9.2.12 Beurteilung von Merkmalen, die sich auf mathematische Algorithmen beziehen
In T 1903/20 bezog sich die Erfindung auf maschinelle Übersetzung mittels neuronaler Netze. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass die Übersetzung eines Textes aus einer Ausgangssprache in eine Zielsprache in den Bereich der Linguistik fällt und keine technische Wirkung darstellt. Dies sei auch dann der Fall, wenn das Computerprogramm algorithmische Aspekte umfasse, die nicht unmittelbar auf linguistischen Konzepten beruhten. Sie stellte fest, dass das bloße Ermitteln eines Computeralgorithmus zur Ausführung eines automatisierten Übersetzungsverfahrens das daraus resultierende Computerprogramm nicht technisch macht (siehe auch T 598/14; T 2825/19; T 2401/22).
In T 183/21 kam die Kammer zu dem Schluss, dass durch den Gegenstand eines Anspruchs, der ein Verfahren zum automatischen Steuern der Leistung eines Empfehlungssystems in einem Kommunikationssystem definiert, das eine Client-Vorrichtung beinhaltet, die einem Benutzer zugeordnet ist, dem die Empfehlungen bereitgestellt werden, eine technische Wirkung durchschnittlich über im Wesentlichen den gesamten Schutzbereich des Anspruchs erreicht wird.
In T 702/20 bestand die Aufgabe der Erfindung darin, die Anzahl der Verbindungen zwischen den Knoten eines neuronalen Netzes zu verringern ("lose Kopplung"). Anspruch 1 unterschied sich vom nächstliegenden Stand der Technik dadurch, dass die verschiedenen Schichten des neuronalen Netzes gemäß einer Fehlercode-Prüfmatrix verbunden waren. Die vorgeschlagene Netzstruktur definierte lediglich eine Klasse mathematischer Funktionen, die als solche einen ausgeschlossenen Gegenstand darstellen. Andere "nichttechnische" Gegenstände können bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nur dann berücksichtigt werden, wenn sie zur Lösung einer technischen Aufgabe verwendet werden. Der Beschwerdeführer hatte argumentiert, dass das beanspruchte neuronale Netz eine technische Aufgabe löse, indem es im Computer Wirkungen im Zusammenhang mit der Implementierung neuronaler Netze (Speicherbedarf) hervorrufe, und dass neuronale Netze im Allgemeinen technische Aufgaben durch die Automatisierung menschlicher Aufgaben lösten. Die Kammer stellte fest, dass eine technische Aufgabe auch dann gelöst werden kann, wenn die Ergebnisse des Systems eine implizite weitere technische Verwendung haben (G 1/19), befand jedoch, dass die Ergebnisse des neuronalen Netzes keine implizite "weitere technische Verwendung" haben; sie können beispielsweise mit der Aktienmarktprognose zusammenhängen.
Der Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, dass die vorgeschlagene Änderung der Struktur des neuronalen Netzes gegenüber den vollständig verbundenen Standardnetzen den Ressourcenbedarf, insbesondere den Speicherbedarf, verringern würde und dass dies nach G 1/19 als technische Wirkung anerkannt werden solle. Die Kammer vertrat jedoch die Auffassung, dass der Speicher- und Rechenbedarf im Vergleich zu dem vollständig verbundenen Netz zwar tatsächlich verringert wird, dies aber bedeutet, dass das modifizierte Netz anders ist und nicht auf dieselbe Weise lernt. So benötige es zwar weniger Speicherplatz, leiste aber nicht dasselbe.
Ferner hatte der Beschwerdeführer argumentiert, dass es sich bei neuronalen Netzen um ein Automatisierungsinstrument handle, das das menschliche Gehirn nachahme, und dass ihr Verhalten vom Programmierer weder vorhergesagt noch verstanden werden könne. Die Kammer sah jedoch keinen Beweis dafür, dass neuronale Netze wie ein menschliches Gehirn funktionieren. Neuronale Netze seien eine mathematische Näherungsfunktion, die einfach und verständlich sein könne, wenn das Netz klein sei. Allein die schiere Komplexität eines größeren neuronalen Netzes lasse es unberechenbar erscheinen. Die Tatsache, dass ein Lernsystem komplex ist, reiche nicht aus, um daraus zu schließen, dass es die Funktionsweise eines Gehirns nachahmt.
Die Kammer betonte, dass kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass neuronale Netze technische Hilfsmittel bereitstellen können, die für die Automatisierung menschlicher Aufgaben oder die Lösung technischer Probleme nützlich sind. In den meisten Fällen setze dies jedoch eine hinreichende Spezifizierung voraus, insbesondere in Bezug auf die Trainingsdaten und die technische Aufgabe. Welche Spezifizität erforderlich sei, hänge normalerweise von der jeweiligen Aufgabenstellung ab, da nachgewiesen werden müsse, dass das trainierte neuronale Netz eine technische Aufgabe in der beanspruchten Allgemeinheit löst (siehe auch T 2246/18 und T 161/18, wo die Kammern die Verwendung neuronaler Netze für naheliegend hielten; T 748/19 und T 1191/19, wo die Ansprüche ebenfalls zu allgemein gehalten waren). Die Kammer in T 1952/21 verwies auf T 702/20 und stellte fest, dass dieser Fall in vielerlei Hinsicht ähnlich sei. Sie bekräftigte, dass ein trainiertes maschinelles Lernmodell, insbesondere ein neuronales Netz, nur dann für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit in Betracht kommt, wenn es für die Lösung einer technischen Aufgabe verwendet wird, z. B. mit spezifischen Daten für eine bestimmte technische Aufgabe trainiert wird.
Gegenstand der Erfindung in T 1191/19 war ein sogenanntes Meta-Learning-Schema. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass es sich dabei um die Anwendung bekannter Techniken – wie Meta-Learning – auf andere Bereiche handelte, was einem allgemeinen technologischen Trend entspricht und als solches nicht erfinderisch sein kann. Die Kammer konnte im Verfahren nach Anspruch 1 kein nicht naheliegendes Detail der Anwendung des aus dem Stand der Technik bekannten Meta-Learning-Schemas auf die vorliegende Aufgabe erkennen, das über eine bloße Wiederholung des im Stand der Technik offenbarten Schemas auf einer abstrakten Ebene hinausging.
Ähnlich entschied die Kammer in T 1425/21, wo eine Angleichung "behäbiger" Maschinenlernmodelle an "abgeleitete" Maschinenlernmodelle mit geringerem Rechen- und/oder Speicherbedarf beansprucht wurde. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass das abgeleitete Modell zwar den Speicher- bzw. Rechenbedarf eines Maschinenlernmodells reduziert, dies allein aber nicht ausreicht, um eine technische Wirkung nachzuweisen, da auch die Leistung des "reduzierten" Lernmodells berücksichtigt werden muss. Die Kammer hielt es nicht für glaubhaft, dass ein Modell mit weniger Parametern ebenso genau sein kann wie das komplexere Modell, das es ersetzen soll.
In T 598/07 betraf die Erfindung ein Verfahren zur Überwachung von Herzschlägen, das auf einem neuronalen Netz zum Identifizieren unregelmäßiger Herzschläge basierte. Laut Kammer leistete dies einen technischen Beitrag. Ferner vertrat die Kammer die Auffassung, dass die betreffenden Verfahrensansprüche nicht unter die Ausschlussbestimmungen des Art. 53 c) EPÜ fallen, da keiner von ihnen einen Schritt enthielt, der sich auf die Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne, also auf die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase bezog.
In T 1286/09 betraf die Erfindung das Gebiet der digitalen Bildbearbeitung allgemein und insbesondere ein Verfahren zur Verbesserung der Bildklassifikation, indem ein semantischer Klassifikator mit einem Satz von Beispielfarbbildern trainiert wird, die "neu zusammengesetzte" Versionen eines Beispielbilds darstellen, um die Diversität der Trainingsexemplare zu erhöhen. Die Kammer bejahte die erfinderische Tätigkeit.
In T 1510/10 entschied die Kammer, dass erfinderische Tätigkeit nicht aus der Verwendung von maschinellem Lernen alleine hergeleitet werden kann. Die Beschwerde wurde zurückgewiesen.
In T 1784/06 wurde die automatische Klassifizierung von abstrakten Datensätzen für nichttechnisch befunden, weil die Datensätze für den nichttechnischen Zweck der Rechnungsstellung klassifiziert wurden. Eine wertvolle mathematische Eigenschaft des Algorithmus könnte technischen Nutzen implizieren, allerdings nur bei Verwendung für einen technischen Zweck.
In T 755/18 befand die Kammer wie folgt: Wenn weder der Output eines Computerprogramms für maschinelles Lernen noch die Genauigkeit des Outputs zu einer technischen Wirkung beiträgt, ist eine automatisch erzielte Verbesserung der Maschine durch beaufsichtigtes Lernen zur Erzeugung eines verbesserten Outputs für sich genommen keine technische Wirkung.
In T 761/20 definierte der Anspruch ein Verfahren zur Bewertung von Skripten unter Verwendung von maschinellem Lernen, bei dem es sich de facto um ein computerimplementiertes Verfahren handelte. Solche Verfahren können sowohl bei ihren Ein- und Ausgaben als auch durch ihre Ausführung technische Wirkungen haben und damit zur Lösung einer technischen Aufgabe beitragen (vgl. G 1/19, Nr. 85 der Gründe). Eine technische Wirkung kann auch im Lichte ihres Zwecks, d. h. einer (implizierten) technischen Verwendung ihrer Ergebnisse, anerkannt werden (vgl. G 1/19, Nr. 137 der Gründe). Das beanspruchte Verfahren umfasste Schritte zum Extrahieren numerischer "linguistischer" Vektoren aus Skripten (für alle berücksichtigten Proben, Trainingsskripte und zu bewertenden Skripte), einen Schritt des Trainierens eines Perzeptrons und einen Schritt des Verwendens des Perzeptrons zur Bewertung der Skripte. Grundsätzlich könnte das beanspruchte Trainingsverfahren einen technischen Beitrag zum Stand der Technik leisten (vgl. z. B. G 1/19, Nr. 33 der Gründe). Für sich genommen handelte es sich jedoch um eine mathematische Methode, sodass dieser Beitrag in den ausgeschlossenen Bereich der mathematischen Methoden fiel (siehe T 702/20 und T 755/18, Orientierungssatz) und somit kein patentierbarer Beitrag war. Unter der Annahme, dass die beanspruchte Erfindung dem Zweck diente, ihre Benutzer bei der Beurteilung linguistischer Fähigkeiten zu unterstützen, wie vom Beschwerdeführer behauptet, konnte die Kammer keinen anderen impliziten Zweck erkennen. Auch widersprach die Kammer der Auffassung des Beschwerdeführers, dass das Gebiet der "Bildungstechnologie" ein technisches Gebiet sei.
In T 874/19 bezog sich die Anmeldung auf die Klassifizierung von Suchmaschinenressourcen als Spam-Ressource (als zur "Spam"-Kategorie gehörend) bzw. Nicht-Spam-Ressource (als zur "Nicht-Spam"-Kategorie gehörend) auf der Grundlage eines "tiefen Netzwerks". Dabei handelt es sich um verschiedene Schichten eines neuronalen Netzes zur automatischen Klassifizierung von Sucheingabedaten. Der beanspruchte Klassifikator war in der Lage, eine alternative mathematische Darstellung der Eingabedaten zu verarbeiten, um dann für jede Kategorie einer bestimmten Kategoriengruppe eine sogenannte Kategoriemetrik zu berechnen. Jede Kategoriemetrik lieferte auch einen Wert der Wahrscheinlichkeit dafür, dass die jeweilige Ressource tatsächlich zur entsprechenden Kategorie gehörte. Für die Kammer war nicht erkennbar, worin ein weiterer technischer Effekt der Unterscheidungsmerkmale bestehen könnte oder welche objektive technische Aufgabe der Gegenstand von Anspruch 1 lösen würde.