4.6.1 Stellungnahme G 1/04 und ihre Anwendung in der Rechtsprechung
in G 1/04 legte die Große Beschwerdekammer den Begriff "Diagnostizierverfahren" eng aus: Damit der Gegenstand eines Anspruchs, der ein am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenes Diagnostizierverfahren betrifft, nach Art. 52 (4) EPÜ 1973 vom Patentschutz ausgeschlossen ist, muss der Anspruch sowohl das Merkmal, das sich i) auf die Diagnose zu Heilzwecken als rein geistige Tätigkeit, also auf die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase bezieht, als auch die Merkmale umfassen, die sich ii) auf die vorausgehenden Schritte beziehen, die für das Stellen der Diagnose konstitutiv sind, sowie iii) auf die spezifischen Wechselwirkungen mit dem menschlichen oder tierischen Körper, die bei der Durchführung der vorausgehenden technischen Schritte auftreten.
Die Große Beschwerdekammer betonte, dass der chirurgische oder therapeutische Charakter eines Verfahrensanspruchs durchaus in einem einzigen Verfahrensschritt begründet werden kann, ohne dass gegen Art. 84 EPÜ 1973 verstoßen würde. Diagnostizierverfahren unterscheiden sich in dieser Hinsicht jedoch von chirurgischen und therapeutischen Verfahren. Die Verfahrensschritte, die vor dem Stellen der Diagnose als einer geistigen Tätigkeit auszuführen sind, betreffen die Untersuchung, die Sammlung von Daten und den Vergleich. Fehlt nur einer der vorausgehenden Schritte, die für das Stellen einer solchen Diagnose maßgeblich sind, so liegt kein Diagnostizierverfahren vor, sondern allenfalls ein Verfahren zur Datenermittlung oder -verarbeitung, das in einem Diagnostizierverfahren verwendbar ist (s. T 385/86). Daraus folgt, dass der chirurgische oder therapeutische Charakter eines Verfahrensanspruchs zwar in einem einzigen Verfahrensschritt begründet sein kann, zur Definition eines Diagnostizierverfahrens aber wegen des spezifischen und zwangsläufig mehrstufigen Charakters eines solchen Verfahrens mehrere Verfahrensschritte erforderlich sind.
Diese erforderlichen Verfahrensschritte (G 1/04) bestehen aus: (i) der Untersuchungsphase mit der Sammlung von Daten, (ii) dem Vergleich dieser Daten mit den Normwerten, (iii) der Feststellung einer signifikanten Abweichung, d. h. eines Symptoms, bei diesem Vergleich und (iv) der Zuordnung der Abweichung zu einem bestimmten Krankheitsbild, d. h. die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase.
In T 1255/06 waren in dem strittigen Anspruch lediglich die Schritte zur Erhebung von (Körpertemperatur-)Daten definiert, die in einem Diagnoseverfahren verwendbar waren. Obwohl die Erhebung der Temperaturdaten die Erkennung etwaiger Abweichungen von den Normwerten gestattete, erlaubte sie doch nicht per se die Zuordnung der erkannten Abweichung zu einem Krankheitsbild.
T 1232/15 betraf die Verwendung mehrerer Klebe- und Haptikstreifen zur Ausbildung eines Hilfsmittels für Blinde zur Ermöglichung der zeilenmäßigen Abtastung der Brüste bei Durchführung einer klinischen Brustuntersuchung. Die Kammer stellte fest, dass die beanspruchten Schritte lediglich der Vorbereitung eines von einem Blinden durchzuführenden Diagnostizierverfahrens umfassten. Die für das Stellen der Diagnose konstitutiven Schritte seien nicht umfasst.
Die Kammer in T 529/19 erklärte, dass die in der Stellungnahme G 1/04 entwickelte Auslegung des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses nach Art. 52 (4) EPÜ 1973 für Art. 53 c) EPÜ weiterhin gilt. Im vorliegenden Fall war in Anspruch 1 des Hauptantrags ein Verfahren "zur Beurteilung der Hautgesundheit einer Hautpartie" definiert. Die Verfahrensschritte umfassten die Berechnung einer Rate aus den Intensitäten, die für zwei auf dieser Hautpartie erzeugte Fluoreszenzemissionen gemessen wurden, und den Vergleich dieser Rate mit einer Kontrollrate. In der angefochtenen Entscheidung hatte die Prüfungsabteilung festgestellt, dass das in Anspruch 1 beschriebene Verfahren die in G 1/04 genannten Schritte i) bis iii) umfasse und der dort genannte Schritt iv) aus der einleitenden Formulierung des Anspruchs 1 "Verfahren zur Beurteilung der Hautgesundheit" ableitbar sei. Letzteres hatte der Beschwerdeführer bestritten und vorgebracht, dass das Verfahren nach Anspruch 1 nicht die Zuordnung einer Abweichung zu einem bestimmten Krankheitsbild beinhalte.
Die Kammer merkte an, dass Anspruch 1 offenlasse, worin die festgestellte "Hautgesundheit" bestehe. So könnte es sich beispielsweise um den Quotienten der beiden im vierten Schritt des Anspruchs 1 verglichenen Raten handeln oder um einen anderen mit der Hautgesundheit zusammenhängenden Parameter, der bestenfalls ein Zwischenbefund mit diagnostischem Wert sein kann. Auch wenn der Begriff nahelegt, dass irgendeine Beurteilung der Hautgesundheit stattfindet, geht weder aus dem Wortlaut der Ansprüche noch aus den einschlägigen Passagen der Beschreibung hervor, dass die Beurteilung tatsächlich die Zuordnung zu einem bestimmten Krankheitsbild einschließt. Selbst wenn man das Verfahren so auslegt, dass es einen Befund zur Hautalterung für die beurteilte Hautpartie einschließt, würde dies noch keine Zuordnung zu einem bestimmten Krankheitsbild darstellen. Die Feststellung, dass die Haut einer Person stärker gealtert ist, als zu erwarten wäre, ist bestenfalls ein Zwischenbefund von diagnostischem Wert. Folglich entschied die Kammer, dass Anspruch 1 keine Zuordnung der Abweichung zu einem bestimmten Krankheitsbild umfasst, also keine deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase und somit nicht unter das Patentierungsverbot des Art. 53 c) EPÜ fällt.