4. Identität der Erfindung
4.6. Nacharbeitbare Offenbarung im Prioritätsdokument
Die folgenden Entscheidungen heben hervor, dass das Prioritätsdokument die in der Nachanmeldung beanspruchte Erfindung so offenbaren muss, dass eine Fachperson sie ausführen kann.
In T 81/87 (ABl. 1990, 250) ist nach Auffassung der Kammer das Argument, die Fachperson könne, wenn sie auf Schwierigkeiten stoße, die Offenbarung anhand ihres allgemeinen Fachwissens so ergänzen, dass sie sie praktisch ausführen könne, keine Entschuldigung dafür, dass ein Definitionsmerkmal der Erfindung fehlt, vom Erfinder nicht erkannt worden und auch in der Beschreibung nicht implizit enthalten ist. Die wesentlichen Bestandteile, d. h. die Erfindungsmerkmale, müssen in der Prioritätsunterlage entweder ausdrücklich offenbart oder unmittelbar und unzweideutig implizit enthalten sein. Fehlende Bestandteile, die erst später als wesentlich erkannt werden, gehören somit nicht zur Offenbarung. Lücken bei den Grundbestandteilen der Offenbarung können nicht nachträglich durch einen Hinweis auf das einschlägige Fachwissen gefüllt werden. Es könnte zu einem Missbrauch des Prioritätssystems führen, wenn Anmelder in einer Wettbewerbssituation die Möglichkeit erhielten, ihre Konkurrenten aufgrund reiner Spekulation zu überrunden, ohne dass sie die entscheidenden Merkmale der Erfindung angeben müssten. Dieser Entscheidung wurde z. B. in T 301/87, ABl. 1990, 335 und T 296/93, ABl. 1995, 627 gefolgt.
Wird der Fachperson ein Gegenstand als solcher offenbart, heißt dies nach Auffassung der Kammer in T 301/87 (ABl. 1990, 335) nicht zwangsläufig, dass damit für Prioritätszwecke auch ein Bestandteil dieses Gegenstands offenbart wird, wenn dieser nicht unmittelbar und eindeutig als solcher bezeichnet wird und es erheblicher Nachforschungen bedarf, um seine Identität festzustellen.
In T 296/93 (ABl. 1995, 627) fand die Kammer das Argument des Beschwerdegegners nicht überzeugend, dass im Prioritätsdokument relevante technische Informationen fehlten, die erforderlich seien, damit die Fachperson die beanspruchte Erfindung ohne unzumutbaren Aufwand ausführen könne. Siehe auch T 207/94 (ABl. 1999, 273), T 767/93, T 20/04.
In T 919/93 kam die Kammer zu dem Schluss, dass die europäische Anmeldung in der eingereichten Fassung entsprechende, im Hinblick auf Art. 83 EPÜ 1973 wesentliche Textstellen enthielt, nicht jedoch das Prioritätsdokument, das deshalb für den beanspruchten Gegenstand nicht nacharbeitbar war.
Auch in T 843/03 wies die Kammer darauf hin, dass das Prioritätsdokument eine nacharbeitbare Offenbarung enthalten muss (T 81/87, ABl. 1990, 250; T 193/95). Laut mehrerer Beschwerdekammerentscheidungen setze eine ausreichende Offenbarung voraus, dass die Fachperson in der Lage sei, im Wesentlichen alle in den Bereich der Ansprüche fallenden Ausführungsformen nachzuarbeiten, und dieses Ziel ohne unzumutbaren Aufwand erreichen müsse. Die Kammer gelangte auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung zum Erfordernis des Art. 83 EPÜ 1973 (T 19/90, ABl. 1990, 476) und zum Neuheitserfordernis (T 464/94) zu dem Schluss, dass, wenn ein Anmelder eine technische Offenbarung bereitstelle und einen Prima-facie-Beweis für bestimmte technische Merkmale in einer Anmeldung erbringe, die Beweislast beim EPA liege nachzuweisen, dass irgendetwas nicht belegt sei. Die Kammer war der Auffassung, dass die Prüfungsabteilung nicht den rechtlich angemessenen Weg eingeschlagen habe, als sie mit der Begründung zu Ungunsten des Patentinhabers entschied, dass "[…] ausgehend von Abbildung 7 keine absolute Aussage darüber getroffen werden kann, ob darin korrekt gebildete HPV-16-Partikel zu sehen sind". Die Kammer erachtete den vollständigen Nachweis solcher Tatsachen nicht für ein Erfordernis im Rahmen des EPÜ und konnte keine ernsthaften, durch nachprüfbare Fakten untermauerten Zweifel der Prüfungsabteilung erkennen.
In T 903/05 befand die Kammer, dass die beanspruchte, lediglich aus einer Liste getroffene Auswahl unmittelbar und eindeutig aus der Prioritätsunterlage herleitbar war im Sinne von G 2/98. Da die Ausführbarkeit der Offenbarung des Prioritätsdokuments ausdrücklich nicht bestritten wurde, hatte die Kammer keinen Grund, diese anzuzweifeln. Abgesehen von der Frage der Ausführbarkeit sah sie keine Rechtsgrundlage dafür, zusätzliche Kriterien wie das Vorhandensein von Versuchsdaten im Prioritätsdokument zu verlangen (s. auch T 1834/09). In T 411/19 hingegen stellte die Kammer in Bezug auf den eine zweite medizinische Verwendung betreffenden Anspruch 1 fest, dass die Prioritätsunterlage P1 keine Versuchsdaten oder sonstigen Beweismittel enthielt, die über die bloße Behauptung hinausgingen, dass die darin definierten Peptide tatsächlich zur Behandlung der angeführten Erkrankungen geeignet seien. Sie gelangte daher zu dem Schluss, dass P1 noch nicht einmal eine anfängliche Plausibilität begründen könne, dass die beanspruchten Verbindungen zur Behandlung der fraglichen Erkrankungen geeignet seien. P1 offenbarte somit die Erfindung des Anspruchs 1 nicht so deutlich und vollständig, dass eine Fachperson sie hätte ausführen können. Zur Rechtsprechung zu Art. 83 EPÜ nach G 2/21 (ABl. 2023, A85) siehe Kapitel II.C.7.2. Die Große Beschwerdekammer hat sich vom Begriff der "Plausibilität"" abgewandt.
Nach Auffassung der Kammer in T 107/09 war der Antikörper MR1 unverzichtbar, um die Erfindung gemäß Anspruch 1 nachzuarbeiten. Die "schriftliche" Offenbarung in der früheren US-Anmeldung, deren Priorität in Anspruch genommen wurde, würde die Fachperson selbst bei Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht befähigen, die Erfindung auszuführen. Die Hybridom-Zelllinie, die den Antikörper MR1 produziert, war erst nach dem Anmeldetag der früheren Anmeldung bei der American Type Culture Collection (ATCC) hinterlegt worden. Da im EPÜ nicht ausdrücklich geregelt ist, wann das biologische Material zu einer früheren Anmeldung hinterlegt werden muss (R. 28 EPÜ 1973 betrifft europäische Anmeldungen), verwies die Kammer insbesondere auf die Entscheidung G 1/03, wonach das Kriterium der ausreichenden Offenbarung – in Bezug auf eine frühere Anmeldung, deren Priorität beansprucht wird – am Anmeldetag dieser Anmeldung erfüllt sein muss. Wenn also, so die Kammer, die Hinterlegung des biologischen Materials eine Voraussetzung dafür ist, dass das Kriterium der ausreichenden Offenbarung für eine "Prioritätsanmeldung" erfüllt ist, so muss dieses Material spätestens am Anmeldetag dieser früheren Anmeldung hinterlegt worden sein. Dies war hier nicht der Fall.
- T 0883/23
In T 883/23 the board had to decide whether claim 1 of the main request was entitled to claim priority from the earliest priority application (P1). P1 disclosed a method for treating pancreatic cancer in a human subject who has not previously received chemotherapy involving the administration of MM-398 liposomal irinotecan, wherein the liposomal irinotecan was administered in combination with oxaliplatin, leucovorin and 5-fluorouracil (claim 3). P1 defined doses of 60 or 80 mg/m2 liposomal irinotecan (claim 5) and 60, 75 or 85 mg/m2 oxaliplatin (claim 8)..
Example 4 of the patent presented the results of a dose escalation/de-escalation study demonstrating the tolerability of the selected dose combination of claim 1 of the main request, as opposed to the intolerable and thus unsuitable alternative dose combinations defined in claims 5 and 8 of P1. The board observed that information concerning the tolerability of the selected dose combination of claim 1 of the main request was not revealed in P1. In particular, this information was not provided by the mere outline for the dose escalation/de-escalation study in P1, which the patent proprietor relied on as a pointer to the subject-matter of claim 1 of the main request with reference to T 1261/21. The board noted that in T 1261/21 the competent board had explained that a "pointer" in an original disclosure was an implicit or explicit indication or hint towards a combination of features, which demonstrated that this combination of features did not represent an arbitrary combination of features only conceptually comprised, but was actually envisaged in the original disclosure. However, the competent board had emphasised that what information a skilled person would directly and unambiguously derive from the original disclosure remained to be assessed on a case-by-case basis.
According to the board, in the present case, P1 provided with the outline for the dose escalation/de-escalation study only a conditional proposal for the use of a combination of 60 mg/m2 liposomal irinotecan and 60 mg/m2 oxaliplatin as part of a study still to be carried out. This proposal could not be considered to provide any pointer to the combination of 60 mg/m2 liposomal irinotecan and 60 mg/m2 oxaliplatin uniquely tolerable in first-line treatment of patients with metastatic pancreatic cancer as defined in claim 1 of the main request.
The board rejected the patent proprietor's argument that P1 described the same subject-matter as defined in claim 1 of the main request, which should in accordance with G 2/98 therefore benefit from the priority of P1, regardless of any additional technical effects, such as the results of the dose escalation/de-escalation study, which may have been described only in the subsequent application from which the patent was derived. The board observed that, according to the established jurisprudence of the Boards of Appeal, attaining the claimed therapeutic effect was regarded as a functional technical feature of claims in the format of Art. 54(5) EPC. Notably, the tolerability of the defined treatment was a prerequisite for the therapeutic efficacy (T 2506/12). The tolerability of the dose combination as defined in claim 1 of the main request, as opposed to the intolerability of the alternative combinations with higher doses of claims 5 and 8 and the dose escalation/de-escalation scheme in P1, was thus a functional technical feature of the subject-matter defined in claim 1 of the main request. This feature concerned information which was not directly and unambiguously derivable from P1.
The board further observed that the Enlarged Board determined in G 2/98 that it is a condition for the compliance with the requirement of "the same invention" that the claimed subject-matter is directly and unambiguously derivable from the earlier application. However, the Enlarged Board did not conclude that the requirement of "the same invention" is necessarily satisfied if this condition is fulfilled, irrespective of any technical information associated with the claimed subject-matter, which is only described in the subsequent patent application. Notably, the established jurisprudence confirmed the need for sufficient disclosure of the claimed invention in the priority document.