4. Bestimmung der Offenbarung des einschlägigen Stands der Technik
4.12. Ausführbarkeit des Offenbarungsgehalts
Eine Offenbarung ist nach ständiger Rechtsprechung nur dann neuheitsschädlich, wenn die darin enthaltene Lehre nacharbeitbar ist, d. h. von der Fachperson ausgeführt werden kann (T 1437/07, T 1457/09, T 1045/21). Ein Gegenstand kann nur dann als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und damit Bestandteil des Stands der Technik im Sinne des Art. 54 (1) EPÜ angesehen werden, wenn die der Fachperson vermittelte Information so vollständig ist, dass sie zum maßgeblichen Zeitpunkt die technische Lehre, die Gegenstand der Offenbarung ist, unter Zuhilfenahme des von ihr zu erwartenden allgemeinen Fachwissens ausführen kann (s. T 26/85, T 206/83, T 491/99, T 719/12).
In T 206/83 (ABl. 1987, 5) wurde insbesondere festgestellt, dass ein Dokument keine ausreichende Offenbarung eines chemischen Stoffs enthält, wenn es zwar seine Formel und die Verfahrensschritte zu seiner Herstellung nennt, aber die Fachperson weder dem Dokument noch seinem allgemeinen Fachwissen entnehmen kann, wie er sich die notwendigen Ausgangs- oder Zwischenprodukte verschaffen kann. Angaben, die erst durch eine umfassende Recherche gefunden werden können, sind nicht dem allgemeinen Fachwissen zuzurechnen. Das Erfordernis einer ausführbaren Offenbarung entspricht auch dem in Art. 83 EPÜ 1973 erwähnten Grundsatz, dass die Erfindung in der europäischen Patentanmeldung so deutlich und vollständig zu offenbaren ist, dass eine Fachperson sie ausführen kann. Die Anforderungen an eine ausreichende Offenbarung sind also in allen Fällen dieselben.
In T 719/12 bestritt keiner der Beteiligten, dass die Verbindung Methyl-2-(α-Thenoyl)-Ethylamin in Dokument (1) namentlich offenbart war. Die Kammer erklärte, dass das Dokument (1) allein die Verbindung der Öffentlichkeit nicht zugänglich machte, weil die darin beschriebenen konkreten Versuche zu deren Herstellung gescheitert waren. Sie entschied daher, dass die Verbindung der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden war, weil am Veröffentlichungstag des Stands der Technik kein Verfahren zu ihrer Herstellung verfügbar war.
In T 447/92 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Entgegenhaltung nicht offenbarte, wann oder wie weit sich ein bewegliches Teil der beanspruchten Erfindung (ein Druckluftschalter) bewegte oder wie es einen Hebel am Zurückfedern hinderte. Eine Relativbewegung war weder beschrieben noch in den Zeichnungen dargestellt; darüber, wie die maßgeblichen Teile zusammenwirkten, konnten nur Vermutungen angestellt werden. Nach Ansicht der Kammer hätte es für die Fachperson zwar naheliegen können, dass Raste und Welle in der in den Ansprüchen des Streitpatents festgelegten Art und Weise zusammenwirkten; dies bedeute aber nur, dass die Offenbarung sie so weit bringe, dass sie den Rest selbst bewerkstelligen könne. Es bedeute nicht, dass das Dokument der Fachperson den gesamten Weg bis hin zur betreffenden Erfindung aufzeige. Die Merkmale des Druckluftschalters gemäß Anspruch 1 der Anmeldung seien somit nicht eindeutig aus den Zeichnungen einer älteren europäischen Patentanmeldung herzuleiten.
In T 310/88 hatte sich die Beschwerdekammer mit einer Divergenz zwischen der technischen Realität und der Erfindungsbeschreibung in einer Vorveröffentlichung auseinander zu setzen. Die Kammer hielt dennoch die Vorveröffentlichung für nicht neuheitsschädlich, da sie keine hinreichend deutliche Lehre enthalte, die eine solche Feststellung rechtfertige (s. T 23/90).
In T 491/99 entschied die Kammer, dass eine vorveröffentlichte Patentschrift, die das beanspruchte Erzeugnis auf den ersten Blick aufgrund der verwendeten Begriffe vorwegzunehmen scheint, dessen Patentierbarkeit nicht berührt, wenn die Fachperson die betreffende Erfindung nur im Nachhinein anhand des Verfahrens und der Vorrichtung, wie sie erstmals im europäischen Patent beschrieben sind, tatsächlich ausführen kann.
In T 1437/07 hob die Kammer hervor, dass eine Offenbarung in einem Dokument aus dem Stand der Technik nur dann neuheitsschädlich ist, wenn die darin enthaltene Lehre nacharbeitbar ist. Dieses Erfordernis einer ausreichenden Offenbarung entspricht dem in Art. 83 EPÜ verankerten Grundsatz. Die Anforderungen für eine ausreichende Offenbarung sind somit für ein Dokument aus dem Stand der Technik und ein Patent identisch. Die Kammer folgte den Grundsätzen, die die Rechtsprechung zur Bewertung der Erfordernisse des Art. 83 EPÜ bei einer medizinischen Verwendung entwickelt hat, nämlich dass die Fachperson nicht nur in der Lage sein soll, die Lehre des Dokuments aus dem Stand der Technik auszuführen, sondern dass es auch glaubhaft sein muss, dass die Wirkung – hier die Schmerzlinderung – erzielt worden ist (s. T 491/08).
In T 578/12 bestritt der Beschwerdeführer, dass Anspruch 1 des Hauptantrags angesichts des Stands der Technik D1, einer australischen Patentanmeldung, nicht neu sei; sein Hauptargument war, dass D1 keine Zeichnungen und keine Beschreibung einer detaillierten Ausführungsform eines Warenautomaten enthalte und nicht als nacharbeitbare Offenbarung betrachtet werden könne. Die Kammer stellte unter anderem Folgendes fest: die Tatsache, dass D1 keine Abbildungen enthielt, hinderte die Fachperson nicht daran, das beschriebene Verfahren zu verstehen oder auszuführen. Dieser Fall ist ein Beispiel für eine ausführliche Begründung der Prüfung von im Dokument des Stands der Technik offenbarten Merkmalen.
In T 1457/09 war Anspruch 4 als Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung abgefasst. In der angefochtenen Entscheidung hatte die Einspruchsabteilung die Auffassung vertreten, dass der Gegenstand dieses Anspruchs durch das zur Zwischenliteratur gehörende Dokument (D1) vorweggenommen wurde. Ihres Erachtens offenbarten beide Dokumente (D1) und (D1a, das Prioritätsdokument zu D1) pharmazeutische Zubereitungen, die das Peptid RMFPNAPYL enthielten, sowie ihre Verwendung als Krebsimpfstoff. Die Kammer stellte Folgendes fest: Damit das Erfordernis der Nacharbeitbarkeit bei einer medizinischen Verwendung als erfüllt gilt, muss aufgrund der Offenbarung in dem Dokument des Stands der Technik glaubhaft sein, dass die therapeutische Wirkung, die der offenbarten Behandlung zugrunde liegt, erzielt werden kann (T 609/02). Ein Dokument des Stands der Technik ist nur dann neuheitsschädlich, wenn darin nicht nur das im Anspruch bezeichnete Erzeugnis – hier RMFPNAPYL – für die beanspruchte therapeutische Anwendung – hier die Behandlung von Krebs – offenbart wird, sondern sich das beanspruchte Erzeugnis auch tatsächlich für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet. Die Kammer stellte fest, dass die in Dokument (D1a) offenbarten Versuchsergebnisse nicht ausreichten, um glaubhaft zu machen, dass sich das RMFPNAPYL-Peptid für die Behandlung von Krebs eignet. Dokument (D1) war daher für den Gegenstand von Anspruch 4 nicht neuheitsschädlich.
- G 0001/23
In G 0001/23 the Enlarged Board answered the referred questions as follows:
"1. A product put on the market before the date of filing of a European patent application cannot be excluded from the state of the art within the meaning of Article 54(2) EPC for the sole reason that its composition or internal structure could not be analysed and reproduced by the skilled person before that date.
2. Technical information about such a product which was made available to the public before the filing date forms part of the state of the art within the meaning of Article 54(2) EPC, irrespective of whether the skilled person could analyse and reproduce the product and its composition or internal structure before that date.
3. In view of the answers to Questions 1 and 2 an answer is not required."
The Enlarged Board decided that in interpreting the referred questions, it was not needed to treat analysability independently from reproducibility. The questions turned on the requirement of reproducibility and whether this was indeed a valid condition of an available product for forming part of the state of the art. The Enlarged Board highlighted that the prior art status of non-reproducible man-made products put on the market and non-reproducible naturally occurring materials can be assessed similarly. In addition, the term "reproduce" could cover two possibilities: obtaining again a product put on the market in its readily available form, as well as for the skilled person to manufacture the product themselves. In the context of the referral, the EBA understood the term "reproduce" in the latter, more limited sense. In any event, "reproducibility" was to be understood as being only on the basis of the common general knowledge the skilled person has before the filing date.
The EBA concluded that both interpretations of G 1/92 proposed by the referring board and existing case law lead to absurd results. The first interpretation postulated that non-reproducible but otherwise existing and commercially available products do not belong to the state of the art. The EBA saw this interpretation as establishing a legal fiction overriding facts and which was not explicitly stated in the law. The second interpretation, according to which only the composition of a non-reproducible product is excluded from the prior art, was also seen to lead to absurd results. All starting materials used by the skilled person must be selected on the basis of their desired properties, which in turn are determined by the composition of the material. Also the very first raw material in the production chain inevitably had to come from a natural source. Its composition must be known and consciously exploited by the skilled person, even where they would not be able to reproduce the composition by a different route. The non-reproducible property, the composition, could not be ignored or disregarded, or else there would be no material left for the skilled person to work with.
The EBA therefore provided the correct interpretation of G 1/92 and held that the expected reproducibility of the product must be understood in a broader sense, namely as the ability of the skilled person to obtain and possess the physical product. This meant that the requirement would be inherently fulfilled by a product put on the market. The proper reading of the answer of G 1/92 was set out as follows: "The chemical composition of a product is part of the state of the art when the product as such is available to the public and can be analysed by the skilled person, irrespective of whether or not particular reasons can be identified for analysing the composition."
In turn, this meant that all analysable properties of a product put on the market become public alone by the possibility that they can been analysed, because the product was physically accessible. If the composition can be analysed, this becomes part of the state of the art as well, also if the skilled person is not in the position to reproduce it on their own.
The EBA also explained that prior art that is not considered relevant does not mean that the prior art does not exist. Something that belongs to the existing state of the art need not be relevant for any invention and for all provisions of the EPC where the state of the art is to be taken into account. That a non-reproducible product belongs to the state of the art does not necessarily mean that the product or its features must be taken into account equally when assessing novelty or inventive step.