6.3. Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche
6.3.3 Auslegung mehrdeutiger Begriffe oder Bestätigung des Anspruchswortlauts
Viele Entscheidungen, die die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche heranziehen, betreffen die Auslegung von relativen, mehrdeutigen oder unklaren Begriffen oder berufen sich auf die Beschreibung lediglich, um die nächstliegende Auslegung des Anspruchswortlauts zu bestätigen (z. B. T 23/86, ABl. 1987, 316; T 16/87, ABl. 1992, 212; T 50/90; T 952/90; T 439/92; T 458/96; T 717/98; T 556/02; T 1089/11; T 2145/13, T 694/20).
Die Kammern haben in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass den in Patentdokumenten verwendeten Begriffen die im einschlägigen Stand der Technik übliche Bedeutung zu geben ist, sofern ihnen nicht in der Beschreibung ein besonderer Sinn zugewiesen wird (s. z. B. T 1321/04, T 25/15, T 1844/15, T 2030/20, in der dem Merkmal "Tauchrohr" im Lichte der Beschreibung eine breitere Bedeutung zugemessen wurde). Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Patentdokument nämlich sein eigenes Wörterbuch darstellen (s. z. B. T 311/93, T 523/00, T 1192/02, T 61/03, T 1321/04, T 620/08, T 2480/11, T 1817/14; s. auch dieses Kapitel II.A.6.3.5). Auf dieser Grundlage befand die Kammer in T 500/01, dass ein Anspruch, dessen Wortlaut mit einem Anspruch in der ursprünglich eingereichten Fassung im Wesentlichen identisch ist, trotzdem gegen Art. 123 (2) EPÜ verstoßen kann, wenn er ein Merkmal enthält, dessen Definition in der Beschreibung in unzulässiger Weise geändert worden ist (s. auch Kapitel II.E.1.14.4 "Änderung von Definitionen oder Streichung von Beispielen"). Die Kammer in T 1360/13 entschied, dass jede Änderung in der Beschreibung oder in den Zeichnungen das Verständnis eines beanspruchten Merkmals beeinflussen kann, insbesondere wenn das Merkmal angesichts eines Dokuments des Stands der Technik oder eines angeblich verletzenden Erzeugnisses als mehrdeutig angesehen werden muss und somit zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führen könnte. Jegliche in der Beschreibung und/oder den Zeichnungen eines Patents enthaltenen Informationen, die sich direkt auf ein Anspruchsmerkmal beziehen und dessen Auslegung potenziell einschränken, können nicht ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ aus der Patentschrift gestrichen werden. Ein Beispiel ist in T 953/22 zu finden, wo Änderungen in einer Zeichnung den beanspruchten Gegenstand änderten, obwohl der Wortlaut der Ansprüche unverändert blieb. (S. auch Kapitel II.E.2.4.2 "Streichung eines Merkmals aus der Beschreibung bei unveränderten Ansprüchen" und II.E.2.4.5 "Streichung oder Ersetzung von Zeichnungen").
In T 458/96 führte die Kammer Folgendes aus: Legen der technische Inhalt der Ansprüche und die Beschreibung eindeutig dar, wie eine Erfindung funktioniert, so dürfen diese Merkmale bei der Bewertung der Patentierbarkeit nicht außer Acht gelassen werden, indem sie so ausgelegt werden, als ob sie lediglich eine beabsichtigte Verwendung angeben.
Der Erfindung in T 1023/02 lag die Erkenntnis zugrunde, dass die Gene für ein bestimmtes, in infizierten Zellen exprimiertes virales Protein (ICP34.5) für die Fähigkeit von Herpes-simplex-Viren maßgeblich waren, Gewebe des zentralen Nervensystems zu zerstören. Der Beschwerdegegner machte geltend, dass ein nachträglich veröffentlichtes Dokument die Existenz eines mit dem ICP34.5-Gen übereinstimmenden, aber gegenläufigen (Antisense-)ORF-P-Gens offenbare. Daher müsse der Anspruch wegen des Begriffs "nur" dahin gehend ausgelegt werden, dass der erste Verfahrensschritt sich nicht auf die Expression dieses ORF-P-Gens auswirke. Nach Auffassung der Kammer ging jedoch aus der Beschreibung klar hervor, dass der Patentinhaber die Existenz dieses Gens nicht in Betracht gezogen hatte. Die Fachperson würde daher den Gegenstand von Anspruch 1 im Lichte der Beschreibung nicht in dem vom Beschwerdegegner befürworteten Sinn auslegen. Dementsprechend könnten nachträglich veröffentlichte Erkenntnisse über weitere technische Details und/oder Komplikationen diese Auslegung nicht stützen.
In T 1409/16 vertrat die Kammer die Auffassung, dass sowohl "ausschließende Disjunktionen" als auch "nicht ausschließende Disjunktionen" durch die Formulierung "entweder […] oder" ausgedrückt werden könnten. Die Tatsache, dass in einem anderen Anspruch des angefochtenen Patents eine andere Formulierung ("und/oder") verwendet wurde (im Sinne eines nicht ausschließenden "oder"), sei an sich kein zwingender Grund für die Schlussfolgerung, dass die im strittigen Anspruch verwendete Formulierung "entweder […] oder" eine andere Bedeutung haben müsse, d. h. dass damit ein ausschließendes "oder" ausgedrückt werde. Es gebe keine unbedingte Verpflichtung, für die Formulierung einzelner Merkmale eine völlig einheitliche Terminologie zu verwenden, wenn diese auf unterschiedliche Weise ausgedrückt werden könnten. Beim Lesen des Patents würde die Fachperson sicherlich nicht zu dem Schluss kommen, dass das "oder" in der Formulierung "entweder […] oder" in Anspruch 1 als ausschließliches "oder" zu verstehen sei, weil dies bedeuten würde, dass die beispielhaften (d. h. besonders bevorzugten) Ausführungsformen aus dem beanspruchten Bereich ausgeschlossen würden. Die Kammer befand, dass die Formulierung "entweder […] oder" nur in den Fällen als ausschließendes "oder" ausgelegt werden könne, in denen sich die zwei genannten Situationen schon ihrer Natur nach gegenseitig ausschlössen, d. h. miteinander nicht kompatibel seien.
In T 439/22 befand die Kammer, dass die Fachperson den Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" für sich genommen so verstehen würde, dass es ein längs gefaltetes Flächengebilde ist, das einen dreidimensionalen Raum einnimmt. Wenn also dem Begriff diese übliche Bedeutung zugewiesen wird, muss der beanspruchte Gegenstand als neu angesehen werden. Wird demselben Begriff jedoch eine breitere, aber technisch nichtsdestotrotz sinnvolle Bedeutung entsprechend der Definition in der Beschreibung zugewiesen, so ist der beanspruchte Gegenstand nicht neu. Angesichts der abweichenden Rechtsprechung der Kammern zur Anspruchsauslegung entschied die Kammer, der Großen Beschwerdekammer Fragen vorzulegen. In der zweiten und dritten Frage geht es darum, ob die Beschreibung und die Zeichnungen für die Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden dürfen und ob eine Definition oder vergleichbare Information, die zu einem in den Ansprüchen verwendeten Begriff in der Beschreibung ausdrücklich gegeben wird, bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit außer Acht gelassen werden darf und, falls ja, unter welchen Bedingungen (s. in diesem Kapitel II.A.6.3.1).
- G 0001/24
In G 1/24 the Enlarged Board ("EBA") considered the points of law referred to it by Technical Board of Appeal 3.2.01 in T 439/22 of 24 June 2024. The first question was whether Art. 69(1), second sentence, EPC and Art. 1 of the Protocol on the Interpretation of Article 69 EPC are to be applied to the interpretation of patent claims when assessing the patentability of an invention under Art. 52 to 57 EPC. The second question concerned whether the description and figures are to be consulted when interpreting the claims to assess patentability and, if so, whether this may be done generally or only if the person skilled in the art finds a claim to be unclear or ambiguous when read in isolation. The third and final question was whether a definition or similar information on a term used in the claims, which is explicitly given in the description, can be disregarded when interpreting the claims to assess patentability and, if so, under what conditions.
The EBA confirmed that the departments of the EPO were required to interpret patent claims when assessing the patentability of an invention under Art. 52 to 57 EPC. As regards Question 1, the EBA held that there was no clear legal basis, in terms of an article of the EPC, for claim interpretation when assessing patentability. Article 69 EPC and Art. 1 of the Protocol were arguably only concerned with infringement actions and therefore were not entirely satisfactory as a basis for claim interpretation when assessing patentability. Article 84 EPC could also be criticised as an alternative legal basis as it addresses the content of the patent application and is formal in nature without providing guidance on how to interpret claims. It only sets out an instruction to the drafter of what needs to be in the claims and an instruction to the EPO to determine whether the claims meet that purpose. The EBA considered, however, that there was an existing body of case law of the Boards of Appeal which applied the wording of the aforementioned provisions in an analogous way to the examination of patentability under Art. 52 to 57 EPC, and from which the applicable principles of claim interpretation could be extracted.
The EBA further held it a settled point in the case law of the Boards of Appeal that the claims are the starting point and the basis for assessing the patentability of an invention under Art. 52 to 57 EPC.
As regards Question 2, the EBA stated that the description and any drawings must always be consulted when interpreting the claims, and not just in the case of unclarity or ambiguity. In adopting this position, the EBA rejected the case law of the Boards of Appeal that sees no need to refer to the descriptions and drawings when interpreting a claim, unless the claim is unclear or ambiguous. It found that this case law was contrary to the wording, and hence the principles, of Art. 69 EPC. It was also contrary to the practice of both the national courts of the EPC contracting states and the UPC. Moreover, from a logical point of view, the finding that the language of a claim is clear and unambiguous was an act of interpretation, not a preliminary stage to such an interpretative act.
Question 3 was held inadmissible by the EBA, which considered it to be encompassed by Question 2.
The EBA also referred to the harmonisation philosophy behind the EPC and noted that the case law of the UPC Court of Appeal on claim interpretation appeared to be consistent with the above conclusions. It further highlighted the importance of the examining division carrying out a high quality examination of whether a claim fulfils the clarity requirements of Art. 84 EPC, and stated that the correct response to any unclarity in a claim was amendment.
The order by the EBA in G 1/24 reads as follows: "The claims are the starting point and the basis for assessing the patentability of an invention under Articles 52 to 57 EPC. The description and drawings shall always be consulted to interpret the claims when assessing the patentability of an invention under Articles 52 to 57 EPC, and not only if the person skilled in the art finds a claim to be unclear or ambiguous when read in isolation."