J 0005/81 (Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung) 09-12-1981
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1. Regel 48 EPÜ besagt nicht, daß das EPA rechtlich gehindert sei, die Veröffentlichung einer europäischen Patentanmeldung zu unterlassen, sobald die technischen Vorbereitungen für ihre Veröffentlichung als abgeschlossen gelten.
2. Zur Beantwortung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung braucht die Große Beschwerdekammer nicht befasst zu werden, wenn sich die Beschwerdekammer, bei der das Verfahren anhängig ist, in der Lage sieht, die Antwort zweifelsfrei aus dem Übereinkommen abzuleiten.
Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung - Verhinderung
Abschluß der technischen Vorbereitungen zur Veröffentlichung
Stichtag für den Abschluß der technischen Vorbereitungen Zurücknahmeerklärung
Verhinderung der Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung
Große Beschwerdekammer
Älteres Recht - Wirkung der Zurücknahmeerklärung vor Veröffentlichung
Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung
Beschwerdegebühr - Rückzahlung
I. Am 6. Dezember 1980 reichte die Beschwerdeführerin eine europäische Patentanmeldung unter Beanspruchung der Priorität einer deutschen Gebrauchsmuster-Anmeldung vom 6. Dezember 1979 ein. Am 26. März 1981 wurde der europäische Recherchenbericht an die Beschwerdeführerin abgesandt und am 22. April 1981 die Mitteilung, daß die technischen Vorbereitungen für die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung abgeschlossen seien und die Anmeldung am 17. Juni 1981 veröffentlicht werden solle. Mit Schreiben vom 21. Mai 1981 stellte die Beschwerdeführerin ein vorausgegangenes Schreiben dahingehend klar, daß die Anmeldung bedingungslos zurückgenommen sei, und suchte darum nach, die Veröffentlichung zu unterlassen. Zugleich beantragte sie, durch eine Entscheidung nach Regel 69(2) EPÜ zu verfügen, daß keine Veröffentlichung gemäß Artikel 93 EPÜ erfolge.
II. Am 5. Juni 1981 erließ die Eingangsstelle des EPA eine Entscheidung nach Regel 69(2) EPÜ, in der sie feststellte, daß die technischen Vorbereitungen für die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung gemäß Artikel 93(1) und Regel 48(1) EPÜ in Verbindung mit der Mitteilung des Präsidenten des EPA vom 18. Juli 1978 (ABl. EPA 1978, 312) als abgeschlossen gelten und die Anmeldung am 17. Juni 1981 veröffentlicht werde. Als Begründung wurde im Ergebnis angeführt, daß sich die Eingangsstelle durch Regel 48(2) EPÜ rechtlich gehindert sehe, die Veröffentlichung der Patentanmeldung zu unterlassen.
III. Mit einer am 24. Juni 1981 eingegangenen Beschwerdeschrift, der ein Scheck über die Beschwerdegebühr und eine Beschwerdebegründung beigefügt waren, beantragte die Beschwerdeführerin festzustellen, daß die beschlossene Veröffentlichung gemäß Artikel 93(1) EPÜ zu Unrecht erfolgt sei. Ferner beantragte sie, diese Frage der Großen Beschwerdekammer zur Entscheidung vorzulegen und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen. In der Beschwerdebegründung vertritt die Beschwerdeführerin die Auffassung, daß der Patentanmelder während des ganzen in Artikel 93(1) EPÜ genannten Zeitraums von 18 Monaten berechtigt sei, die Patentanmeldung zurückzunehmen und dadurch auch deren Veröffentlichung zu verhindern. Dieses Verfügungsrecht bis zum letzten Tag der 18 Monate ergebe sich aus verschiedenen Rechtsgründen, insbesondere aus dem Verbot einer entschädigungslosen Offenlegung des in der zurückgenommen Anmeldung offenbarten technischen Wissens. Aus Artikel 4 C(4) PVÜ lasse sich die Verpflichtung des EPA ableiten, die Veröffentlichung einer zurückgenommenen Anmeldung zu unterbinden. Auch könne der Auslegung von Regel 48 EPÜ durch die Eingangsstelle nicht gefolgt werden, weil bei dieser Auslegung der Zeitraum, in dem der Anmelder die Veröffentlichung seiner Anmeldung noch verhindern könne, durch den Präsidenten des EPA beliebig - selbst bis zum Anmeldetag - verkürzt werden könne.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und der Regel 64 EPÜ; sie ist daher zulässig. Obwohl die Veröffentlichung der Anmeldung inzwischen erfolgt ist, besteht weiterhin eine Beschwer i. S. v. Artikel 107 Satz 1 EPÜ (vgl. insbesondere auch den französischen Text).
2. In der angefochtenen Entscheidung wird aus Regel 48 EPÜ eine Verpflichtung des EPA zur Veröffentlichung einer Anmeldung abgeleitet, die nach dem Stichtag zurückgenommen wurde, zu dem die technischen Vorbereitungen für ihre Veröffentlichung als abgeschlossen galten. Diese Regel besagt jedoch nur, daß eine vor dem Stichtag entfallene Anmeldung nicht veröffentlicht wird; sie gibt daher dem Anmelder die Gewißheit, daß er durch eine Zurücknahme der Anmeldung vor dem Stichtag auch die Veröffentlichung verhindert. Es kann aber nicht im Umkehrschluß gefolgert werden, daß nach dem Stichtag zurückgenommene Anmeldungen veröffentlicht werden müßten. Ein Umkehrschluß (argumentum e contrario) wäre nur dann angebracht, wenn die Regel 48(2) EPÜ ihrem Sinn nach so zu verstehen wäre, daß die Rechtsfolge ("wird nicht veröffentlicht") nur dann eintreten darf, wenn die Anmeldung vor dem Stichtag entfallen ist (siehe hierzu z. B. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1979, 376). Ein solches Ergebnis läßt sich weder aus Artikel 93 i. V. m. Regel 48 (2) EPÜ noch aus dem Vorbild dieser Bestimmung, nämlich Artikel 21(1) und (5) PCT, ableiten. Im PCT sieht Regel 48.6 ausdrücklich vor, daß Anmeldungen, die als zurückgenommen gelten, nicht veröffentlicht werden, sofern ihre Veröffentlichung noch verhindert werden kann.
3. Gegen eine Verpflichtung des EPA zur Veröffentlichung von Patentanmeldungen, die nach dem Stichtag entfallen sind, sprechen auch allgemeine Überlegungen. Veröffentlichte europäische Patentanmeldungen werden nämlich gegenüber Anmeldungen, die nach dem Anmelde- oder Prioritätstag, aber vor der Veröffentlichung der Anmeldung eingereicht worden sind, Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ, und zwar rückwirkend mit dem Anmelde- oder Prioritätszeitpunkt. Dies dürfte aber nur für den Fall gelten, daß diese "älteren Anmeldungen" zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch existent waren. Hinzu kommt, daß die veröffentlichte europäische Patentanmeldung gemäß Artikel 139(1) EPÜ ihre Wirkung als älteres Recht auch im nationalen Bereich entfalten kann. Es besteht daher wohl ein allgemeines Interesse, die Zahl "falscher" älterer Rechte möglichst gering zu halten. Außerdem sollten Schwierigkeiten, die sich für das Patentregister (Art. 127 EPÜ) und die Akteneinsicht (Art. 128 EPÜ) ergeben können, möglichst vermieden werden.
4. Der Beschwerdeführerin kann allerdings nicht darin zugestimmt werden, daß der Anmelder einen Anspruch habe, die Veröffentlichung seiner Anmeldung noch am letzten Tag des in Artikel 93 EPÜ genannten Zeitraums vom 18 Monaten verhindern zu können. Artikel 93 EPÜ enthält, ebenso wie Artikel 21 PCT für internationale Anmeldungen, den Grundsatz der Veröffentlichung aller Anmeldungen unverzüglich nach 18 Monaten. Der Öffentlichkeit wird also durch das Übereinkommen grundsätzlich das Recht zugesprochen, nach dieser Zeitspanne über die Gesamtheit der anhängigen Patentanmeldungen unterrichtet zu werden. Die Vorbereitungen für Druck und Versand der Gesamtheit aller zu veröffentlichenden Anmeldungen erlauben es dabei nicht, mit vertretbarem Aufwand noch kurz vor dem Veröffentlichungszeitpunkt entfallende einzelne Anmeldungen von der Veröffentlichung auszunehmen. Dies muß der Anmelder im Einzelfall in Kauf nehmen, zumal für ihn gewährleistet ist, daß jedenfalls eine bis zu dem obengenannten Stichtag zurückgenommene Anmeldung nicht veröffentlicht wird.
Das EPÜ kennt keine Bestimmung, aus der sich ableiten ließe, daß der Anmelder bis zum Ablauf der 18 Monate voll über die Veröffentlichung der Anmeldung bestimmen kann. Die von der Beschwerdeführerin bis zu diesem Zeitpunkt beanspruchte absolute Vertraulichkeit mit dem Ausschluß einer späteren Veröffentlichung findet im Übereinkommen keine Stütze. Der die Vertraulichkeit der Anmeldung regelnde Artikel 128 EPÜ (Akteneinsicht) legt als Endzeitpunkt der vertraulichen Behandlung die Veröffentlichung der Anmeldung und nicht den Ablauf der 18 Monate fest.
5. Der Anspruch der Beschwerdeführerin läßt sich auch aus den von ihr vorgetragenen allgemeinen Überlegungen nicht herleiten. Was den Gesichtspunkt einer entschädigungslosen Offenlegung technischen Wissens anbelangt, so ist es richtig, daß Artikel 67 EPÜ an die Veröffentlichung nach Artikel 93 EPÜ einen einstweiligen Schutz knüpft, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. Auch ein gegebener Schutz entfällt aber gemäß Artikel 67(4) EPÜ rückwirkend, falls es nicht zur Erteilung des europäischen Patents kommt. Alle Patenterteilungsverfahren, die eine Veröffentlichung der Anmeldung vor der Patenterteilung kennen, bergen daher die Gefahr in sich, daß es zwar zur Veröffentlichung, nicht aber zur Patenterteilung kommt. Der Anmelder, der sich auf derartige Patenterteilungsverfahren einläßt, nimmt diese Gefahr in Kauf.
6. Auch die Argumentation der Beschwerdeführerin aus Artikel 4 C(4) PVÜ ist nicht zutreffend. In der Entscheidung J 15/80 (ABl. EPA 1981, 213, 216) hat die Juristische Beschwerdekammer festgestellt, daß das EPA nicht unmittelbar durch Artikel 4 PVÜ gebunden ist. Unabhängig davon richtet sich die genannte Bestimmung nur gegen sog. "Zweitämter". Sie erlegt diesen nämlich die Verpflichtung auf, eine Priorität anzuerkennen, wenn bei einem sog. "Erstamt" eine ältere Anmeldung unveröffentlicht zurückgenommen und eine jüngere Anmeldung gleichen Inhalts eingereicht wurde. Der Unionsvertrag verpflichtet die "Erstämter" nicht, die Schaffung eines solchen Tatbestands 18 Monate lang zuzulassen.
7. Schließlich kann der Beschwerdeführerin auch darin nicht gefolgt werden, daß Regel 48(1) EPÜ mit dem Übereinkommen i. S. v. Artikel 164(2) EPÜ in "mangelnder Übereinstimmung" stehe. Die theoretische Möglichkeit des Mißbrauchs einer Befugnis durch den Präsidenten des EPA begründet nicht die Ungültigkeit der Ausführungsbestimmung, die ihm diese Befugnis gibt.
8. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, daß durch den gemäß Regel 48(1) EPÜ festzulegenden Stichtag dem Anmelder eine zeitliche Mindestfrist gegeben wird, innerhalb deren er durch Zurücknahme der Anmeldung auch die Verhinderung ihrer Veröffentlichung erreicht. Wird die Anmeldung erst nach dem Stichtag zurückgenommen, so ist dies dem Anmelder nicht mehr gewährleistet. Dennoch ist dem EPA die Verhinderung der Veröffentlichung rechtlich erlaubt und liegt in seinem Ermessen. Ermessen bedeutet nicht willkürliche Entscheidung, sondern Orientierung an solchen Stadien des Veröffentlichungsprozesses, die dem Amt den Eingriff noch vertretbar erscheinen lassen.
9. Die Eingangsstelle hat die Verhinderung der Veröffentlichung ausschließlich mit der Begründung abgelehnt, daß sie zur Veröffentlichung rechtlich verpflichtet sei. Da eine derartige Verpflichtung aber aus Regel 48 EPÜ nicht hergeleitet werden kann und die Eingangsstelle sich nicht dazu geäußert hat, ob die Verhinderung der Veröffentlichung im vorliegenden Fall noch möglich gewesen wäre, ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben.
10. Für die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gemäß Regel 67 EPÜ muß ein wesentlicher Verfahrensmangel gegeben sein. Ein solcher ist darin zu sehen, daß die Eingangsstelle den Grundsatz der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gemäß Artikel 106(1) Satz 2 EPÜ nicht berücksichtigt hat. Wenn sie sich ausschließlich aus rechtlichen Gründen und nicht wegen der unerwähnt gebliebenen tatsächlichen Umstände gehindert sah, die Veröffentlichung zu verhindern, so hätte sie diese bis zur Entscheidung über die Beschwerde zurückstellen müssen. Die Rückzahlung entspricht auch der Billigkeit. Es kann nicht schlechthin ausgeschlossen werden, daß die Verhinderung der Veröffentlichung noch möglich gewesen wäre. Dann hätte die Beschwerdeführerin durch ihre Beschwerde letztlich auch die Verhinderung der Veröffentlichung erreicht. Im übrigen ist es auch verdienstvoll, daß sich die Beschwerdeführerin trotz der erfolgten Veröffentlichung ihrer Anmeldung noch um die Klärung der Rechtsfragen bemüht hat. Damit sind die Voraussetzungen für die Rückzahlung der Beschwerdegebühr gegeben.
11. Die Beschwerdeführerin hat beantragt, die Große Beschwerdekammer mit der Rechtsfrage zu befassen, ob der Anmelder bis zum Ende der 18 Monate die volle Verfügungsgewalt auch hinsichtlich der Veröffentlichung der Anmeldung hat. Diese Frage kann als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung angesehen werden. Daher ist gemäß Artikel 112(1)a) EPÜ auch von Amts wegen zu prüfen, ob die Große Beschwerdekammer zu befassen ist. Eine Vorlage erscheint jedoch nicht gerechtfertigt, da sich die Beantwortung der Frage aus dem Übereinkommen in einer für die Kammer zweifelsfreien Weise ableiten läßt. Im übrigen sind der Kammer auch Rechtsauffassungen, die das Ergebnis in Frage stellen könnten, aus nationaler Rechtsprechung oder aus dem Schrifttum nicht bekannt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die Entscheidung der Eingangsstelle des Europäischen Patentamts vom 5. Juni 1981 wird aufgehoben.
2. Der Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer wird abgelehnt.
3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.