10.8. Unerwarteter Bonuseffekt
10.8.2 Einbahnstraßen-Situation (zwangläufige Wirkung)
Der Fachperson muss es freistehen, die besten gegebenen Mittel für ihre Zwecke zu verwenden; zwar kann die Verwendung von Mitteln, die eine zu erwartende Verbesserung bewirken, durchaus patentfähig sein, wenn sie auf einer zusätzlichen Wirkung beruht, vorausgesetzt, dass dies eine Auswahl aus mehreren Möglichkeiten erforderlich macht. Fehlen jedoch entsprechende Alternativen, so liegt eine Einbahnstraßen-Situation vor, wo die Verwendung des Mittels trotz eines etwaigen unerwarteten Extra-Effekts in naheliegender Weise zu vorhersehbaren Vorteilen führt (T 192/82, ABl. 1984, 415; s. auch T 766/92, T 1936/13, T 1491/20). Eine Zusatzwirkung, die der Fachperson zwangsläufig aufgrund einer naheliegenden Maßnahme in den Schoß fällt, gemäß der Rechtspraxis des EPA lediglich einen Bonus darstellt, der – selbst als überraschender Effekt – keine erfinderische Tätigkeit zu begründen vermag (T 506/92; s. auch T 431/93, T 681/94, T 985/98, T 794/01, T 688/13, T 179/18).
In T 551/89 führte die Kammer aus, dass eine als Ergebnis einer naheliegenden Maßnahme zu erwartende Wirkung auch dann nicht zur Anerkennung der erforderlichen erfinderischen Tätigkeit beitragen kann, wenn das quantitative Ausmaß dieser Wirkung für die Fachperson überraschend ist. In diesem Fall stellt nämlich eine die Hoffnungen der Fachperson quantitativ übertreffende Wirkung lediglich einen Extra-Effekt dar, der sich zwangsläufig aus der Verwendung einer naheliegenden Maßnahme ergibt und der Fachperson ohne eigene erfinderische Leistung in den Schoß fällt (s. auch T 506/92, T 882/94, T 696/19, T 524/18).
In T 848/94 war zur Lösung der bestehenden technischen Aufgabe eine Kombination von Maßnahmen (Synergieeffekt) erforderlich, die aus dem Stand der Technik nicht in der Weise hervorging, dass sie die Fachperson gewählt hätte (s. auch T 716/07). Deshalb befand sie sich nicht in einer "Einbahnstraßen-Situation".
In T 1713/13 befand die Kammer, dass eine "Einbahnstraßen-Situation" nicht als zwingende Voraussetzung für den in T 21/81 aufgestellten Grundsatz hergeleitet werden kann (siehe Kapitel I.D.10.8.1).
In T 1356/21 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Rechtsprechung zu Bonuseffekten nicht auf alle Sachverhalte angewandt werden kann, bei denen ein bestimmtes Unterscheidungsmerkmal zu zwei trennbaren technischen Wirkungen führt (oder diese zwangsläufig erzielt), von denen eine erwartet werden kann. In Sachverhalten, die nicht als "Einbahnstraßen-Situation" gelten, hielt es die Kammer nicht für angebracht, einen entscheidenden und unerwarteten technischen Vorteil bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu ignorieren, sobald eine zusätzliche naheliegende Wirkung im Patent erwähnt wird. Sie führte aus, dass weder T 1317/13 noch T 21/81 (siehe Kapitel I.D.10.8.1) eine Grundlage für eine vorbehaltslose Anwendung der Rechtsprechung zum Bonuseffekt auf jeden beliebigen Sachverhalt mit einer Vielzahl von technischen Wirkungen ohne Berücksichtigung ihrer jeweiligen technischen und praktischen Bedeutung bieten. Die Kammer stimmte in dieser Hinsicht mit der Aussage in T 192/82 überein, dass die Verwendung von Mitteln, die zu bestimmten erwarteten Verbesserungen führen, durchaus patentierbar sein kann, wenn sie sich auf eine zusätzliche Wirkung stützt, sofern es sich um eine Auswahl aus einer Vielzahl von Möglichkeiten handelt. Siehe auch T 1357/21.
In T 53/22 stellte die Kammer fest, dass jede zusätzliche Wirkung, die sich aus der im vorliegenden Fall naheliegenden Kombination (D2 in Verbindung mit allgemeinem Fachwissen) ergibt, ein Extra- oder Bonuseffekt ist, der keine erfinderische Tätigkeit begründen kann. Die Fachperson hatte nur sehr wenige realistische Möglichkeiten, von denen ihr bei der Überlegung, wie sie die Lehre von D2 zur Realisierung eines Bypassventils in einem echten Turbolader umsetzen könnte, jede automatisch eingefallen wäre. Die Abwägung der Vor- und Nachteile der einzelnen Möglichkeiten in Abhängigkeit von den Umständen und den technischen Details war Routine und ergab sich hier aus einfachen praktischen Zwängen. Die Kammer unterschied den vorliegenden Fall von den Fällen, in denen es eine "Vielzahl" (also eine "große Anzahl") von Optionen gab (z. B. T 192/82) und auch von T 848/94, weil nicht vorgetragen wurde, dass eine synergetische Wirkung aus einer Kombination von Maßnahmen resultierte.