T 0433/93 (Erneute Verhandlung) 06-12-1996
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Herstellung von mit Kupfer plattierten dielektrischen Platten
1. Will eine Einspruchsabteilung von Amts wegen oder auf Antrag eines Einsprechenden zusätzlich zu dem oder den in der Einspruchsschrift substantiierten Gründen einen neuen Einspruchsgrund in das Verfahren einführen, so muß der Patentinhaber (in der Regel schriftlich) nicht nur von dem neuen Einspruchsgrund (d. h. von der neuen Rechtsgrundlage für den Einspruch) unterrichtet werden, sondern auch von den wesentlichen rechtlichen und faktischen Gründen zur Untermauerung (d. h. Substantiierung), die das Patent in seinem Rechtsbestand gefährden und zum Widerruf führen könnten. Danach muß der Patentinhaber ausreichend Gelegenheit erhalten, sich zu dem neuen Grund und seiner Substantiierung zu äußern.
2. Ist eine Entscheidung eines erstinstanzlichen Organs mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet, so ist sie auf Antrag eines Beteiligten aufzuheben. Hat ein Beteiligter triftige Gründe für die Befürchtung, daß die Einspruchsabteilung in derselben Besetzung von ihrer früheren Entscheidung beeinflußt und somit befangen wäre, so muß die Sache auf Antrag dieses Beteiligten vor einer anders besetzten Einspruchsabteilung erneut verhandelt werden.
Einspruch mit mangelnder erfinderischer Tätigkeit substantiiert
Mangelnde Neuheit als neuer Einspruchsgrund von der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung eingeführt
Patent von der Einspruchsabteilung wegen mangelnder Neuheit und unzureichender Offenbarung widerrufen (Art. 100 b) EPÜ)
Keine Möglichkeit für den Patentinhaber, sich zu dem geltend gemachten Einspruchsgrund der unzureichenden Offenbarung zu äußern
Wesentlicher Verfahrensmangel
Zurückverweisung an die erste Instanz zur erneuten Verhandlung vor einer anders besetzten Einspruchsabteilung
I. Gegen das europäische Patent Nr. 0 198 835 wurde Einspruch eingelegt. In der Einspruchsschrift hieß es, das Patent werde in vollem Umfang allein aus dem Grund angefochten, daß sein Gegenstand im Hinblick auf die Druckschriften D1 und D2 mangels erfinderischer Tätigkeit (Art. 52 1) und 56 EPÜ) nicht patentfähig sei (Art. 100 a) EPÜ). Hilfsweise wurde von der Einsprechenden eine mündliche Verhandlung beantragt. Im schriftlichen Verfahren vor der Einspruchsabteilung wurden von der Einsprechenden die Druckschriften D3, D4 und D5 zur weiteren Substantiierung des Einspruchs eingereicht, und die Beteiligten erörterten die Bedeutung des beanspruchten Merkmals bezüglich der "Zerstörung der Haftung" zwischen einem Preßblech und einer ersten Kupferschicht.
In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung wies die Einspruchsabteilung insbesondere darauf hin, daß die Bedeutung der "Haftungszerstörung" in der mündlichen Verhandlung erörtert werde.
II. In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, die am 25. November 1992 stattfand, beantragte die Patentinhaberin im Rahmen ihres Hauptantrags die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung mit den Verfahrensansprüchen 1 bis 7 und den Erzeugnisansprüchen 8 bis 10; hilfsweise beantragte sie die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang unter Streichung der Erzeugnisansprüche 8 bis 10.
Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung wurde der Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit des Anspruchs 8 des Patents im Hinblick auf die Druckschrift D2 von der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht und somit in das Verfahren eingeführt; zusätzlich zu Ausführungen namens beider Beteiligter bezüglich der behaupteten mangelnden erfinderischen Tätigkeit machten die Vertreter beider Beteiligter anschließend mündliche Ausführungen zu diesem neuen Grund. In der mündlichen Verhandlung erörterten die Beteiligten und die Einspruchsabteilung das Merkmal der Überwindung der Haftung zwischen dem Preßblech und der ersten Kupferschicht im Zusammenhang mit der mangelnden Neuheit und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit, aber die Niederschrift enthält keinen Hinweis darauf, daß der Einspruchsgrund der unzureichenden Offenbarung (Art. 100 b) EPÜ) erwähnt, geltend gemacht oder in das Verfahren eingeführt wurde.
In der Niederschrift heißt es, bei Abschluß der mündlichen Verhandlung sei die Entscheidung verkündet worden, daß das Patent widerrufen werde. Die Niederschrift endet mit einer kurzen Begründung der Entscheidung, derzufolge die in Anspruch 1 beanspruchte Erfindung nicht alle Merkmale einschließe, die für den Erhalt i) einer mikroporenfreien ersten Kupferschicht und ii) den Effekt der Haftungszerstörung erforderlich seien.
III. Die schriftliche Entscheidung der Einspruchsabteilung trägt das Datum 25. Februar 1993. In ihr wird die Auffassung vertreten, Anspruch 8 sei im Hinblick auf die Druckschrift D2 nicht neu. Bezüglich des Anspruchs 1 heißt es in der Entscheidung, sein Gegenstand unterscheide sich vom Stand der Technik nur durch den Effekt der "Haftungszerstörung", und dieser Effekt sei im angezogenen Stand der Technik nicht bekannt oder angegeben.
In der Entscheidung wird ferner ausgeführt, es sei für die Einspruchsabteilung nicht eindeutig klar, welche Merkmale des Verfahrens die Haftungszerstörung verursachten und ob Anspruch 1 alle Merkmale einschließe, die für den Erhalt a) der porenfeien Schicht und b) des Effekts der Haftungszerstörung erforderlich seien. Infolgedessen wurde die Auffassung vertreten, die Offenbarung der Erfindung sei unzureichend (Art. 100 b) EPÜ), so daß weder dem Haupt- noch dem Hilfsantrag stattgegeben werden könne.
IV. Die Patentinhaberin legte gegen diese Entscheidung ordnungsgemäß Beschwerde ein. In der Beschwerdebegründung wurde vorgebracht, die Beschreibung und die Ansprüche des Patents enthielten insgesamt ausreichende Anweisungen, damit die Erfindung ausgeführt werden könne; ferner solle die Beschwerdegebühr zurückgezahlt werden, da der Einspruchsabteilung insofern ein wesentlicher Verfahrensmangel anzulasten sei, als sie ihre Entscheidung über den Widerruf des Patents wegen unzureichender Offenbarung erlassen habe, ohne der Patentinhaberin die Möglichkeit zu geben, diesen Grund zu prüfen und sich dazu zu äußern oder Stellung zu nehmen, was im Widerspruch zu Artikel 113 1) EPÜ stehe.
In ihrer Erwiderung beantragte die Einsprechende, die Beschwerde zurückzuweisen bzw. hilfsweise die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, damit über den substantiierten Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit befunden werde, der in der Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht behandelt worden sei.
In einem Bescheid der Kammer wurde erläutert, daß die Beschwerde zunächst hauptsächlich unter Verfahrensaspekten geprüft worden sei und daß aus der Akte eindeutig hervorzugehen scheine, daß eine unzureichende Offenbarung (Art. 100 b) EPÜ) zu keinem Zeitpunkt von der Einsprechenden oder von der Einspruchsabteilung im Verfahren vor der Einspruchsabteilung konkret geltend gemacht worden sei. Obwohl als einziger Einspruchsgrund in der Einspruchsschrift mangelnde erfinderische Tätigkeit vorgebracht und substantiiert worden sei, sei das Patent wegen mangelnder Neuheit und unzureichender Offenbarung widerrufen worden (wobei in der mündlichen Verhandlung neben der mangelnden erfinderischen Tätigkeit auch mangelnde Neuheit erörtert worden sei). Die Kammer vertrat die vorläufige Meinung, daß der Erlaß der Entscheidung offensichtlich gegen Artikel 113 (1) EPÜ verstoße, da sich die Patentinhaberin vor dem Erlaß der Entscheidung nicht zur geltend gemachten unzureichenden Offenbarung habe äußern können, und daß ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliege. Werde die Sache an die erste Instanz zurückverwiesen, so werde die Kammer die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufheben; sie könne entweder die Einspruchsabteilung anweisen, vor Erlaß einer weiteren Entscheidung die weiteren Ausführungen beider Beteiligter sowohl zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit als auch zur unzureichenden Offenbarung zu prüfen (erforderlichenfalls mit Anberaumung einer weiteren mündlichen Verhandlung), oder anordnen, daß die Sache vor einer Einspruchsabteilung in anderer Besetzung erneut verhandelt werde. Beide Vorgehensweisen seien mit erheblichen Verzögerungen verbunden. Alternativ könne die Kammer die Fragen der Neuheit, der erfinderischen Tätigkeit und der unzureichenden Offenbarung auch selbst prüfen und entscheiden, aber ein solches Vorgehen würde der Einsprechenden in der Frage der erfinderischen Tätigkeit und der Patentinhaberin bezüglich der Frage der unzureichenden Offenbarung eine erstinstanzliche Entscheidung vorenthalten. Beide Beteiligte wurden gebeten anzugeben, welches Vorgehen sie für das weitere Verfahren bevorzugten.
Die Einsprechende beantragte in ihrer Erwiderung, die Beschwerdekammer möge die Fragen der Neuheit, der erfinderischen Tätigkeit und der unzureichenden Offenbarung nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung entscheiden.
Die Patentinhaberin erklärte in ihrer Erwiderung, sie nehme die vorstehend genannte vorläufige Meinung der Kammer zur Kenntnis, die von der Einsprechenden offensichtlich nicht beanstandet werde; eine etwaige Entscheidung der Kammer solle dem wesentlichen Verfahrensmangel abhelfen.
Sie stimmte der Beschwerdekammer zu, daß der Patentinhaberin ein faires rechtliches Verfahren vor einer ersten Instanz bezüglich der Frage der unzureichenden Offenbarung vorenthalten werde, wenn die Kammer die Fragen der Neuheit, der erfinderischen Tätigkeit und der unzureichenden Offenbarung entscheide; folglich bevorzuge sie die Zurückverweisung der Sache an eine anders besetzte Einspruchsabteilung, die alle bisherigen Behauptungen im Zusammenhang mit den vorstehend genannten drei Gründen, nämlich mangelnde Neuheit, mangelnde erfinderische Tätigkeit und unzureichende Offenbarung, noch einmal prüfen solle.
1. Die "unzureichende Offenbarung" (Art. 100 b) EPÜ) wurde in der Einspruchsschrift weder behauptet noch substantiiert (Nr. I), und die Akte enthält keinerlei Hinweis darauf, daß dieser Grund in der mündlichen Verhandlung von der Einspruchsabteilung konkret erhoben und in das Einspruchsverfahren eingeführt worden wäre (Nr. II). Dieser Sachverhalt scheint zwischen den Beteiligten nicht strittig zu sein (Nr. IV).
Die Patentinhaberin hatte also erst durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das Patent wegen unzureichender Offenbarung widerrufen wurde, davon erfahren, daß dieser Einspruchsgrund geltend gemacht worden war. Daraus folgt zwangsläufig, daß der Erlaß dieser Entscheidung einen direkten Verstoß gegen Artikel 113 1) EPÜ darstellt, der besagt: "Entscheidungen des Europäischen Patentamts dürfen nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten".
In der Entscheidung T 951/92 (ABl. EPA 1996, 53) heißt es hierzu wie folgt: "In einigen früheren Beschwerdekammerentscheidungen wurde festgestellt, daß diese Vorschrift von größter Bedeutung sei, wenn die Gerechtigkeit in Verfahren zwischen dem EPA und einem Verfahrensbeteiligten gewahrt bleiben solle (siehe vor allem die Stellungnahme G 4/92, ABl. EPA 1994, 149 sowie die Entscheidungen J 20/85, ABl. EPA 1987, 102 und J 3/90, ABl. EPA 1991, 550); sie spiegelt den allgemein anerkannten Grundsatz des Verfahrensrechts wider, wonach ein Verfahrensbeteiligter "Anspruch auf rechtliches Gehör" hat, bevor eine Entscheidung getroffen wird."
Ferner heißt es in dieser Entscheidung: "Daher sollte der Begriff "Gründe" in Artikel 113 1) EPÜ nicht eng ausgelegt werden. Insbesondere ist damit im Kontext des Prüfungsverfahrens nicht nur ein einzelner Grund für die Beanstandung der Anmeldung im engeren Sinne eines Erfordernisses des EPÜ gemeint, das als nicht erfüllt angesehen wird, sondern es sind darunter auch die wesentlichen Gründe sowohl rechtlicher als auch faktischer Art zu verstehen, die die Zurückweisung der Anmeldung bedingen. Mit anderen Worten, der Anmelder muß vor Erlaß einer Entscheidung über die Gründe unterrichtet werden, die ihm vorgehalten werden, und er muß auch die Möglichkeit erhalten, darauf einzugehen."
Diese Auslegung des Artikels 113 1) EPÜ gilt gleichermaßen für das Einspruchsverfahren.
Um dem Erfordernis des Artikels 113 (1) EPÜ im vorliegenden Fall zu genügen, hätte die Patentinhaberin vor dem Erlaß der Entscheidung nicht nur von dem neu erhobenen und in das Verfahren eingeführten Einspruchsgrund (d. h. Art. 100 b) EPÜ), also der Rechtsgrundlage für die Anfechtung des Patents (siehe Entscheidungen G 1/95 und G 7/95, ABl. EPA 1996, 615, 626), sondern auch von den wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründen unterrichtet werden müssen, die das Patent in seinem Rechtsbestand gefährden und zum Widerruf führen könnten. Danach hätte die Patentinhaberin auch noch ausreichend Gelegenheit erhalten müssen, sich zu diesem neuen Grund zu äußern.
Vorliegend ist die Kammer davon überzeugt, daß im Verfahren vor der Einspruchsabteilung gegen Artikel 113 1) EPÜ verstoßen wurde und das Verfahren mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet war, so daß die Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung gerechtfertigt ist.
2. Ferner muß über den weiteren Verfahrensablauf entschieden werden. Wie unter Nummer IV ausgeführt, haben die Beteiligten diesbezüglich unterschiedliche Ansichten geäußert.
Der wichtigste Faktor, der nach Ansicht der Kammer bei der Entscheidung über den weiteren Verfahrensablauf berücksichtigt werden muß, ist die Tatsache, daß die Patentinhaberin bezüglich des Einspruchsgrunds der unzureichenden Offenbarung kein rechtliches Gehör vor einer ersten Instanz erhalten hatte, bevor die Entscheidung über den Widerruf des Patents aus diesem Grund erging. Jeder am Einspruchsverfahren Beteiligte hat einen Rechtsanspruch auf rechtliches Gehör vor zwei Instanzen, bevor über die Sache rechtskräftig zu seinen Ungunsten entschieden wird.
Aus dem Vorstehenden folgt erstens, daß die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung an die erste Instanz zurückzuverweisen ist (Antrag der Patentinhaberin); sie ist nicht von der Beschwerdekammer zu entscheiden (Antrag der Einsprechenden).
Zweitens folgt daraus nach Auffassung der Kammer zwangsläufig auch, daß im Anschluß an diese Zurückverweisung eine anders (d. h. mit drei neuen Mitgliedern) besetzte Einspruchsabteilung die drei geltend gemachten und in das Verfahren eingeführten Einspruchsgründe (mangelnde Neuheit, mangelnde erfinderische Tätigkeit (Art. 100 a) EPÜ) und unzureichende Offenbarung (Art. 100 b) EPÜ) prüfen und über die Sache entscheiden muß.
Wenn nämlich die Einspruchsabteilung in derselben Besetzung weiter über den Fall verhandeln und entscheiden würde, müßten ihre Mitglieder vorher das Ergebnis ihrer eigenen früheren Entscheidung aus ihrem Gedächtnis tilgen.
Ein Beteiligter erhält nur dann ein faires Verfahren vor einem Gericht, wenn er (nach objektiven Maßstäben) keinen triftigen Grund für die Befürchtung hat, ein Mitglied des Gerichts sei im Hinblick auf den zu entscheidenden Fall befangen oder voreingenommen. Nach Aussage der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G 5/91 (ABl. EPA 1992, 617) "ist es ... als allgemeiner Rechtsgrundsatz anzusehen, daß niemand über eine Angelegenheit entscheiden darf, in der er von einem Beteiligten aus guten Gründen der Befangenheit verdächtigt werden kann". Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer gilt dies "für Bedienstete der erstinstanzlichen Organe des EPA, die an Entscheidungen mitwirken, die die Rechte eines Beteiligten berühren können".
In einem Fall wie diesem kommt es weder darauf an, ob die Mitglieder der Einspruchsabteilung nach Aktenlage schon im bisherigen Verfahren nachweislich parteilich gewesen sind (vgl. Entscheidung T 261/88 vom 16. Februar 1993), noch darauf, ob die bisherigen Mitglieder der Einspruchsabteilung bei einer erneuten Verhandlung des Falles tatsächlich unvoreingenommen und unparteilich wären. Entscheidend ist vielmehr, ob ein Beteiligter (in diesem Fall die Patentinhaberin) einen triftigen Grund für die Befürchtung haben könnte, daß ihm kein faires Verfahren zuteil würde, wenn die Einspruchsabteilung in derselben Besetzung über den Fall verhandeln würde (weil sie hinsichlich der Erledigung der Sache möglicherweise bereits eine vorgefaßte Meinung hat, befangen oder anderweitig beeinflußt ist).
Im vorliegenden Fall hatte die Einspruchsabteilung bereits einmal eine schriftliche Entscheidung erlassen, die Gründe für den Widerruf des Patents enthielt, so daß die Patentinhaberin (wie ihr Antrag auf erneute Verhandlung vor einer anders besetzten Einspruchsabteilung zeigt) nach Auffassung der Kammer aus guten Gründen befürchtete, daß es der Einspruchsabteilung in derselben Besetzung schwerfallen würde, unbeeinflußt von ihrer früheren Entscheidung neu über die Sache zu verhandeln und zu entscheiden. Es liegt deshalb eindeutig im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege beim EPA, daß dieser Fall von einer anders besetzten Einspruchsabteilung verhandelt und entschieden wird.
3. Gemäß der Stellungnahme G 10/91 (ABl. EPA 1993, 408, 420) ist eine Einspruchsabteilung nach Artikel 114 EPÜ befugt, nach Ablauf der neunmonatigen Einspruchsfrist neue Einspruchsgründe in das Einspruchsverfahren einzuführen, und zwar entweder auf Antrag eines Einsprechenden oder von Amts wegen, "wenn prima facie triftige Gründe dafür sprechen, daß diese Einspruchsgründe relevant sind und der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenstehen würden".
Beschließt eine Einspruchsabteilung, zusätzlich zu dem oder den vom Einsprechenden in der Einspruchsschrift erhobenen und substantiierten Einspruchsgründen einen neuen Einspruchsgrund in das Verfahren einzuführen, so sollte sie dies nach Auffassung der Kammer in aller Regel schriftlich und zu einem möglichst frühen Zeitpunkt im Verfahren tun. Die schriftliche Mitteilung, mit der die Einspruchsabteilung den Patentinhaber davon unterrichtet, daß ein neuer Einspruchsgrund in das Verfahren eingeführt wird, soll dabei sicherstellen, daß der Patentinhaber nicht nur den neuen Einspruchsgrund bzw. die neue Rechtsgrundlage (z. B. unzureichende Offenbarung gemäß Art. 100 b) EPÜ) kennt, sondern auch die rechtlichen und faktischen Gründe zur Untermauerung dieses neuen Einspruchsgrunds, damit er genau weiß, was ihm vorgehalten wird, und hinreichend Gelegenheit hat, sich hierzu zu äußern.
Wenn sich eine Einspruchsabteilung in einem ausgesprochenen Ausnahmefall erstmals in der mündlichen Verhandlung veranlaßt sieht, einen neuen Einspruchsgrund in das Verfahren einzuführen, so empfiehlt es sich nach Auffassung der Kammer grundsätzlich, daß sie dem Patentinhaber die Einführung des neuen Einspruchsgrunds und die ihn substantiierenden rechtlichen und faktischen Gründe auch in der mündlichen Verhandlung schriftlich mitteilt. Auf diese Weise kann jedes Mißverständnis vermieden und die Mitteilung in die Akte aufgenommen werden.
4. Der Beschwerde der Patentinhaberin wird stattgegeben; die Beschwerdegebühr wird ihr gemäß Regel 67 EPÜ zurückgezahlt.
5. Die Patentinhaberin hat in ihrer Beschwerdeschrift beantragt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung so zu ändern, daß das Patent nur mit den Ansprüchen 1 bis 7 aufrechterhalten wird. Da jedoch die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufgehoben wird, steht die Erledigung der unter Nummer II genannten Anträge der Patentinhaberin noch an. Etwaige andere Anträge müßten von der Patentinhaberin im weiteren Verfahren vor einer Einspruchsabteilung in neuer Besetzung gestellt werden.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben; der Beschwerde wird stattgegeben.
2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, die Einspruchsgründe mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit (Art. 100 a) EPÜ) und unzureichende Offenbarung (Art. 100 b) EPÜ) von einer anders besetzten Einspruchsabteilung prüfen zu lassen.
3. Die Beschwerdegebühr wird der Patentinhaberin gemäß Regel 67 EPÜ zurückgezahlt.