6.3. Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche
6.3.2 Rechtsgrundlage für das Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche
Mehrere Entscheidungen, in denen der Grundsatz angewandt wurde, dass die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen sind, berufen sich auf Art. 69 (1) EPÜ 1973 (T 23/86, ABl. 1987, 316; T 16/87, ABl. 1992, 212; T 238/88, ABl. 1992, 709; T 476/89; T 544/89; T 565/89; T 952/90; T 717/98). In anderen Entscheidungen wird unterstrichen, dass Art. 69 EPÜ 1973 (bzw. Art. 69 EPÜ) und das zugehörige Protokoll in erster Linie zur Verwendung durch die für Patentverletzungsverfahren zuständigen Gerichte gedacht sind (s. z B. T 1208/97, T 1279/04, T 223/05, T 1047/11, T 56/21). In T 556/02 machte die Kammer deutlich, dass sie lediglich den im gesamten EPÜ geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz angewandt habe, wonach ein Dokument als Ganzes auszulegen ist (s. z. B. T 23/86; T 860/93, ABl. 1995, 47). Art. 69 EPÜ 1973 sei ein Sonderfall der Anwendung dieses allgemeinen Grundsatzes. S. auch T 1871/09, T 1817/14, T 447/22.
In T 1279/04 verwarf die Kammer die Auffassung des beschwerdeführenden Patentinhabers, dass Ansprüche für die Zwecke der Beurteilung der Neuheit im Einspruchsverfahren gemäß Art. 69 (1) EPÜ 1973 und seinem Auslegungsprotokoll auszulegen seien. Art. 69 (1) EPÜ 1973 und sein Protokoll bezögen sich auf den Schutzbereich des Patents bzw. der Patentanmeldung, der vor allem in Verletzungsverfahren von Bedeutung sei. Diese Bestimmungen dienten dazu, unter Umständen, unter denen der Anspruchswortlaut definitiv feststehe, für einen fairen Schutz zu sorgen – unter anderem durch Bezugnahme auf die Beschreibung und die Zeichnungen. Im Prüfungs- und Einspruchsverfahren habe hingegen die künftige Rechtssicherheit oberste Priorität. Hier bestehe die Funktion der Ansprüche darin, den Gegenstand zu definieren, für den Schutz begehrt werde (Art. 84 Satz 1 EPÜ 1973). Es komme nichts anderes in Betracht als eine Herangehensweise, bei der ein Anspruch als strikte Definition gelesen wird (zur Auslegung dieser Herangehensweise s. T 1534/12), da der Anspruch in diesem Verfahrensstadium geändert werden könne und solle, um einen dem Gebot der Rechtssicherheit entsprechenden Patentschutz und insbesondere Neuheit und erfinderische Tätigkeit gegenüber jedem bekannten Stand der Technik zu gewährleisten. Jeglichen auftretenden Auslegungsschwierigkeiten sollte im Prüfungs- und Einspruchsverfahren mit Änderungen begegnet werden und nicht mit langwierigen Argumenten, wobei anerkannt sei, dass Änderungen an der erteilten Fassung eines Patents durch Einspruchsgründe veranlasst sein sollten. S. auch T 145/14.
Ebenso betonte die Kammer in T 1808/06 Folgendes: Wenn die Beschreibung im Hinblick auf das Erfordernis des Art. 84 EPÜ geändert werden müsse, könne Art. 69 (1) EPÜ nur dann – hilfsweise – zur Auslegung des beanspruchten Gegenstands herangezogen werden, wenn die Beseitigung von Unstimmigkeiten aus verfahrenstechnischen Gründen nicht möglich sei (z. B. Änderung der erteilten Fassung unzulässig).
In T 1646/12 hob die Kammer hervor, Art. 69 (1) EPÜ betreffe nur den Schutzbereich des Patents, welcher wiederum nur im Hinblick auf Art. 123 (3) EPÜ sowie in nationalen Verletzungsverfahren von Bedeutung sei. Ein allgemeines Gebot der Auslegung der Ansprüche unter Heranziehung der Beschreibung ließe sich aus Art. 69 (1) EPÜ nicht ableiten. Allerdings könne ein Begriff nach allgemeinen Grundsätzen nur im Kontext ausgelegt werden. Begriffe eines Anspruchs seien daher im Gesamtzusammenhang des Anspruchssatzes und der Beschreibung auszulegen (s. auch T 1817/14). Zwei Extreme sollten vermieden werden. Zum einen könnten einschränkende Merkmale, die zwar in der Beschreibung beschrieben sind, aber nicht in den Ansprüchen, nicht in letztere hineingelesen werden (s. dieses Kapitel II.A.6.3.4). Eine solche Übertragung von einschränkenden Merkmalen könne nicht durch Auslegung, sondern nur durch eine Änderung der Ansprüche erreicht werden. Zum anderen könne man den Anspruch auch nicht als von der Beschreibung völlig getrennt betrachten. Die Fachperson, die einen Anspruch auslegt, müsse sich zumindest vergewissern, ob die Ausdrücke des Anspruchs ihrem üblichen Wortsinn nach zu verstehen sind oder ob die Beschreibung für diese Ausdrücke eine besondere Bedeutung definiert. Auch bei unklaren Ansprüchen komme die Fachperson nicht umhin, in den restlichen Ansprüchen, aber auch in der Beschreibung und den Figuren nach klärenden Elementen zu suchen (s. dieses Kapitel II.A.6.3.3). Es sei also innerhalb gewisser Grenzen zulässig, und unter Umständen sogar notwendig, die Beschreibung bei der Auslegung der Ansprüche heranzuziehen; einer Berufung auf Art. 69 (1) EPÜ bedürfe es dazu nicht.
In T 1473/19 widersprach die Kammer der Feststellung in T 1279/04 und befand, dass Art. 69 EPÜ in Verbindung mit Art. 1 des zugehörigen Protokolls bei der Auslegung von Ansprüchen und der Bestimmung des beanspruchten Gegenstands in Verfahren vor dem EPA – einschließlich für die Zwecke der Überprüfung der Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ – herangezogen werden könne und solle. Nach Auffassung der Kammer unterscheidet sich die Auslegung der beanspruchten Merkmale zur Ermittlung des (ersten Teils des) Schutzumfangs eines Patentanspruchs nicht von der Auslegung und Bestimmung des beanspruchten Gegenstands für die Zwecke der Überprüfung der Erfordernisse der Art. 54, 56, 83 und 123 (2) EPÜ. Darüber hinaus sei die generelle Anwendung des Art. 69 EPÜ und des zugehörigen Protokolls in Verfahren vor dem EPA auch erforderlich, um eine einheitliche und konsistente Anspruchsauslegung sicherzustellen, wenn beispielsweise das betreffende Merkmal nicht nur gemäß Art. 123 (3) EPÜ, sondern auch – wie im vorliegenden Fall – gemäß Art. 123 (2) EPÜ auszulegen sei. Die Kammer wies darauf hin, dass nationale Gerichte die in Art. 69 EPÜ und im zugehörigen Protokoll enthaltenen Regeln für die Auslegung von Ansprüchen in Verletzungs- und Nichtigkeitsverfahren anwendeten. Die Kammer schloss sich auch der in T 2007/19, T 1646/12 und T 556/02 vertretenen Auffassung an, wonach ein Begriff nach allgemeinen Grundsätzen nur im Kontext ausgelegt werden könne, sodass Begriffe eines Anspruchs im Gesamtzusammenhang des Anspruchssatzes und der Beschreibung auszulegen seien. Allerdings habe die Kammer in T 1473/19 auch betont, dass der in Art. 69 (1) Satz 1 EPÜ verankerte Grundsatz des Anspruchsprimats begrenze, inwieweit die Bedeutung eines bestimmten Anspruchsmerkmals durch die Beschreibung und die Zeichnungen beeinflusst werden könne. Die Entscheidung T 1473/19 wurde in T 450/20, T 1494/21 und T 367/20 voll und ganz bestätigt. Letztere enthielt mehrere Entscheidungen nationaler Gerichte in den Vertragsstaaten als Beispiele für nationale Rechtsprechung zur Auslegung von Ansprüchen gemäß Art. 69 EPÜ in Nichtigkeitsverfahren.
In T 169/20 widersprach die Kammer der Feststellung in T 1473/19, dass Art. 69 (1) EPÜ in Verbindung mit Art. 1 des zugehörigen Protokolls auf die Auslegung der Ansprüche für die Zwecke der Beurteilung der Patentierbarkeit anwendbar ist. Die Kammer stellte fest, dass die Bestimmungen von Art. 84 EPÜ sowie R. 42 und 43 EPÜ eine angemessene Rechtsgrundlage für die Anspruchsauslegung bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung darstellen. Insbesondere das Erfordernis in Art. 84 Satz 2 EPÜ, dass die Ansprüche durch die Beschreibung gestützt sein müssen, sei ein unmittelbarer und eindeutiger Hinweis auf die Funktion der Beschreibung als Hilfe zum Verständnis des Anspruchsgegenstands.
Laut Kammer in T 438/22 ist es ein allgemeines und übergeordnetes Ziel und damit auch ein "Erfordernis" des EPÜ, dass Behörden, Gerichte und die Öffentlichkeit, die die Ansprüche später auslegen, soweit wie möglich zu demselben Verständnis des beanspruchten Gegenstands gelangen sollten wie die über seine Patentierbarkeit entscheidenden EPA-Organe. Das einzige Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, ist die Patentschrift als Ausdruck eines einheitlichen Rechtstitels. Die Beschreibung als fester Bestandteil der Patentschrift sollte daher ebenfalls diesem übergeordneten Ziel dienen, d. h. sie sollte ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Auslegung der Ansprüche ermöglichen.
Die Anwendung von Art. 69 (1) Satz 2 EPÜ und von Art. 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ auf die Auslegung von Patentansprüchen bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach Art. 52 bis 57 EPÜ wird in der ersten Frage behandelt, die der Großen Beschwerdekammer in G 1/24 vorgelegt wurde (s. in diesem Kapitel II.A.6.3.1).
S. auch dieses Kapitel II.A.6.3.4 "Hineinlesen zusätzlicher Merkmale und Einschränkungen in die Patentansprüche".
- G 0001/24
In G 1/24 the Enlarged Board ("EBA") considered the points of law referred to it by Technical Board of Appeal 3.2.01 in T 439/22 of 24 June 2024. The first question was whether Art. 69(1), second sentence, EPC and Art. 1 of the Protocol on the Interpretation of Article 69 EPC are to be applied to the interpretation of patent claims when assessing the patentability of an invention under Art. 52 to 57 EPC. The second question concerned whether the description and figures are to be consulted when interpreting the claims to assess patentability and, if so, whether this may be done generally or only if the person skilled in the art finds a claim to be unclear or ambiguous when read in isolation. The third and final question was whether a definition or similar information on a term used in the claims, which is explicitly given in the description, can be disregarded when interpreting the claims to assess patentability and, if so, under what conditions.
The EBA confirmed that the departments of the EPO were required to interpret patent claims when assessing the patentability of an invention under Art. 52 to 57 EPC. As regards Question 1, the EBA held that there was no clear legal basis, in terms of an article of the EPC, for claim interpretation when assessing patentability. Article 69 EPC and Art. 1 of the Protocol were arguably only concerned with infringement actions and therefore were not entirely satisfactory as a basis for claim interpretation when assessing patentability. Article 84 EPC could also be criticised as an alternative legal basis as it addresses the content of the patent application and is formal in nature without providing guidance on how to interpret claims. It only sets out an instruction to the drafter of what needs to be in the claims and an instruction to the EPO to determine whether the claims meet that purpose. The EBA considered, however, that there was an existing body of case law of the Boards of Appeal which applied the wording of the aforementioned provisions in an analogous way to the examination of patentability under Art. 52 to 57 EPC, and from which the applicable principles of claim interpretation could be extracted.
The EBA further held it a settled point in the case law of the Boards of Appeal that the claims are the starting point and the basis for assessing the patentability of an invention under Art. 52 to 57 EPC.
As regards Question 2, the EBA stated that the description and any drawings must always be consulted when interpreting the claims, and not just in the case of unclarity or ambiguity. In adopting this position, the EBA rejected the case law of the Boards of Appeal that sees no need to refer to the descriptions and drawings when interpreting a claim, unless the claim is unclear or ambiguous. It found that this case law was contrary to the wording, and hence the principles, of Art. 69 EPC. It was also contrary to the practice of both the national courts of the EPC contracting states and the UPC. Moreover, from a logical point of view, the finding that the language of a claim is clear and unambiguous was an act of interpretation, not a preliminary stage to such an interpretative act.
Question 3 was held inadmissible by the EBA, which considered it to be encompassed by Question 2.
The EBA also referred to the harmonisation philosophy behind the EPC and noted that the case law of the UPC Court of Appeal on claim interpretation appeared to be consistent with the above conclusions. It further highlighted the importance of the examining division carrying out a high quality examination of whether a claim fulfils the clarity requirements of Art. 84 EPC, and stated that the correct response to any unclarity in a claim was amendment.
The order by the EBA in G 1/24 reads as follows: "The claims are the starting point and the basis for assessing the patentability of an invention under Articles 52 to 57 EPC. The description and drawings shall always be consulted to interpret the claims when assessing the patentability of an invention under Articles 52 to 57 EPC, and not only if the person skilled in the art finds a claim to be unclear or ambiguous when read in isolation."