9.2.12 Beurteilung von Merkmalen, die sich auf mathematische Algorithmen beziehen
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9.2.12 Beurteilung von Merkmalen, die sich auf mathematische Algorithmen beziehen
Da mathematische Methoden als solche als Nichterfindungengelten (Art. 52 (2) und (3) EPÜ), können mathematische Algorithmen nur insoweit zum technischen Charakter einer Erfindung beitragen, als sie einen technischen Zweck erfüllen (T 1784/06, T 208/84, T 1227/05, ABl. 2007, 574, T 1358/09, T 306/10, T 566/11, T 2035/11, T 2249/13, T 2330/13). Die Problematik ist derzeit aktuell, da auch der schnell wachsende Bereich der künstlichen Intelligenz davon tangiert wird.
Mit T 208/84 begann das Unterscheiden zwischen abstrakten Konzepten einerseits und technischen Verfahren andererseits, die eine "physikalische Erscheinung" wie etwa ein elektrisches Signal umfassen und ändern. Ein grundlegender Unterschied zwischen einer mathematischen Methode und einem technischen Verfahren sei darin zu sehen, dass eine mathematische Methode oder ein mathematischer Algorithmus mit Zahlen (die etwas Beliebiges darstellen können) ausgeführt wird und zu einem in Zahlen ausgedrückten Ergebnis führt, da die mathematische Methode oder der Algorithmus nur ein abstraktes Konzept ist, das beschreibt, wie mit diesen Zahlen zu verfahren ist. Durch die Methode als solche wird kein unmittelbares technisches Ergebnis erzielt. Wird eine mathematische Methode hingegen in einem technischen Verfahren verwendet, so wird dieses Verfahren durch ein technisches Mittel auf eine physikalische Erscheinung (die ein materielles Objekt, aber auch ein als elektrisches Signal gespeichertes Bild sein kann) angewandt und bewirkt damit bei dieser eine gewisse Veränderung.
In T 1161/04 betraf die Erfindung eine Vorrichtung zur Umschichtung eines Aktienindex. Die Kammer befand, dass es sich bei den Daten lediglich um Zahlen handelte, die "physikalische Erscheinungen" beschreiben und zwangsläufig von einem Menschen interpretiert werden müssen, ohne dass es einer weiteren Interaktion mit dem technischen System oder einer Änderung desselben bedarf.
In T 1814/07 befand die Kammer dagegen, dass ein automatisches Sammlungs- und Analysesystem zur Patientenversorgung sowie Verfahren zur Ordnung und Priorisierung multipler Gesundheitsstörungen zur Identifizierung einer Indexstörung zwar eine mathematische Methode darstellte, diese jedoch in einem technischen Verfahren zum Einsatz kam, das mithilfe von technischen Mitteln zur Ausführung der Methode auf eine physikalische Erscheinung angewandt wurde und bei dieser eine Veränderung hervorrief und somit zum technischen Charakter beitrug..
In T 2418/12 wurden verwandte Begriffe von einem Algorithmus vorgeschlagen. Dies wurde nicht als technische Aufgabe angesehen; ob Begriffe "verwandt" sind, sei eine kognitive oder linguistische, aber keine technische Frage (T 1358/09, T 2230/10, T 2439/11). Der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zufolge sei algorithmische Effizienz keine technische Wirkung (vgl. T 1784/06, T 42/10, T 1370/11).
Eine jüngere Rechtsprechungslinie betrachtet die Richtlinien für die Prüfung in Bezug auf mathematische Methoden kritisch.
In T 1910/20 behaupteten die Beschwerdeführer, dass der in den Unterscheidungsmerkmalen angegebene Algorithmus zur Mustererweiterung in erster Linie eine mathematische Methode sei, die nicht allein durch die daraus resultierende Darstellung von Informationen, sondern auch durch die Ableitung des physiologischen Zustands eines Patienten zum technischen Charakter der Erfindung beitrage. Sie verwiesen auf die Richtlinien, G‑II, 3.3 (Stand April 2025 im wesentlichen unverändert), wo Folgendes festgestellt wird: "Wenn Schritte einer mathematischen Methode verwendet werden, um den physikalischen Zustand eines existierenden realen Gegenstands anhand von Messungen physikalischer Eigenschaften herzuleiten oder vorherzusagen, wie es bei indirekten Messungen der Fall ist, dann leisten diese Schritte einen technischen Beitrag unabhängig davon, welcher Verwendung diese Ergebnisse zugeführt werden". Die Beschwerdeführer hatten argumentiert, dass ein Patient auch ein real existierender Gegenstand sei und sein physiologischer Zustand in Form von Mustern in seinen Blutzuckerdaten ein physikalischer Zustand sei. Zur Stützung ihrer Argumentation verwiesen sie ferner auf T 1785/14.
Nach Auffassung der Kammer beruhte die Argumentation der Beschwerdeführer auf einer irreführenden pauschalen Aussage, die sie den Richtlinien entnommen hatten. Der vorangehende Satz der Richtlinien stelle unter Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung zutreffend fest: "Eine Definition des Dateninputs bei einer mathematische [sic] Methode bedeutet nicht zwangsläufig, dass die mathematische Methode zum technischen Charakter der Erfindung beiträgt." Für einen Beitrag zum technischen Charakter reiche es insbesondere nicht aus, dass die durch eine mathematische Methode verarbeiteten Größen physikalische Parameter darstellen. Da wohl alle physikalischen Parameter einen physikalischen Zustand eines existierenden realen Gegenstands darstellen, sei der Folgesatz der Richtlinien zumindest in seiner Allgemeinheit ("dann leisten diese Schritte einen technischen Beitrag, unabhängig davon, welcher Verwendung ihre Ergebnisse zugeführt werden") falsch.
Außerdem könne aus T 1785/14 nicht abgeleitet werden, dass es für einen Beitrag zum technischen Charakter der Erfindung ausreicht, die Eingabe für eine mathematische Methode als physiologische Parameter zu definieren. Die Kammer hatte in diesem Fall befunden, dass die Unterscheidungsmerkmale die technische Aufgabe lösten, eine höhere Genauigkeit bei der Bestimmung der Probenahmezeit für ein einzelnes Tier zu ermöglichen (T 1785/14). Dies sei nicht mit dem vorliegenden Fall vergleichbar, in dem die Beschwerdeführer in keinem der Anträge eine technische Wirkung der durch die mathematischen Schritte nach Anspruch 1 erzeugten Darstellung von Clusterzentren nachweisen konnten.
Wie bereits oben dargelegt, war die Kammer in T 761/20 der Auffassung, dass sich G 1/19 zwar auf computerimplementierte Simulationen bezieht, ihre Entscheidungsgründe aber auch für andere computerimplementierte Methoden als Simulationen gelten. Auch wenn für das Vorliegen einer technischen Wirkung eine unmittelbare Verbindung zur physischen Realität nicht erforderlich sei, so bedürfe es doch einer zumindest mittelbaren Verbindung zur physischen Realität, sei es innerhalb oder außerhalb des Computers. Der Zusammenhang könne durch die beabsichtigte Verwendung oder den Zweck der Erfindung ("bei ihrer Ausführung" oder wenn sie "wie beabsichtigt verwendet" wird) vermittelt werden.
In T 1741/22 betraf die Erfindung den Empfang von Messungen des Blutzuckerspiegels eines Patienten und die darauf basierende Generierung maximaler und minimaler Blutzuckermesswerte zur Identifizierung eventueller medizinischer Ausreißerwerte. Während die Kammer in T 2681/16 eingeräumt hatte, dass die Bereitstellung eines Gesamtmaßes für die Blutzuckerschwankungen und eine Vorhersage glykämischer Ereignisse technisch sei, vertrat die Kammer im vorliegenden Fall eine andere Auffassung. Die Interaktion mit der physischen Realität sei im vorliegenden Fall ebenso wie in T 2681/16 mit der Durchführung der Blutzuckermessung beendet. Die Bestimmung von Blutzuckerschwankungen und die Vorhersage glykämischer Ereignisse seien als mathematische Schritte oder geistige Tätigkeit ohne diese Interaktion mit der physischen Realität und daher nicht als Messungen in diesem Sinne anzusehen.
In Bezug auf die EPÜ Richtlinien G‑II, 3.3 (Stand April 2025 unverändert), wo die "Erstellung einer medizinischen Diagnose durch ein automatisiertes System, das physiologische Messungen verarbeitet" als ein Beispiel für einen technischen Beitrag einer mathematischen Methode angeführt wird, entschied die Kammer: "Da das Stellen einer 'medizinischen Diagnose' – ob durch einen Arzt oder ein automatisiertes System – keinen technischen Charakter hat (siehe z. B. G 1/04, Nr. 5.3 und 6.3 der Gründe), ist dieses Beispiel eindeutig fehlerhaft. Mangels weiterer Erläuterungen oder gar eines Verweises auf die Rechtsprechung sieht die Kammer keinen Anlass, darüber zu spekulieren, wie es zu dem Beispiel in den Richtlinien gekommen ist."
- T 0799/24
In T 799/24 the invention concerned a method and device for analysing optimisation of vehicle body joint position. The aim of the invention was to provide an analysis apparatus for determining an optimal location of an additional welded point to be added to a portion to join a part to an assembly of parts in consideration of the load acting on the automotive body and of the inertia force acting on a fitting or lid component of the automobile during driving. Claim 1 of the main request concerned an "arithmetic processing unit" or a CPU together with a display device including elements which were computer-implemented or performed a "computer-implemented" method. The board noted that the first hurdle mentioned in decision G 1/19, which requires that the claimed subject-matter as a whole must not fall under the "non-inventions" defined in Art. 52(2) and (3) EPC, was overcome since claim 1 related to an "arithmetic processing unit" together with a display device.
The second hurdle, mentioned in decision G 1/19, is where, as part of the inventive step assessment, it must be established which features of the invention contribute to its technical character, by providing a technical effect in the context of the invention as a whole..
According to the board, the formulation in claim 1 of the main request that additional welded point(s) were "to be added" to the automotive body to improve its stiffness during driving at least implicitly specified a further technical use. The board considered it implicit from claim 1 that the additional welded points of which the locations were determined would be added to the automotive body.
In the board's view, since the use of the analysis results was defined in the claim as being "for automotive body designing", leaving it open which further steps, technical or not, were to be performed with the analysis results, a potential further selection of a particular automotive body might also be based on the visual characteristics or appearance of the automotive body. However, the board was of the opinion that the selection of the automotive body was, in addition, also restricted to the selected additional welded points to be added to the automotive body.
The board noted that the optimisation analysis on the welding candidates applied at least one of the load, of which magnitude and direction were different at each joining portion. An additional welded point or an additional welded location that satisfied the optimisation analysis conditions, including maximising absorbed energy, was selected.
The analysis results used in the automotive body designing were, for example, "automotive body displacement amount". The possible use by the user of the displayed analysis results might be a cognitive exercise such as selecting the automotive body corresponding to the lowest displacement amount (G 1/19), but the board considered that the step of selecting the additional welded points contributed to the technical character of the invention.
The board further noted that the additional welded points of which the locations were determined or selected were "to be added to the automotive body" ("to improve the stiffness of the automotive body during driving"). In the board's view this wording at least implicitly specified a further technical use (G 1/19)..
The board considered that, even if the automotive body was a "prototype" and the additional welded points were added to this "prototype", this "prototype" would still be a physical object having at least some of the features of an automotive body.
The board noted that the Enlarged Board in G 1/19 required a simulation to be "accurate enough" or a simulation that reflects "reality" "accurately enough". In the present case, the automotive model constituted by the automotive body frame model and the chassis model together with the welded points at the joining portion(s) was considered by the board to reflect an automotive body (as "reality") "accurately enough". The board concluded that the subject-matter of claim 1 and dependent claim 2 of the main request involved an inventive step.
- T 0201/21
In T 201/21, the prior art disclosed a system for verifying authentication and ownership of a physical article. Each article included a label having a unique authentication code, pre-stored on a server database. The authentication code can be used to verify authenticity of an item by sending a query to a manufacturer's server. When a transaction takes place, the merchant registers ownership of the item by sending a registration request to the server including the article's unique code and a generated unique number. The registration only takes place if the code and number are not already associated with another sale.
Claim 1 differed from the prior art essentially in that card numbers are pre-stored in the central database and provided to the merchant on a brand property card (BPC), in that the database is populated with point of sale data upon entry of the numbered cards at a point of sale, in that a BPC card is provided to the user and its number is combined by the merchant with the unique identifier code in a registration request, and in that the registration is only possible if both the BPC card number and unique identifier code match a number and a code stored on the server and not associated with a sold physical article.
The appellant had argued that these features increased the security of the authentication method by providing a second authentication factor. In particular, it was argued that "... the combination of ... pairing [of the unique card and article numbers] in the database and the use of numbered cards that are not initially paired with particular physical items, results in ... strong authentication of physical articles". Moreover, they guarantee that the merchant has the authority to register the sold articles in the database.
The board found these arguments unconvincing. It regarded the general idea of protecting a transaction, here a registration, with a password as non-technical and also well known. The board further considered that the idea of using a predefined set of one-time passwords for user or merchant authentication also lacked technicality. Even when considered technical, this feature could not support an inventive step, as it corresponded to the well-known transaction authentication number (TAN) authentication procedure commonly used in online transactions. Making use of a server to store and verify the passwords or TAN numbers and of cards for distributing these to the merchant and customers was a straightforward implementation of this known procedure on well-known means.
The appellant had argued that the invention addressed the sales of luxury goods where customers appreciate tangible objects, such as certificates on elegant cards, and formulated the objective problem as "how to make the use of security tokens more attractive to a given population".
The board did not consider this an objective technical problem, as its formulation depended on the user's subjective preferences or expectations. From a technical point of view, the cards of claim 1 were merely a support for providing the merchant with the unique numbers to be used for the registration procedure. This was considered to be an obvious implementation possibility. Accordingly, the board concluded that claim 1 of the sole request lacked an inventive step over the prior art.