8.3. Wissensstand der Fachperson
8.3.4 Allgemeines zum allgemeinen Fachwissen
In T 206/83 (ABl. 1987, 5) betonte die Kammer, dass Patentschriften in der Regel nicht zum allgemeinen Fachwissen gehören. Auch die Kammer in T 1540/14 war der Meinung, dass der Inhalt von Patentdokumenten in der Regel nicht zum allgemeinen Fachwissen gehört (s. auch T 671/94).
In T 632/91 stellte die Kammer fest, dass Beweismittel, auch wenn sie keinen Vergleich des beanspruchten Gegenstands mit dem Stand der Technik umfassen, eine Prima-facie-Vermutung widerlegen können, der zufolge ein bestehendes allgemeines Fachwissen der Fachperson erlaubt hätte, die strukturellen Unterschiede chemischer Verbindungen außer Acht zu lassen.
In T 939/92 (ABl. 1996, 309) wurde ausgeführt, dass der Stand der Technik durchaus auch nur im einschlägigen allgemeinen Fachwissen bestehen könne, das wiederum nicht unbedingt schriftlich in Lehrbüchern oder dergleichen fixiert sein müsse, sondern möglicherweise nur zum ungeschriebenen "geistigen Rüstzeug" der Durchschnittsfachperson gehöre. Der Umfang des einschlägigen allgemeinen Fachwissens müsse aber im Streitfall durch schriftliche oder mündliche Beweismittel belegt werden.
In mehreren Entscheidungen wurde festgestellt, dass ein Nachweis für die Behauptung, dass etwas zum allgemeinen Fachwissen gehört, nur erforderlich ist, wenn dies von einem anderen Beteiligten oder vom EPA infrage gestellt wird (s. z. B. T 766/91, T 234/93). Wird die Behauptung, etwas gehöre zum allgemeinen Fachwissen, bestritten, so ist es an demjenigen, der dies behauptet, zu beweisen, dass der betreffende Gegenstand tatsächlich zum allgemeinen Fachwissen gehört (T 766/91; T 939/92, ABl. 1996, 309; T 329/04; T 941/04; T 690/06).
In T 1601/15 stellte die Kammer fest, dass die Fachperson keiner Anregung bedarf, um ihr Fachwissen zur Anwendung zu bringen. Die Kammer war von dem Argument, dass die Fachperson keinen Anlass gehabt hätte, auf ihr Fachwissen zurückzugreifen, nicht überzeugt. Die Fachperson bedarf keines Anlasses, um ihr Fachwissen zur Anwendung zu bringen. Ihr Fachwissen bildet gewissermaßen den technischen Hintergrund für jede Tätigkeit der Fachperson und fließt in alle ihre Entscheidungen ein. In dieser Hinsicht ist das allgemeine Fachwissen von der Lehre fachspezifischer Druckschriften zu unterscheiden.
In T 1520/19 befand die Kammer, dass es angemessen sei, in Verfahren vor dem EPA die Fachperson oft nicht zu definieren, sofern ihre Fähigkeiten und Kenntnisse durch die Umstände oder die vorgetragenen Argumente impliziert sind, zumindest solange die Qualifikation der Fachperson nicht infrage gestellt wird. In den meisten Fällen ist es unnötig, den akademischen Abschluss der Fachperson anzugeben, es sei denn, man würde der Fachperson nur aufgrund solcher Details speziell maßgebliche oder fragliche Fähigkeiten oder allgemeines Fachwissen zuschreiben. Was genau erforderlich ist, um eine fragliche Qualifikation der Fachperson festzustellen, hängt vom jeweiligen Fall ab. Im vorliegenden Fall bezweifelte die Kammer, dass ein Doktorgrad ein praktisches Kriterium zur Definition einer Fachperson darstellt, und befand, dass die Anmeldung von einer Person mit der vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen einschlägigen praktischen Erfahrung auf dem Gebiet beurteilt werden kann.