Verwendung verschiedener Binder und Konzentrationen und unter verschiedenen Herstellungsbedingungen des Kondensators zu einer Verringerung des ESR-Wertes führe. Die von der Beschwerdegegnerin mit den Einspruchsgründen eingereichten experimentellen Daten seien aufgrund der Erklärung E14 des Herrn Toshiya Sawai ohne Bedeutung. Überdies seien die Testbedingungen unvollständig widergegeben. Die Aufgabe der Erfindung sei es daher, den ESR-Wert im Vergleich zu baugleichen Kondensatoren zu verringern, die den Binder nicht aufwiesen. Der Fachmann erhalte keinen Hinweis oder Vorschlag, welcher in die Richtung des Streitpatents weise. Aus Dokument E5 gehe es nicht hervor, welche Funktion der Binder in der äußeren Schicht habe; insbesondere werde nicht offenbart, dass der Binder den ESR-Wert verringere oder für das Bedecken der Eckbereiche wesentlich sei. Selbst bei Berücksichtigung des Dokuments E5 hätte der Fachmann die Polymerschicht in Dokument E4 durch die in E5 offenbarte Schicht ersetzt und sei somit nicht zum beanspruchten Gegenstand gelangt.
Die ehemalige Beschwedegegnerin trug vor, dass die mit den Einspruchsgründen vorgelegten Testergebnisse zeigten, dass die bloße Anwesenheit eines Binders nicht zur Reduzierung des ESR-Wertes führe. In der Tat werde dieser Wert mit hohem Binderanteil sogar erhöht. Auch die in Dokument E12 angegebenen Werte lägen teilweise weit über dem Wert von 51 mOmega, dem oberen Grenzwert des im Streitpatent angeführten Bereichs des gewünschten ESR-Wertes (siehe Absatz [0080] des Patents). Außerdem zeige dieses Dokument nicht, dass die Reduzierung des ESR-Wertes im gesamten beanspruchten Bereich erreicht werde. Die Beigabe eines Binders stelle eine Routinemaßnahme des Fachmannes dar, der die Eigenschaften der Polymerschicht beeinflussen wolle, z. B. die Sprödigkeit, Flexibilität, Homogenität, Uniformität, Adhäsion und Dicke der Schicht. Außerdem werde, wie aus Dokument E5 bekannt sei, durch das Bedecken der Eckbereiche in einem Festelektrolytkondensator das Auftreten von Kurzschlüssen verringert, was durch das Beimischen eines Binders in der äußeren Polymerschicht erreicht werden könne. Somit sei der beanspruchte Gegenstand im Lichte des Dokuments E4 allein oder in Kombination mit Dokument E5 nicht erfinderisch.
1. Verfahrensbelange
1.1 Rücknahme des Einspruchs
Die ehemalige Einsprechende ist mit Rücknahme ihres Einspruchs nicht mehr an dem Beschwerdeverfahren beteiligt, da sich im vorliegenden Fall die Frage einer Kostenverteilung nach Artikel 104 EPÜ 1973 nicht gestellt hat. Darüber hinaus hatte die Rücknahme des Einspruchs während des Beschwerdeverfahrens nach ständiger Rechtsprechung keine unmittelbaren verfahrensrechtlichen Folgen für das Beschwerdeverfahren, da die Einsprechende im vorliegenden Fall Beschwerdegegnerin war und das Streitpatent mit der angefochtenen Entscheidung widerrufen wurde. Die Kammer hat daher die Entscheidung der Einspruchsabteilung inhaltlich zu prüfen und kann nur dann gemäß Antrag der Beschwerdeführerin diese Entscheidung aufheben und das Patent nach Artikel 101(3)(b) EPÜ aufrechterhalten, wenn das Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügen. Bei dieser Prüfung können Beweismittel und Argumente, die von der Beschwerdegegnerin vor der Rücknahme des Einspruchs vorgebracht worden sind, herangezogen werden (siehe T 629/90 und T 46/10, jeweils Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe, und Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 8. Auflage 2016, Kapitel IV.C.4.3.3).
1.2 Einwendungen Dritter
1.2.1 Gemäß Artikel 115 EPÜ kann in Verfahren vor dem EPA nach Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung jeder Dritte Einwendungen gegen die Patentierbarkeit der Erfindung erheben, die Gegenstand der Anmeldung oder des Patents ist, wobei der Dritte am Verfahren nicht beteiligt ist. Diese Einwendungen können vom EPA in Ausübung des Ermessens nach Artikel 114(1) EPÜ 1973 von Amts wegen berücksichtigt und in das Verfahren eingeführt werden, insbesondere wenn die mit der Durchführung des Verfahrens befasste Stelle des EPA die Einwendungen für entscheidungserheblich hält (siehe Singer/Stauder, Europäisches Patentübereinkommen, 7. Auflage 2016, Artikel 115 EPÜ, Randnoten 4 und 20).
Erst nach Ablauf der Einspruchsfrist vorgebrachte Einwendungen Dritter werden fiktiv als "verspätet" behandelt und unterliegen den relevanten Kriterien der Ermessensausübung in Bezug auf die (Nicht-)Berücksichtigung von verspätetem Vorbringen nach Artikel 114(2) EPÜ 1973 (siehe T 1756/11, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe). Insbesondere ist nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern im Beschwerdeverfahren bei verspätetem Vorbringen als wesentlichem Kriterium der Frage nachzugehen, ob das Vorbringen prima facie hoch relevant ist, d.h. eine Änderung des Verfahrensausgangs erwarten lässt (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 8. Auflage 2016, Kapitel IV.C.1.3.7).
1.2.2 Im vorliegenden Fall wurden im Beschwerdeverfahren Einwendungen einer Dritten (Shin-Etsu Polymer Co. Ltd.) mit der Erklärung (E14) eines Mitarbeiters (Mr. Toshiya Sawai) eingereicht. Laut dieser Erklärung seien die in der Einspruchsschrift geltend gemachten Testergebnisse fehlerhaft und daher bedeutungslos.
In der angefochtenen Entscheidung wurden die betroffenen Testergebnisse zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstandes herangezogen (siehe Nr. 5.4 der Entscheidungsgründe). Durch die eingereichte Erklärung wird diese Beurteilung daher grundsätzlich in Frage gestellt. Die Einwendungen der Dritten Shin-Etsu Polymer Co. Ltd. werden somit als prima facie hoch relevant angesehen und in das Verfahren zugelassen.
1.2.3 Darüber hinaus wurden nach der Erwiderung der ehemaligen Beschwerdegegnerin anonyme Einwendungen Dritter eingereicht. Dabei wurde auf Dokumente "D1", "D2", "D2'" und "D3" Bezug genommen, welche auch eingereicht wurden.
Im Einspruchsbeschwerdeverfahren sind anonyme Einwendungen Dritter, insbesondere wenn sie spät eingereicht werden, im Prinzip nicht im Verfahren zuzulassen (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 8. Auflage 2016, Kapitel III.N.2.4). Abgesehen davon fehlt es diesen Einwendungen jedoch auch an prima facie Relevanz, wie im Folgenden ausgeführt wird.
Dokumente "D1" und "D2" entsprechen den bereits in der Einspruchsschrift angeführten und somit im Verfahren befindlichen Dokumenten E4 beziehungsweise E5.
Dokument "D2'" betrifft eine Übersetzung des Dokuments "D2" ins Englische. Wie von der Beschwerdeführerin angemerkt, stellt Dokument "D2'" jedoch nur eine partielle Übersetzung dar, da nur jede zweite Seite übersetzt wurde, nämlich nur die Seiten mit ungerader Seitenzahl. Insbesondere fehlen im Dokument "D2'" die (vollständigen) Übersetzungen der Paragraphen [0012] und [0017] der Beschreibung und des Anspruchs 6 des Dokuments "D2", worauf in den Ausführungen bezüglich erfinderischer Tätigkeit in den anonymen Einwendungen Bezug genommen wurde.
Dokument D3 wurde bereits im Europäischen Recherchenbericht erwähnt, stand aber selbst der Erteilung des damals beanspruchten, im Vergleich zum gegenwärtigen Hauptantrag breiter formulierten, Gegenstandes nicht entgegen. Die Kammer sieht auch keinen Anhaltspunkt, Dokument D3 als relevanter anzusehen als die bereits im Verfahren befindlichen Dokumente E4 oder E5.
Der Vortrag in den anonymen Einwendungen Dritter bezüglich erfinderischer Tätigkeit geht auch nicht substanziell über den entsprechenden Vortrag der ehemaligen Beschwerdegegnerin hinaus.
Weder die Dokumente D2' und D3 noch der Vortrag bezüglich erfinderischer Tätigkeit werden daher von der Kammer als prima facie hoch relevant angesehen.
Die anonymen Einwendungen Dritter werden folglich nicht in das Verfahren zugelassen.
1.3 Zulassung der Dokumente E12 und E13
1.3.1 Die eidesstattliche Erklärung E12 wurde von der Beschwerdeführerin erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereicht. Die Erklärung E13 wurde von der ehemaligen Beschwerdegegnerin erstmals mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereicht.
1.3.2 Die ehemalige Beschwerdegegnerin hatte vorgebracht, dass Dokument E12 lediglich zum Nachweis der Komplexität von Kondensatoren eingereicht worden sei und für die Streitpunkte der Beschwerde nicht relevant sei und daher nicht in das Verfahren zugelassen werden solle.
Gegen die Zulassung des Dokuments E13 wurde kein Einwand erhoben.
1.3.3 Dokument E12 betrifft eine eidesstattliche Erklärung mit Testergebnissen, welche die technische Wirkung des Unterschiedsmerkmals belegen sollen. Dokument E13 betrifft eine Erklärung des Chemikers, welcher die in der Einspruchsschrift geltend gemachten Testversuche über die technische Wirkung der Unterschiedsmerkmale durchgeführt hat. Beide Dokumente betreffen daher den für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wesentlichen Punkt der technischen Wirkung der beanspruchten Erfindung.
Die Kammer sieht daher keine Veranlassung, von ihrer Befugnis unter Artikel 12(4) VOBK Gebrauch zu machen, die Dokumente E12 und E13 nicht in das Verfahren zuzulassen. Somit befinden sich diese, gemäß Artikel 12(2) VOBK eingereichten, Dokumente im Verfahren und werden von der Kammer berücksichtigt (Artikel 12(4) VOBK).
2. Hauptantrag
2.1 Offenbarung
2.1.1 In der angefochtenen Entscheidung entschied die Einspruchsabteilung, dass das Patent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne. Insbesondere sei der ESR-Parameter für die Frage der Ausführbarkeit irrelevant, da er im damaligen Anspruch 1 nicht beansprucht sei (siehe Nr. 3 der Entscheidungsgründe).
2.1.2 Die ehemalige Beschwerdegegnerin brachte vor, dass die bloße Anwesenheit eines Binders nicht die Reduzierung des ESR-Wertes des Kondensators gewährleiste. Außerdem sei die Anwesenheit eines Binders lediglich einer der Parameter, welche den ESR-Wert beeinflussten. Dokument E12 zeige, dass der ESR-Wert auch stark durch andere Parameter beeinflusst werde. Weder in den Ansprüchen noch in der Beschreibung des Patents seien jedoch Werte oder Bereiche von Werten für diese Parameter angegeben.
2.1.3 Zunächst stellt die Kammer fest, dass das Verbot der reformatio in peius nicht auf alle entschiedenen Punkte einzeln anwendbar ist. Die Frage der Ausführbarkeit unterliegt somit der Überprüfung durch die Beschwerdekammer, obwohl diese Frage von der Einspruchsabteilung in einer für die Beschwerdeführerin positiven Weise entschieden wurde (siehe T 327/92, Nr. 1 der Entscheidungsgründe; T 583/95, Nr. 2 der Entscheidungsgründe).
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine technische Wirkung bei der Beurteilung der Ausführbarkeit nur dann zu berücksichtigen, wenn sie explizit beansprucht wird. Wird die Wirkung nicht beansprucht, ist die Frage, ob die Wirkung tatsächlich erreicht wird, für die Beurteilung der Ausführbarkeit nicht relevant. In diesem Fall wird diese Frage gegebenenfalls bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit bedeutsam, nämlich bei der Formulierung der objektiven technischen Aufgabe (siehe T 862/11, Nr. 5 der Entscheidungsgründe; T 2001/12, Nr. 3 der Entscheidungsgründe).
Im vorliegenden Fall wird die von der ehemaligen Beschwerdegegnerin angeführte technische Wirkung, nämlich die Reduzierung des ESR-Wertes des Kondensators, in keinem Anspruch des Hauptantrags beansprucht. Somit ist diese Wirkung für die Beurteilung der Ausführbarkeit in der Tat nicht relevant. Folglich spielt es bei dieser Beurteilung auch keine Rolle, dass der ESR-Wert noch durch weitere Parameter des Kondensators beeinflusst wird und dass das Patent keine näheren Ausführungen bezüglich dieser weiteren Parameter enthält.
Eine Vielzahl von konkreten Ausführungsbeispielen des beanspruchten polymeren organischen Binders werden im Absatz [0023] der Patentschrift gemäß Hauptantrag genannt. Es besteht daher kein Zweifel, dass der Fachmann in die Lage versetzt ist, den beanspruchten Gegenstand auszuführen.
Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass das Patent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Artikel 100 b) EPÜ 1973).
2.2 Erfinderische Tätigkeit
2.2.1 Nächstliegender Stand der Technik / Unterschiedsmerkmale
In der angefochtenen Entscheidung ging die Einspruchsabteilung von Dokument E4 als dem nächstliegenden Stand der Technik aus, worin der Gegenstand der Präambel von Anspruch 1 des Hauptantrags offenbart sei (siehe Nr. 5.1 der Entscheidungsgründe). Diese Punkte waren zwischen der Beschwerdeführerin und der ehemaligen Beschwerdegegnerin unstrittig.
Die Kammer sieht keinen Anlass hiervon abzuweichen. In der Tat offenbart Dokument E4 einen Gegenstand, der zum gleichen Zweck entwickelt wurde wie die beanspruchte Erfindung, nämlich zur Bereitstellung eines Elektrolytkondensators. Ferner hat der aus E4 bekannte Kondensator die wichtigsten technischen Merkmale mit der beanspruchten Erfindung gemein, nämlich die in der Präambel von Anspruch 1 des Hauptantrags definierten Merkmale (siehe E4, Spalte 8, Zeile 48 - Spalte 9, Zeile 26). Dokument E4 wird daher als der nächstliegende Stand der Technik angesehen, von dem sich der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch unterscheidet, dass
a) die Schicht enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substituiertes Polyanilin und/oder wenigstens ein Polythiophen mit wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II) wenigstens einen Binder enthält, wobei der Binder ein polymerer organischer Binder ist.
2.2.2 Objektive technische Aufgabe
In der angefochtenen Entscheidung war die Einspruchsabteilung der Auffassung, dass das gemäß erteiltem Patent beanspruchte kennzeichnende Merkmal (polymere Außenschicht mit Binder) nicht die Aufgabe löse, einen Kondensator mit niedrigem ESR-Wert bereitzustellen, und stützte sich dabei insbesondere auf die von der ehemaligen Beschwerdegegnerin eingereichten Testergebnisse (siehe Nr. 5.4 der Entscheidungsgründe).
Die ehemalige Beschwedegegnerin trug vor, dass auch die in Dokument E12 angegebenen Werte teilweise weit über dem Wert von 51 mOmega lägen, dem oberen Grenzwert des im Streitpatent angeführten Bereichs des gewünschten ESR-Wertes. Außerdem zeige dieses Dokument nicht, dass die Reduzierung des ESR-Wertes im gesamten beanspruchten Bereich erreicht werde.
Die Kammer stellt zunächst fest, dass die Beschwerdeführerin - um dem Einwand zu begegnen, dass die Reduzierung des ESR-Wertes nicht im gesamten beanspruchten Bereich erreicht werde - den beanspruchten Gegenstand gegenüber dem Patent in der erteilten Version auf einen polymeren organischen Binder eingeschränkt hat. Zur Bestimmung der objektiv zu lösenden technischen Aufgabe ist nun die technische Wirkung des Unterschiedsmerkmals, d. h. der polymeren Außenschicht enthaltend einen polymeren organischen Binder, zu ermitteln.
Aus der von der ehemaligen Beschwerdegegnerin eingereichten Erklärung E13 geht hervor, dass die in der Einspruchsschrift angeführten Testversuche von Herrn Toshiya Sawai, Mitarbeiter der Shin-Etsu Polymer Co. Ltd., durchgeführt wurden. Aus der von der Dritten Shin-Etsu Polymer Co. Ltd. eingereichten weiteren Erklärung E14 des Herrn Toshiya Sawai ergibt sich nun, dass diese Testversuche mit defekten Kondensatoren durchgeführt wurden, so dass die entsprechenden Testergebnisse falsch sind. Somit können diese Testergebnisse nicht mehr zur Beantwortung der Frage herangezogen werden, welche technische Wirkung die Beigabe eines polymeren organischen Binders zur polymeren Außenschicht des Kondensators hat.
Andererseits geht aus den in der eidesstattlichen Erklärung E12 beschriebenen Testergebnissen hervor, dass die Beigabe eines Binders aus sulfoniertem Polyester zur polymeren Außenschicht eines Kondensators unter verschiedenen Bedingungen, z. B. bei unterschiedlichen Binderanteilen, den ESR-Wert des Kondensators im Vergleich zu einem sonst baugleichen Kondensator verringert. Aus den während des Einspruchsverfahrens vorgelegten Testergebnissen geht ferner hervor, dass auch andere polymere organische Binder diese Wirkung haben.
Die Kammer hat keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass das Unterschiedsmerkmal diese genannte Wirkung nicht hätte. Es ist für den Fachmann aber auch evident, dass durch die bloße Beigabe eines polymeren organischen Binders zur polymeren Außenschicht eines Kondensators nicht ein bestimmter ESR-Wert in absoluten Zahlen erreicht werden kann. Das ergibt sich schon daraus, dass der ESR-Wert invers mit der geometrischen Fläche des Kondensators korreliert (siehe Absatz [0081] der Beschreibung des Streitpatents gemäß Hauptantrag). Die Erfindung ist aber nicht auf bestimmte Kondensatoren beschränkt, z. B. solche einer bestimmten Größe. Vielmehr geht es um die Modifizierung von gegebenen Kondensatoren um die gewünschte Reduzierung des ESR-Wertes zu erreichen.
Es wird daher als die objektive technische Aufgabe der Erfindung angesehen, den Bau des Kondensators so zu modifizieren, dass der ESR-Wert des Kondensators im Vergleich einem ansonsten baugleichen Kondensator reduziert wird.
2.2.3 Naheliegen
Die Einspruchsabteilung sah die Zugabe eines Binders bei der Herstellung der polymeren Schicht als eine Routinemaßnahme des Fachmannes an, um damit die Eigenschaften der Schicht wie z.B. Sprödigkeit, Flexibilität, Homogenität, Uniformität, Adhäsion und Dicke der Schicht zu beeinflussen (siehe Nr. 5.1 der Gründe in der angefochtenen Entscheidung).
Die ehemalige Beschwerdegegnerin fügte hinzu, dass es aus Dokument E5 bekannt sei, durch das Bedecken der Eckbereiche in einem Festelektrolytkondensator das Auftreten von Kurzschlüssen zu verringern, was durch das Beimischen eines Binders in der äußeren Polymerschicht erreicht werden könne. Somit sei der beanspruchte Gegenstand im Lichte des Dokuments E4 allein oder in Kombination mit Dokument E5 nicht erfinderisch.
Dokument E5 offenbart (siehe die Zusammenfassung) einen Festelektrolytkondensator mit einer Anode 1, einer dielektrischen Oxidschicht und einer leitenden Polymerschicht als Festelektrolytschicht, auf welcher Kathodenschichten 8 und 9 vorgesehen sind. Die leitende Polymerschicht besteht aus einer ersten leitenden Polymerschicht 6 und einer zweiten leitenden Polymerschicht 7, welche aus einem leitenden Polymerpulver und einem Binder hergestellt wird.
Dokument E5 ist mit der Vermeidung von Kurzschlüssen befasst (siehe Zusammenfassung, Aufgabenstellung). Die Reduzierung des ESR-Wertes spielt in diesem Dokument jedoch keine Rolle. Daher würde der Fachmann Dokument E5 nicht zur Lösung der gestellten Aufgabe heranziehen.
Selbst eine hypothethische Kombination der Lehren der Dokumente E4 und E5 würde den Fachmann jedoch nicht zu dem beanspruchten Gegenstand führen, da in Dokument E5 lediglich generell ein Binder offenbart ist, aber nicht - wie beansprucht - ein polymerer organischer Binder. Außerdem läge es dem Fachmann fern, einen einzelnen Bestandteil (nämlich den Binder) der in E5 offenbarten zweiten leitenden Polymerschicht 7, dessen Funktion überdies aus Dokument E5 nicht hervorgeht, der im Kondensator gemäß Dokument E4 verwendeten Polymerschicht hinzuzufügen.
Nach Ansicht der Kammer würde der Fachmann auch nicht aufgrund seines Fachwissens zur beanspruchten Lösung der gestellten Aufgabe gelangen.
Daher weist der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags eine erfinderische Tätigkeit auf.
Der Verfahrensanspruch 17 entspricht dem Vorrichtungsanspruch 1. Ansprüche 2 bis 16 und 18 bis 28 des Hauptantrags sind von Anspruch 1 beziehungsweise Anspruch 17 des Hauptantrags abhängig. Anspruch 29 des Hauptantrags betrifft eine Verwendung der beanspruchten Vorrichtung.
Folglich weist der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 29 des Hauptantrags eine erfinderische Tätigkeit auf (Artikel 52(1) EPÜ und Artikel 56 EPÜ 1973).
3. Schlussfolgerung
Aus den oben genannten Gründen stehen die von der ehemaligen Beschwerdegegnerin angeführten Einspruchsgründe, nämlich unzureichende Offenbarung und mangelnde erfinderische Tätigkeit, der Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form gemäß Hauptantrag nicht entgegen. Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass das Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügen. Das Patent ist demnach gemäß Hauptantrag aufrechtzuerhalten. Die Prüfung der Hilfsanträge erübrigt sich.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das europäische Patent wie folgt aufrechtzuerhalten:
- Ansprüche 1-29 des Hauptantrags, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,
- Seiten 2-19 der Beschreibung, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,
- Figuren 1-3 wie im erteilten Patent.