4.6.1 Stellungnahme G 1/04 und ihre Anwendung in der Rechtsprechung
Laut G 1/04 sollten alle technischen Verfahrensschritte das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllen, d. h. die Durchführung jedes einzelnen dieser Schritte sollte eine Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper beinhalten, die zwangsläufig dessen Präsenz voraussetzt.
In G 1/04 vertrat die Große Beschwerdekammer die Auffassung, dass bei einem Diagnostizierverfahren die technischen Verfahrensschritte, die für das Stellen der Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne maßgeblich sind und ihr vorausgehen, das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllen müssen.
Dieses Kriterium ist nur in Bezug auf technische Verfahrensschritte zu berücksichtigen. Es bezieht sich also nicht auf die Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne, d. h. auf die deduktive Entscheidungsphase, die als rein geistige Tätigkeit nicht am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden kann.
Artikel 52 (4) EPÜ 1973 verlangt keine bestimmte Art oder Intensität der Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper; ein vorausgehender technischer Verfahrensschritt erfüllt somit das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen", wenn seine Ausführung irgendeine Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper einschließt, die zwangsläufig dessen Präsenz voraussetzt. Werden die vorausgehende technische Verfahrensschritte von einem Gerät ausgeführt, so erfüllt dies nicht das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" (G 1/04).
In T 1197/02 betraf die Erfindung ein Verfahren zur Feststellung einer glaukomatösen Schädigung des Sehsystems eines Lebewesens. Die Kammer stellte fest, dass das Merkmal "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" nach Art. 52 (4) EPÜ 1973 lediglich bei Verfahrensschritten technischer Art zu prüfen ist (G 1/04, ABl. 2006, 334, Nrn. 6.4.1 und 6.4.4 der Gründe). Es ist weder auf den deduktiven Entscheidungsprozess anwendbar noch auf die Schritte, die in einem Abgleich der in der Untersuchungsphase gesammelten Daten mit den Normwerten und in der Feststellung von signifikanten Abweichungen bestehen. Diese Tätigkeiten sind im Wesentlichen nichttechnischer Art und werden normalerweise nicht am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen. Folglich kann in den meisten Fällen nur der Schritt, der die Untersuchungsphase betrifft und das Sammeln von Daten beinhaltet, tatsächlich technischer Art sein, sodass das Merkmal "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" hier ins Spiel kommen kann. Weitere Zwischenschritte, die beispielsweise das Anpassen oder Vorbereiten der Vorrichtung betreffen, mit der die Datengewinnung durchgeführt werden soll, können der Vollständigkeit halber in einen Verfahrensanspruch aufgenommen werden. Da diese zusätzlichen Merkmale jedoch nicht Teil eines für die Diagnosestellung notwendigen Schrittes sind, sind sie bei der Beurteilung des diagnostischen Charakters des Verfahrens außer Acht zu lassen. Ob diese Zwischenmerkmale technischer Art sind und ob sie am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden, ist daher in diesem Zusammenhang irrelevant.
In T 143/04 bezog sich der fragliche Anspruch 1 auf ein Verfahren zum Diagnostizieren von Alzheimer bei einem Lebewesen. Die Kammer wies darauf hin, dass die mithilfe eines Automaten durchgeführte Datenverarbeitung nicht wirklich Teil der Untersuchungsphase war, die die Datengewinnungsphase umfasste, sondern sich aus einem späteren technischen Schritt ergab, der zwischen die Datengewinnung und den Abgleich der ermittelten Daten mit Normwerten zwischengeschaltet war. Derartige Zwischenschritte sind bei der Beurteilung des diagnostischen Charakters des Verfahrens außer Acht zu lassen. Der fragliche Anspruch wies alle Merkmale eines am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenen Diagnoseverfahrens gemäß der in der Stellungnahme G 1/04 gegebenen Definition auf. Ein solches Verfahren unterliegt dem Patentierungsverbot nach Art. 52 (4) EPÜ 1973 (Art. 53 c) EPÜ).
Die Kammer in T 1920/21 befasste sich mit folgender Frage: In G 1/04 (Nr. 6.4.4 der Begründung) hat die Große Beschwerdekammer erklärt, dass es – da eine enge Auslegung des Umfangs des Ausschlusses von Diagnostizierverfahren von der Patentierbarkeit nach Art. 52 (4) EPÜ 1973 gerechtfertigt ist – angezeigt ist zu verlangen, dass jeder einzelne technische Verfahrensschritt eines Diagnoseverfahrens das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllen sollte. Andererseits hatte die Große Beschwerdekammer in G 1/04 (Nrn. 6.4.3 und 6.4.4 der Begründung) auch erklärt, dass ein Anspruch nicht nach Art. 52 (4) EPÜ 1973 von der Patentierbarkeit auszuschließen ist, wenn mindestens einer der vorausgehenden Schritte, die für das Stellen einer Diagnose zu Heilzwecken konstitutiv sind, einen technischen Verfahrensschritt umfasst, der nicht das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllt, also z. B. einen Verfahrensschritt, der von einem Gerät ohne jegliche Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper ausgeführt wird, oder einen in vitro in einem Labor durchgeführten Verfahrensschritt.
Im vorliegenden Fall betraf Anspruch 1 ein Verfahren zum Diagnostizieren einer Helicobacter-pylori-Infektion, dessen erster Schritt im Sammeln einer Atemprobe bestand. Aus der Sachlage des Falls schloss die Kammer, dass nicht alle technischen Schritte, die der Phase i) in Anspruchs 1 des Hauptantrags zuzuordnen waren, das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllten. Diesem Kriterium genügte insbesondere nicht der weitere technische Verfahrensschritt der Phase i), nämlich das "Messen des Gehalts an 13C in dem CO2 der ersten und der zweiten Probe und Bestimmen eines 13C/12C‑Verhältnisses durch Spektroskopie in den jeweiligen Proben". Das Verfahren nach Anspruch 1 erfüllte somit nicht das zweite Erfordernis, um als diagnostisches Verfahren im Sinne des Art. 53 c) EPÜ zu gelten, und fiel demzufolge nicht unter dessen Patentierungsverbot.